Die Mobilisierung als Kriegsursache


I.

Die Rede Greys, die er vor den Pressevertretern gehalten und die Antwort, die ihm Herr von Bethmann im Hauptausschuss des deutschen Reichstags gegeben hat, stimmen in zwei grundsätzlichen Anschauungen völlig überein. Beide erkennen in der Feststellung der unmittelbaren Verantwortlichkeiten des Weltkrieges eine entscheidende Vorbedingung für die Herbeiführung des Friedens und beide sind mit einer Klärung der Verantwortlichkeiten durch ein Weltgerichtsverfahren einverstanden. Der englische Staatsmann fordert ein Tribunal, das über die Schuld am Kriege urteilt, und der deutsche Kanzler erwidert, dass er kein Tribunal zu scheuen habe. Die Feststellung der Kriegsverantwortlichkeiten wird, wenn nicht die opfernden Verantwortlichkeiten, so doch die geopferten Völker zum Verständnis und damit zur Verständigung bringen. Das jetzt von allen Seiten ideell anerkannte Schiedsverfahren kann sofort seine erste weltgeschichtliche Probe bestehen: Die Parteien stellen alles Material dem neutralen Gericht zur Verfügung, und es wird das Urteil fallen. Dann wird es Sache der Völker sein, die Folgerungen aus dem Urteil zu ziehen.

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Aus dem allgemeinen Verlangen nach dem Tribunal aber geht ein wichtiger Anspruch mit logischer Notwendigkeit hervor. Als Vorbereitung der geforderten Urteilsfällung ist die freieste und rücksichtsloseste Kritik der Kriegsursachen nicht nur zuzulassen, sondern auch zu wünschen und zu fordern. Es wäre absurd, die völlige Klarstellung vor einem Tribunal anzustreben, und die minder weit gesteckte Aufgabe, die öffentliche Kritik, zu verhindern. Wer jetzt solche Kritik beschränken würde, für den wäre der Beweis erbracht, dass er nur heuchelt, wenn er das Tribunal anruft. Für Grey setzt Hans Delbrück neuerlich - im Gegensatz zu den Deklamationen über englische Heuchelei, wie sie auch in sozialdemokratischen Blättern grassierenden guten Glauben voraus: "Heuchelt Lord Grey, wenn er eine unparteiische Untersuchung über die Vorgänge, die zum Kriege geführt haben, fordert? Oder fühlt er sich wirklich unschuldig? Oder ist er sich bereits klar über den Ursprung und die Bedeutung der russischen Mobilmachung und will, dass auch die öffentliche Meinung in England das erkenne, indem er gleichzeitig schwört, dass die Entente unauflöslich sei? Die öffentliche Meinung in Deutschland sieht nach wie vor England und seinen auswärtigen Minister als den eigentlichen Anstifter des Krieges an. D i e u n b e f a n g e n e Forschung neigt sich immer mehr der Ansicht zu, dass Herr Grey ehrlich ist, wenn er sagt, dass er den Krieg nicht gewollt habe, dass er aber dennoch schuldig ist, insofern er nicht alles, was in seiner Macht stand, ihn zu verhindern, ge-

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tan hat." Also ein Urteil auf fahrlässiges Verschulden!

Inzwischen dürfen wohl nicht nur konservative Professoren, sondern auch sozialistische Schriftsteller, die seit Jahrzehnten leidenschaftlich für die allgemeine politische Zivildienstpflicht werben, der unbefangenen Forschung sich hingeben, und dem allgemeinen Verlangen nach dem Tribunal vorarbeiten. Deshalb will ich die "ruhige Antwort", die Ernst Heilmann in der Volksstimme vom 21. November meiner Zuschrift über Greys Rede angehängt hat, nicht minder ruhig auf ihren Wert prüfen.

Auf die Chronologie der Mobilmachung einzugehen, scheint mir kaum noch vonnöten. Die tatsächlichen Mobilmachungen stimmen mit den formell-öffentlichen Verkündigungen nicht überein. Der russische Botschafter in Wien berichtet schon am 28. Juli, dass der Befehl für die allgemeine (österreichische) Mobilmachung unterzeichnet sei. Die russische allgemeine Mobilmachung ist in der Nacht vom 30. zum 31. Juli beschlossen worden. Nach einer Aeusserung des deutschen Botschafters in Petersburg, die Professor Hans Delbrück mitteilt, wären die Plakate in Petersburg am 31. Juli um 8 Uhr morgens angeschlagen worden. Dem Temps wurde damals telegraphiert, dass den Petersburger Morgenblättern vom 31. Juli durch die Zensur die Veröffentlichung der Mobilmachungsorder verboten worden sei, und dass die öffentlichen Aushänge erst am Nachmittag des 31. Juli angeheftet worden seien. (Es ist, wie ich mich überzeugt habe, falsch, wenn E. H. in der Neuen Zeit behauptet, von der russischen formellen

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Gesamtmobilmachung stehe in der französischen Presse überhaupt kein Wort. E. H. lese den Temps vom 2. August, den Matin vom 1. August 1914!) Wann ist die deutsche Mobilmachung erfolgt. Ich habe triftige Gründe zu der Annahme, dass die formelle Order schon am 31. Juli ergangen ist, zugleich mit der Weisung, sie noch nicht zu veröffentlichen. Der Temps liess sich kürzlich berichten, dass in Elsass-Lothringen bereits am 31. Juli nachmittags 4 Uhr Telegramme amtlich ausgehängt wurden, die den Beginn der Mobilisierung für den August ankündigten; die Wahrheit dieser Behauptung, die meine seit Beginn des Krieges gehegte Ueberzeugung bekräftigen würde, wird sich leicht feststellen lassen.

Auch das Extrablatt des Berliner Lokalanzeigers bedarf keiner neuerlichen Untersuchung. Wer nicht zugeben will, dass dieses Extrablatt vom 30. Juli 1914 kein Versehen, sondern eine Absicht war, der muss eben auf das Tribunal warten. Wenn neuerlich - zur Widerlegung der Bethmannschen Darstellung - von englischen Blättern behauptet wird, der russische Botschafter in Berlin habe zwar in einem offenen Telegramm das Dementi des Herrn von Jagow seiner Regierung übermittelt, darauf aber chiffriert die Richtigkeit der Lokalanzeiger-Meldung bekräftigt, so mag das auf sich beruhen. Dagegen verlohnt aber die Verwirrung beseitigt zu werden, die E. H. aus dem Zwischenfall des Lokalanzeiger-Extrablattes anrichtet. Es "wäre wohl das Ungeheuerlichste' was je in der Weltgeschichte vorgekommen ist, wenn Russland auf eine Zeitungsmeldung hin den Weltkrieg entfesselt

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hätte, so frivol ist nicht einmal der Zar". Eine Zeitungsmeldung! - wie harmlos. Leider ist nun aber der Lokalanzeiger nicht eine Zeitung, sondern ein mit der Regierung eng verbundenes Organ, das von dem Reichsanzeiger und der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung sich dadurch unterscheidet, dass es das Privileg hat, die offiziellen Verkündigungen gemeinhin früher als die eigentlichen Regierungsblatter bringen zu dürfen. Wer aber hat behauptet dass Russland durch das Extrablatt des Lokalanzeigers veranlasst worden sei, den Weltkrieg zu entfesseln. E. H. begeht immer wieder den gröbsten aller logischen Fehler, vorauszusetzen, was erst bewiesen werden soll. Die Behauptung geht lediglich dahin, dass Russland wesentlich durch das Berliner Extrablatt veranlasst worden sei, die Gesamtmobilmachung zu verfügen; und Mobilmachung durch Mobilmachung zu beantworten, ist ja selbstverständlich. Wohl aber richtet sich der bestimmteste Widerspruch gerade gegen die These, dass die russische Mobilmachung den Weltkrieg habe entfesseln müssen. So frivol ist auch der Zar nicht, möchte ich mit Heilmann sagen, dass er die unvermeidliche Vorbeugungsmassnahme von Mobilmachungen in weltpolitischen Krisen zum Anlass nimmt, den Krieg zu erklären

Und damit erledigt sich sachlich die ganze Verantwortlichkeit der russischen Mobilmachung für den Ausbruch des Krieges. Mobilmachungen sind Sicherheitsmassnahmen bei drohendem Krieg, aber selbst an sich weder Kriegsdrohungen, noch Kriegsursachen.

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Oesterreich hat seit der bosnischen Annexion fast dauernd mobilisiert, ohne dass es zum Kriege gekommen wäre. 1905 hat Frankreich in der Marokkokrisis mobilisiert, und es wurde trotzdem nicht marschiert.

Und hat nicht Oesterreich eben vor diesem Weltkriege, nach und trotz der russischen Mobilmachung (wie in der eigenen) erst mit Russland zu verhandeln begonnen -, statt Verhandlungen für unmöglich zu halten - Tag für Tag mit dem Gegner Zwiesprache gepflogen und, obwohl doch in erster Linie beteiligt, an Russland fünf Tage nach Deutschland den Krieg erklärt? In seiner Hauptausschussrede aber hat letzthin Herr von Bethmann selbst die ganze Argumentation, dass durch die russische Mobilmachung der Krieg unvermeidlich geworden sei, schlagend widerlegt, durch die Bekanntgabe jener russischen Mobilmachungsorder vom 30. September 1912, welche Enthüllung in Absicht und Zweck zu den vielen Unergründlichkeiten dieser Rede gehört. In jener Mobilmachungsorder stand der Satz, der auf die Mitglieder des Hauptausschusses unverständlicher, weil unverstandenerweise so aufregend und überwältigend gewirkt haben soll: "Allerhöchst ist befohlen, dass die Verkündung der Mobilisation zugleich die Verkündung des Krieges gegen Deutschland ist." Dieses Aktenstück war nun nicht etwa bloss eine theoretische Anweisung für künftige Fälle, sondern an dem Tage - dem Tage der Mobilmachung der Balkanstaaten gegen die Türkei - mobilisierte Russland wirklich an der ganzen deutschen und österreichischen Grenze und, obwohl die russische Order sogar Mobilmachung und Kriegserklärung gleichgesetzt ha-

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ben soll, ist es, wie auch E. H. bekannt sein durfte, nicht zum Kriege mit Oesterreich und Deutschland gekommen. Herr von Bethmann hat damit selbst seine Auffassung endgültig widerlegt, dass die russische Mobilmachung den Krieg unvermeidlich gemacht habe, 1914 so wenig wie 1912. Bliebe nur das Rätsel zu lösen, warum der Kanzler die alte Order von 1912 erwähnt hat? Etwa nur, um das ebenso ehrfürchtige wie urteilslose Vergnügen der deutschen Zeitungsleser an enthüllten Aktenstücken zu befriedigen, welchen Rat ihm - nach Greys Rede - ein pfiffiger Berliner Journalist tatsächlich gegeben hat?

Ist die russische Mobilmachung also für die Frage der Kriegsverantwortlichen sachlich bedeutungslos, so ist sie es aber auch formell, da sie auf keinen Fall der deutschen Entscheidung vorausgegangen ist, die, wie ich in meiner früheren Zuschrift gezeigt habe, schon zu Beginn der Woche erfolgt ist, an deren Ende die russische Order veröffentlicht wurde.

E. H. bemüht sich umsonst, die historische Bedeutung des Extrablattes der Chemnitzer Volksstimme vom 28. Ju1i 1914 abzuschwächen. Das Wort sie sollen lassen stahn! Ich setze den Text des Extrablattes noch einmal hierher, das durch meine telephonische Information veranlasst worden war:

"Wie wir aus absolut sicherer Quelle erfahren, steht das Eingreifen Russlands in den österreichisch-serbischen Konflikt unmittelbar bevor. Deutschlands Antwort wird die sofortige Kriegs-

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erklärung sein. Die Mobilmachung in Deutschland erfolgt wahrscheinlich schon morgen, ohne allen Zweifel noch im Laufe dieser Woche."

Die historische Bedeutung dieses Extrablattes liegt im letzten Satz: "Die Mobilmachung in Deutschland erfolgt . . ohne allen Zweifel noch im Laufe dieser Woche." Ich unterstrich am folgenden Tage - am Mittwoch - auf die Zweifel E. H. hin die Nachricht durch die bestimmte Erklärung: Es ist so beschlossen, vor Schluss der Woche erfolgt die deutsche Mobilmachung. Aber auch die ersten Sätze gewinnen heute eine höchst interessante Wichtigkeit: Ich war, wie man sieht, schon am 28. Juli 1914 in der Lage, die Begründung der deutschen Kriegserklärung zu geben, wie sie dann am 3. August im Weissbuch und am 4. August im Reichstag gegeben wurde: Die deutsche Kriegserklärung als Antwort auf das "Eingreifen" Russlands. Der nicht ganz unbedeutsame Unterschied zwischen der späteren offiziellen Begründung und meiner Meldung vom 2. Juli besteht lediglich darin, dass ich nicht von der russischen Mobilmachung sprach, sondern - allgemein und bestimmt - vom russischen "Eingreifen". Ich gab diese Begründung so, wie ich sie von meinem Gewährsmann erhalten hatte, und ich glaubte - damals, vor Ausbruch des Krieges! - an sie. Diese Anschauung von den Zusammenhängen des europäischen Konflikts entsprang nicht etwa einer Ueberrumpelung des Augenblicks. Sie beruhte auf einer seit Herbst 1912 unablässig genährten Meinung. Der Hinweis auf einen bevorstehenden

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russischen Ueberfall wurde in den eingeweihten militärischen und politischen Kreisen Münchens seit dem H erbst 1912 unablässig wiederholt. Schon beim Beginn des ersten Balkankrieges standen wir am Rande der europäischen Katastrophe, und ich habe damals in einem schrill alarmierenden Artikel die Parteipresse und die Partei auf das heraufziehende Unheil aufmerksam zu machen mich bemüht, ohne freilich den gebührenden Ernst für die furchtbare Entwicklung der europäischen Dinge in der Partei erwecken zu können. Ich vertraute mithin 1914 einer Darstellung der Krisis, in die ich mich schon seit 1912 hineingelebt hatte.

Für E. H. war meine Meldung vom 28. Juli 1914 eine völlige Ueberraschung und musste es sein. Im Parteivorstand, dem meine Information von der unmittelbar bevorstehenden Mobilmachung gleichzeitig zuging, war die Verblüffung so gross, dass die Aeusserung fiel, ich sei verrückt geworden. E.H. nimmt heute ein durch die veränderte strategische Läge bedingte Umgruppierung seiner Vergangenheit vor. Er erinnert sich "nur insofern durch meine Meldung überrascht worden zu sein, als sie mit aller Bestimmtheit das Eingreifen Russlands in den österreichisch-serbischen Konflikt ankündigte; dass danach Deutschland Oesterreich-Ungarn nicht im Stich lassen würde, war selbstverständlich". Wirklich, war E. H. "nur insofern" überrascht? Er hat in der Tat seine ganze Vergangenheit bis auf den en Rest vergessen, auch was er in seiner Chemnitzer Friedensrede am Sonntag vor der Kriegserklärung gesagt; vergessen auch, was vor dem Kriege die

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Meinung der gesamten Partei war (im Gegensatz zu mir): Oesterreich überfällt aus imperalistischem Drange Serbien. Es ist unabwendbar, dass Russland Serbien nicht im Stiche lässt und damit der Weltkrieg automatisch sich auslöst, sofern Deutschland nicht Oesterreich in die Zügel fällt, dem in einem Angriffs- und Eroberungskrieg zu helfen nicht die mindeste Bündnispflicht besteht. Deshalb hat die deutsche Regierung den Bund mit Oesterreich zu zerreissen, das so frevelhaft mit dem Dasein der Völker spielt. So in allen Zeitungsartikeln, Reden, Proklamationen bis zum August 1914. Die fürchterliche Ueberraschung bestand für E. H. wie für die übrige Partei darin, nicht sowohl, dass Russland eingriff, sondern dass Deutschland Oesterreich gewähren liess und damit den Weltkrieg entfesselte. Die paar Parteigenossen, die damals eine andere Meinung hatten, waren an den Fingern einer Hand herzuzählen; ich war einer von ihnen. Oder hat jemals irgend jemand daran gezweifelt, dass - bei einem Angriff Oesterreichs auf Serbien - Russland sich hinter Serbien stellen würde?

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II.

Beim Ausbruch des ersten Balkankrieges schrieb - am 4. Oktober 1912 - der extremste Nationalist unter den deutschen Sozialisten, Karl Leuthner, in der deutschen Parteipresse: "Ein Vorwärtsdringen Oesterreich-Ungarns auf dem westlichen Balkan bedeutet die Gegnerschaft Italiens, Russlands und des Balkanbundes zugleich, einen Krieg an der Weichsel, Etsch und Drina - eine militärisch und politisch unmögliche Lage. Wenn nun aber Saloniki und der West-balkan endgültig aufgegeben sind, dann hat Oesterreich-Ungarn auf dem Balkan politisch überhaupt nichts zu suchen, kann mit Gleichmut jeder Art die staatliche Ausforderung der dort lebenden Nationen hinnehmen, indem es sich auf den Schutz seiner Grenzen beschränkt. Auf der anderen Seite würde das Eingreifen Oesterreich-Ungarns, etwa um Serbien gewaltsam an der Besitzergreifung des Sandschaks zu hindern, den europäischen Krieg zur Folge haben, denn mit den österreichischen gehen von selbst die russischen Flinten los."

Dass aber Oesterreich damals in der Tat beabsich-

2 Eisner, Unterdrücktes

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tigte, in Serbien einzurücken, das bezeugt der bekannte Wiener Mitarbeiter der inzwischen unterdrückten Münchener Zeitschrift Forum, in einem nach dem Ereignis von Serajewo geschriebenen Artikel über den getöteten Thronfolger Franz Ferdinand: "Er ist ein Mann der Gewalt, er träumt wohl den Traum eines österreichischen Imperialismus. Man behauptet, er sei bei Beginn der Balkanwirren für das kriegerische Eingreifen Oesterreichs gewesen. Von anderer Seite wurde das freilich bestritten. Aber es ist in Oesterreich allgemeine Meinung, dass nur der Wille des Kaisers den Krieg verhindert habe."

Und Karl Leuthner hat wiederum bei Beginn dieses Krieges die Selbstverständlichkeit dargelegt, dass ein Angriff Oesterreichs auf Serbien sofort Russland auf den Plan rufen würde. In einer Wiener Korrespondenz vom 20. Juli 1914 - zu gleicher Zeit wurde übrigens in der Schlussrede auf dem Neustädter Parteitag der bayerischen Sozialdemokraten der drohende Weltkrieg vernehmlich angekündigt! - schrieb er (gegen einen Kriegshetzartikel des nunmehr seligen kronprinzlichen Leibjournalisten Liman): "Wenn er (Berchtold) an einem Tage der Tollwut denen folgen wollte, die ihm raten, mit dem unversöhnlichen Feinde (Serbien) ein rasches Ende zu machen, so würde er merken, dass auch die Russen und Rumänen in der Nachbarschaft wohnen. Damit ist es also nichts - und wäre damit etwas: desto schlimmer. Dann gäbe es in der lappenbunten Monarchie mit eins zehn Millionen Serben, so viel als Deut-

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sche oder Ungarn, und die würden von innen her das Loch noch schneller reissen als von aussen."

Dass mit den österreichischen zugleich die russischen Flinten losgehen würden, war somit für niemanden eine Ueberraschung. Die Frage war nur, ob in Wahrheit die österreichischen oder die serbischen Flinten losgingen. Davon hing die Verpflichtung Deutsch-lands und die Haltung der deutschen Sozialdemokratie ab.

Gegen die allgemeine Ansicht der Partei war ich zu der Meinung gelangt, dass nicht Oesterreich, sondern Serbien der Angreifer sei, und zwar als Werkzeug Russlands, das seine Zeit gekommen sah, Europa in Brand zu setzen. Aus dieser Ueberzeugung heraus erklären sich meine Bemühungen vor Beginn des Krieges, die E. H. ganz richtig darstellt und auf die ich ja selbst zuvor in meiner Zuschrift hingewiesen habe. Ist es Mangel an Urteil, sich im ersten Augenblick über die Ursachen eines Krieges zu täuschen. Mir begegnete dasselbe, aus gleichen Gründen, 1914, wie Marx und Engels 1870. Wie ich aus einer bestimmten, festgewurzelten Ansicht über die russische Politik irrte, so irrten sich Marx und Engels, wie ihr Briefwechsel beweist, aus ihrem alten Gegensatz gegen Napoleon III., über den deutsch-französischen Krieg und erst nach Sedan vollzogen sie die Schwenkung.

Wenn ich an jenem 28. Juli 1914, da ich E. H. von der bevorstehenden deutschen Mobilmachung unterrichtete, entgegen seiner Anschauung, des Glaubens war, ein russischer Ueberfall sei unmittelbar geplant, und ihm suche Deutschland in legi-

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timer Abwehr zuvorzukommen, so war doch, ganz unabhängig von dieser Begründung die Tatsache, dass am 28. Juli die deutsche Mobilmachung schon fest stand und bis zum Schluss der Woche auch formell erfolgen würde, über jeden Zweifel. Und darin allein liegt die geschichtliche Bedeutung des Chemnitzer Extrablattes. Es widerlegt unter allen Umständen die Behauptung, die deutsche Mobilmachung sei erst durch die russische vom 31. Juli veranlasst worden. Damit war aber zunächst keineswegs das gute Recht Deutschlands widerlegt, auch vor der russischen Mobilmachung dem beabsichtigten Angriff rechtzeitig die Spitze zu bieten.

Ich war vor dem Kriegsausbruch, aus den erwähnten Gründen, geneigt, dieses Recht Deutschlands zu einem notwendigen Entschluss, bei dem es keine Wahl hatte, im Gegensatz zu der früheren Haltung E. H.'s anzuerkennen. Ich musste sehr bald von Grund aus meine Meinung revidieren: Schon das deutsche Weissbuch erregte meinen Verdacht. Es ward mir sofort klar, dass zum mindesten zwei Konflikte sich kreuzten. Westeuropäisch betrachtet war es ein deutscher Krieg, als Fortsetzung der beiden missglückten Marokko-Attacken. Ueber den Charakter des osteuropäischen Zusammenstosses, über die unmittelbare Verantwortlichkeit Russlands, wurde ein sicheres Urteil erst später möglich. Es liegt bis heute kein Beweis vor, dass Russland im Jahre 1914 einen Angriff

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auf Oesterreich oder Deutschland beabsichtigt, vorbereitet, ausgeführt hat. Aber es gibt genug Zeugnisse, die das Gegenteil beweisen. Am klarsten beurteilen all diese Verhältnisse die unmittelbar vor der Katastrophe geschriebenen Geheimberichte des belgischen Gesandten in Berlin, Baron Beyens. Da die deutsche Regierung selbst die "objektive diplomatische Darstellung", die "kühl beobachtende Diplomatie" der früheren Berichte der belgischen Vertreter anerkannt hat - in jenen Zeiten, da sie als Vertreter einer klerikalen Regierung naturgemäss mehr zu Deutschland als zu Frankreich und England hinneigten -, so muss dieser Kredit auch für die letzten Berichte gelten. Sie sind im zweiten belgischen Graubuch enthalten, und da sie bisher in Deutschland unbekannt geblieben sind, wird es interessieren, wenn ich ein paar Stücke übersetze:

Aus einem Bericht vom 26. Juli 1914 (durch einen geheimen Spezial-Kurier nach Brüssel befördert):

"Wiederholte Besprechungen, die ich gestern mit dem Botschafter von Frankreich, dem Gesandten von Holland und Griechenland, dem Geschäftsträger Englands gehabt habe, haben mich zu der Annahme geführt, dass das Ultimatum an Serbien ein zwischen Wien und Berlin vereinbarter Streich ist, oder vielmehr, dass er hier ausgedacht und in Wien ausgeführt ist. Rache wegen der Ermordung des Thronfolgers und wegen der panserbischen Propaganda zu nehmen, das ist nur Vorwand. Der Zweck, der verfolgt wird, ist ausser der Vernichtung Serbiens und der panslawischen Bestrebungen, einen tödlichen Stoss gegen Russland und Frankreich zu richten, in der Hoffnung, dass England im

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Kampf beiseite stehen würde. Um diese Vermutungen zu rechtfertigen, muss ich Sie an die Meinung erinnern, die im deutschen Generalstab herrscht, dass ein Krieg mit Frankreich und Russland unvermeidlich und nahe sei, eine Meinung, für die es gelungen ist, den Kaiser zu gewinnen. Dieser Krieg, glühend ersehnt durch die Militärpartei und die Alldeutschen, könnte heute unternommen werden, so urteilt diese Partei, unter besonders günstigen Umständen für Deutschland, die sich so bald nicht wiederholen würden: Deutschland hat seine militärischen Verstärkungen, die durch das Gesetz von 1912 vorgesehen waren, beendigt und andererseits fühlt es, dass es nicht unbegrenzt einen Rüstungswettlauf mit Frankreich und Russland fortsetzen könnte, die zum Ruin führen muss ... Russland hat, bevor es seine militärische Reorganisation vollendet hat, törichterweise mit seiner Macht geprahlt. Diese Macht wird erst in einigen Jahren fruchtbar sein; es fehlt Russland gegenwärtig, um sich zu entfalten, an den notwendigen Eisenbahnlinien. Was Frankreich anbetrifft, so hat Charles Humbert die Unzulänglichkeit seiner schwerkalibrigen Kanonen enthüllt; aber gerade diese Waffe wird, wie es scheint, das Schicksal der Schlachten entscheiden. England endlich, das, seit zwei Jahren, die deutsche Regierung nicht ohne einigen Erfolg von Frankreich und Russland zu lösen sucht, ist durch seine inneren Kämpfe und den irländischen Streit ausgeschaltet." (Beyens skizziert im

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Vorstehenden die Erwägungen der deutschen Kriegspartei.)

Aus den Berichten vom 28. Juli: "Der Eindruck, dass Russland unfähig wäre, einem europäischen Kriege die Spitze zu bieten, herrscht nicht allein im Schoss der kaiserlichen Regierung, sondern auch bei den deutschen Industriellen, die militärische Lieferungen herstellen. Der Berufenste unter ihnen, Herr Krupp von Bohlen, hat einem meiner Kollegen versichert, dass die russische Artillerie weit entfernt davon sei, gut und ausreichend zu sein, während die Artillerie der deutschen Armee niemals von einer so hervorragenden Qualität gewesen sei. Es wäre eine Torheit von Russland, fügte er hinzu, unter solchen Bedingungen Deutschland den Krieg zu erklären."

Der aufmerksame Leser wird sofort wahrnehmen, wie sehr diese Berichte des Baron Beyens von 1914 der Aeusserung entsprechen, die im Hauptausschuss des Reichstages am 9. November der Reichsparteiler tat; also der Vertreter der Partei, die die innigsten Beziehungen sowohl zur Rüstungsindustrie wie zu den leitenden Militärs hat, ein Satz, mit dem er in aller Naivität die ganze Sachdarstellung des Kanzlers entwurzelte: "Wenn wir uns 1914 auf Schiedsgerichtsverhandlungen eingelassen hätten, hätten wir den Gegnern,

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die erst 1916 losschlagen wollten, Zeit gelassen, ihre Rüstungen zu vollenden."

Damit ist alles gesagt. Wer aber immer noch nicht zugeben will, dass der Reichsparteiler recht hat, dass im August 1914 niemand daran gedacht hat, uns zu überfallen, dass im Gegenteil Deutschland jenen Zeitpunkt wählte, um einen mit mehr oder minder Ernst und Grund behaupteten Angriff im Jahre 1916 zu verhindern; wer völlige Klarheit darüber zu gewinnen wünscht, wer in den kritischen Sommertagen 1914 den Krieg herbeiführen, wer ihn verhindern wollte, der braucht nur auf ein Blatt Papier die Anregungen, Vorschläge, Anträge der leitenden Staatsmänner und der diplomatischen Vertreter der Mächte zu verzeichnen und daneben die Aufnahme, die sie bei der Gegenpartei gefunden. Das Ergebnis ist zwingend. Um die letzte etwa noch übrig bleibende Unsicherheit zu beseitigen, bedarf es dann nur noch der kritischen Einsicht, dass die Staatsmänner, die von einer mächtigen Kriegspartei getrieben wurden, ohne persönlich den Krieg zu wollen, alles unterlassen und ablehnen werden, was geeignet wäre, den Krieg zu verhindern, dass sie jedoch ebenso alle Massnahmen fördern werden, die den Schein der Friedensliebe verbreiten und die Entscheidung hinausschieben.

Andere Wege der Kritik geht freilich E. H. In seinen Neue-Zeit-Enthüllungen stellt er auch die Schuld Frankreichs fest. Sie besteht darin, dass Frankreich auf die deutsche Frage, ob es neutral bleiben wolle, geantwortet habe, es werde nach seinen Interessen handeln. Das ist ein ausgezeichnetes Rezept, um auf die

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einfachste und billigste Weise jeden Angegriffenen zum Angreifer zu machen und jede Kriegserklärung zu begründen. Setzen wir den Fall, Russland habe in Wahrheit Oesterreich zu überfallen beabsichtigt. Was hätte - nach E. H. - Russland tun müssen, um trotzdem die Verantwortung auf Deutschland zu wälzen? Es hätte in dem Augenblick, als es sich anschickte, sich auf Oesterreich zu stürzen, nur bei Deutschland anfragen brauchen, ob es bereit wäre, sich neutral zu verhalten. Würde Deutschland dann geantwortet haben, es gedenke nach seinen Interessen zu handeln -vermutlich hätte die Antwort auf die sonderbare Frage erheblich schärfer gelautet! - dann wäre Deutschland der Schuld am Weltkrieg überführt. Nicht wahr, E. H.?

Doch um gerecht zu sein, Russland hätte in diesem Falle, um nach E. H.'s kritischer Methode Deutsch-land mit der v 0 11 e n Schuld zu belasten, ausser jener Anfrage noch etwas anderes zu bewerkstelligen ge-habt: es hätte es so' einrichten müssen, dass Deutschland mindestens einen halben Tag vor Russland die formelle Gesamtmobilmachung anordnete!

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III.

Dass Oesterreich in der serbischen Frage nicht vor ein europäisches Gericht gezogen werden dürfte, diese Formel war der Kehrreim aller deutschen Auslassungen in der Inkubationszeit des Weltkrieges. Deutschland liess Oesterreich grundsätzlich freie Hand.

Bis zur Stunde gibt es - mit einer Ausnahme - keine einzige deutsche Urkunde, die darauf hindeutet, Deutschland habe bei seinem Bundesgenossen irgend etwas unternommen, was geeignet gewesen wäre, das Vorgehen gegen Serbien - das nach allgemeiner sozialdemokratischer Auffassung unmittelbar unabwendbar zum Weltkrieg führen musste! - zu verhindern. Die sozialdemokratische Mehrheitsfraktion hat auch bisher nichts getan, um die Veröffentlichung der Berliner diplomatischen Korrespondenz zu bewirken. Rücksichten auf Neutrale können heute für die Geheimhaltung nicht mehr geltend gemacht werden, da sie ihre intellektuelle Meinung sowohl wie ihre praktische Haltung zum Krieg längst vollzogen haben. Nur die Aufklärung des deutschen Volkes steht noch in Frage. Allerdings bleibt Deutschland seinem bisher gewohnten absolutistischen System auch im Weltkrieg treu,

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wenn es im Gegensatz zu den Westmächten über den Verkehr der Berliner Zentrale mit den diplomatischen Vertretern der Oeffentlichkeit alles vorenthält, die Lebensfragen der Nation als Staatsgeheimnisse behandelt.

Die eine Ausnahme aber steigert und verdunkelt noch das Geheimnis, anstatt es zu entwirren. Diese eine Ausnahme ist die Instruktion Bethmanns an Tschirschky, vom 30. Juli 1914, die der Reichskanzler am 19. August 1915 dem Reichstag mitteilte, und die den Satz enthielt: "Wir sind zwar bereit, unsere Bundespflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Oesterreich-Ungarn durch Nichtbeachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen." An dieser Instruktion ist alles auffällig, dunkel, seltsam. Warum ist sie das einzige Dokument des inneren deutschen diplomatischen Verkehrs geblieben, das bekannt gegeben wurde? Warum führte man diese schroffe Sprache gegen den Bundesgenossen erst in letzter Stunde, als es zu spät war? Warum wählte man so energische Ausdrücke, als es sich nur um ein - inzwischen schon erledigtes - Missverständnis zwischen Petersburg und Wien handelte, die Rüge also nachträglich kam? Warum wendete man plötzlich so viel Kraft des Wortes und so entschlossene Drohungen gegen den Freund auf, lediglich zu dem bloss formalen Zweck, ihn zu Gesprächen mit Petersburg zu veranlassen, nicht etwa um ihn zur Annahme eines sachlich bestimmten Vorschlags zu drängen, der geeigneter gewesen wäre, den Frieden zu sichern? Fragen über Fragen! Die Freude des Reichstages, dass man ihn endlich mit einer

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internen Urkunde begnadete, war bei der Verlesung so gross, dass man die hinzugefügten Bemerkungen Bethmanns in ihrer Bedeutung nicht erkannte, und durchdachte: "Ich habe, als in England kurz vor Ausbruch des Krieges die Erregung sieh steigerte und ernste Zweifel an unseren Bemühungen um Erhaltung des Friedens laut wurden diesen Vorgang in der englischen Presse bekannt gegeben. Jetzt nachträglich tritt dort die Insinuation hervor, dieser Vorgang habe überhaupt nicht stattgefunden und die Instruktion an Herrn von Tschirschky sei fingiert worden, um die öffentliche Meinung in England irrezuführen. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass diese Verdächtigung keiner Erwiderung wert ist." Die deutschen Volksvertreter sind sich offenbar in jener Sitzung nicht bewusst geworden, was es für sie bedeutete, zu erfahren, dass die Urkunde, die sie eben als sensationelle Enthüllung enthusistisch aufgenommen hatten, dem - e n g Ii -schen Publikum schon ein Jahr früher bekannt gegeben, mithin eine reichlich alte Geschichte war. Die deutschen Volksvertreter waren auch augenscheinlich nicht verwundert, dass dieselbe Regierung, die grundsätzlich und systematisch dem eigenen Volk jede Kenntnis von dem inneren diplomatischen Betrieb vorenthält, im Ausland eine Note veröffentlicht, die in ihrem barschen Kommandoton höchst kränkend für den eigenen Bundes- und Kampfgenossen sein musste. Die deutschen, Volksvertreter grübelten auch darüber nicht, ob es denkbar sei, dass solche geheime Instruktion, die eine schroffe Zurechtweisung des Bundesgenossen enthielt, unmöglich von Berlin aus in die ausländische Presse

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lanziert werden konnte, ohne dass Oesterreich die Erlaubnis dazu gab; hatte es aber in die Veröffentlichung - in England - gewilligt, dann verlor die Instruktion jeden Wert, dann war sie eine Vereinbarung zwischen Berlin und Wien!

Vielleicht war sich der Reichstag damals über die Bedeutung jener "Bekanntgabe des Vorgangs" überhaupt nicht klar. Der Sachverhalt ist, dass die Instruktion an Tschirschky gleichzeitig nach London übermittelt wurde und am 1. August 1914 in dem englischen Regierungsblatt, der Westminster Gazette, veröffentlicht wurde. Dieser Vorgang musste allerdings so überraschend wirken, dass J. W. Headlam in seinem weit verbreiteten Buch The Twelve Days (Die zwölf Tage) begreiflicherweise die Instruktion für eine Fälschung hielt. Aber sie war etwas ganz anderes.

Es genügt, sich noch einmal die Fragen, die ich an die Instruktion geknüpft, zu vergegenwärtigen und sich an das Datum der Absendung der Instruktion nach Wien und London zu erinnern, um klar zu sehen. 30. Juli 1914! Die Berliner Staatsmänner waren bis zu diesem Tage - und auch die anderen deutschen Diplomaten, so namentlich der ehemalige Zentrumsspezialist für auswärtige Politik und jetzige Vorsitzende im diplomatischen Ausschuss! - des unausrottbaren Glaubens, dass England, in der ersten Zeit wenigstens, nicht in den Krieg eingreifen würde. Alle gegenseitigen Aeusserungen der englischen Staatsmänner wurden nicht ernst, sondern für diplomatische Kniffe genommen. Die unzweideutigen englischen Presseäusserungen, die die Teilnahme Englands am Kriege ankündig-

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ten, wurden in der deutschen Presse gefälscht - im friedlichen Sinne - veröffentlicht. So wurden z. B. die folgenden Schlusssätze eines Leitartikels der Times vom 29. Juli 1914 in der deutschen Presse nicht wieder gegeben: "Die englische Regierung und die Nation behält sich selbstredend vollständige Aktionsfreiheit vor. Wird Frankreich bedroht, oder wird die Sicherheit der belgischen Grenze bedroht, so werden wir wissen, was wir zu tun haben. Wir können ebensowenig Deutschland gestatten, Frankreich zu vernichten, wie Deutschland es den Russen gestatten kann, Oesterreich-Ungarn zu vernichten. Kommt diese Frage zur Entscheidung, so werden unsere Freunde und unsere Feinde erfahren, dass wir wie ein Mann handeln."

Am 30. Juli aber war man doch in Berlin zum Bewusstsein gekommen, dass man sich über die Politik Englands geirrt hätte. Zu gleicher Zeit hatte man aus Rom die bündige Versicherung erhalten, dass Italien den Bündnisfall*) nicht als gegeben erachte. So entschloss man sich, jene Instruktion abzusenden, die nicht sowohl für Wien, sondern für London bestimmt war.


*)Um mich nicht dem Vorwurf auszusetzen, dass ich irgendein Entlastungszeugnis unterdrücke, füge ich hinzu, dass letzthin Herr v. Bethmann eine zweite Urkunde dieser Art produziert hat. Aber gerade dieses Dokument, das der Kanzler - übrigens nicht vollständig und in seinem Hauptteil nur in indirekter Wiedergabe - am 9. November 1916 dem Hauptausschuss des Reichstags mitgeteilt hat, bekräftigt lediglich in bedeutsamer Weise die obigen Ausführungen. Das neue Zeugnis, von dem ich im Augenblick nicht feststellen kann, ob er nicht auch schon in den kritischen Tagen von 1914 in der englischen Presse veröffentlicht worden ist, ist insofern wichtiger als die Instruktion an Tschirschky, weil es sich hier um einen inhaltlich be-

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Sie sollte in England die Friedensstimmng erhalten - ein Beweis übrigens, wie sehr man in Berlin von der inneren Friedensliebe des englischen Volkes überzeugt war, wenn man sich solche Wirkungen von der Veröffentlichung der Instruktion an Tschirschky versprach! So löst sich die einzige Urkunde mässigender Einwirkung Deutschlands auf Oesterreich in Selbstzer


stimmten Vermittlungsversuch handelt. Am 29. Juli 1914 regte Grey - in einer Unterhaltung mit dem deutschen Botschafter - an, Herr v. Bethmann möge auf der Grundlage eine Vermittelung zwischen Wien und Petersburg unternehmen: "Oesterreich solle - das von ihm bereits besetzte Gebiert behaltend, bis es von Serbien vollständig befriedigt - erklären, dass es nicht weiter vorrücken würde, bis die Mächte einen Versuch gemacht hätten, zwischen ihm und Russland zu vermitteln." Herr v. Bethmann hat nun am 9. November 1916 mitgeteilt-, er habe den englischen Vorschlag nicht - nur nach Wien weitergegeben, sondern ihn auch dringend befürwortet. Er habe damals nach Wien über die Gefahr der Lage telegraphiert (dieser Sätze hat der Kanzler wörtlich wiedergegeben) und dann erklärt:

Das politische Prestige Oesterreich-Ungarns, die Waffenehre seiner Armee, sowie seine berechtigten Ansprüche gegen Serbien könnten durch die Besetzung Belgrads oder anderer Plätze hinreichend gewahrt werden. Wir müssen daher dem Wiener Kabinett dringend und nachdrücklich zur Erwägung geben, die Vermittelung zu den angebotenen Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden Folgen wäre für Oesterreich-Ungarn und uns ungemein schwer.

Herr Bethmann hat in dieser telegraphischen Instruktion plötzlich sich damit einverstanden erklärt, dass in der serbischen Frage zwischen Oesterreich und Russland vermittelt würde. Zuvor hatte er den englischen Konferenzvorschlag hartnäckig mit dem Einwand abgelehnt, dass er nicht dulden könne, Oesterreich vor ein europäisches Gericht zu stellen. Hatte er sich von diesem den Weltkrieg provozierenden

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setzung auf. Und nun erhält das Extrablatt der Chemnitzer Volksstimme vom 28. Juli 1914 erst seine volle Beweiskraft. Im Lichte der von mir angedeuteten Tatsachen und Zusammenhänge gesehen, beweist es: Der militärische Beschluss, unter allen Umständen bis zum 1. August zu mobilisieren, stand in Berlin schon am Beginn


Grundsatz am 29. oder 30. Juli, unter dem Eindruck der Gewissheit englischen Eingreifens, jäh bekehrt? Auch solcher Bekehrung kann nicht erfolgt sein; denn Herr v. Bethmann hat ja noch später - im Weissbuch vom 3 August wie im Reichstag - abermals als Leitmotiv der deutschen Verhandlungen den Satz aufgestellt, dass Oesterreich nicht vor ein europäisches Gericht gezogen werden dürfe. Er war sich mithin treu geblieben und die Empfehlung des entgegengesetzten Greyschen Vorschlags kann wieder nur als nicht ernst gemeinte Propagandamittel für die öffentliche Meinung in England gewertet werden. Tatsächlich ging Oesterreich dann auf diesen Greyschen Vorschlag - wenn auch erst am 31. Juli, nach seiner Gesamtmobilmachung - nicht ganz unzweideutig und nicht ohne Vorbehalt ein. Inzwischen hatte der russisch e Minister Sasonow dem deutschen Botschafter in Petersburg folgende Formel als Grundlage der Verhandlungen mit Oesterreich angeboten, die am 30. Juli vom englischen Botschafter aus Petersburg nach London telegraphiert wurde:

"Wenn Oesterreich Ungarn einwilligt, in Betracht dessen, dass sein Konflikt mit Serbien eine Frage europäischer Interessen geworden ist, sich bereit zu erklären, in seinem Ultimatum jene Forderungen zu streichen, die dem Prinzip der Souveränität Serbiens zuwiderlaufen, verpflichtet sieh Rußland, mit seinen militärischen Vorbereitungen innezuhalten."

Die Uebermittelung dieses Sasonowschen Vorschlags, der selbständig, ohne Kenntnis der Greyschen Anregung, entstanden war, veranlasste Grey, nicht seine ursprüngliche Formel, wie er sie dem deutschen Botschafter mitgegeben hatte, der russischen Regierung zu unterbreiten, sondern eine in der endgültigen Fassung noch nicht fest-

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der kritischen Woche fest. Was im Laufe dieser Woche dann noch von den Berliner Zivilstaatsmännern getan wurde, war lediglich die politische Inszenierung des militärisch beschlossenen Krieges, die durch die Ueberraschung des sofortigen Eingreifens Englands


gelegte neue Formel, die sich als eine Abänderung der Formel Sasonow darbietet. Dieser englische Vermittelungsvorschlag für die russische Regierung ist in folgender Instruktion Greys an den englischen Botschafter in Petersburg skizziert und noch am 30. Juli telegraphisch übermittelt:

"Sollte das Vorrücken der österreichisch-ungarischen Truppen, nachdem diese Belgrad besetzt, eingestellt werden, so glaube ich, dass der Vorschlag, des russischen Ministers des Aeusseren dahin abzuändern wäre, dass die Mächte prüfen sollten, inwiefern Oesterreich-Ungarn durch Serbien befriedigt werden könne, ohne dass dabei das Letztere seine Souveränitätsrechte und seine Unabhängigkeit preisgäbe. Sollte sich Oesterreich-Ungarn nach seiner Besetzung Belgrads und des benachbarten serbischen Gebietes bereit erklären, im Interesse des europäischen Friedens sein Vorrücken einzustellen, und über die Mittel, wie ein vollständiges Uebereinkommen zu erreichen wäre, verhandeln wollen, dann fände sich Russland, meiner Hoffnung entsprechend, sich ebenfalls bereit, zu verhandeln und mit seinen militärischen Massnahmen innezuhalten, wenn die anderen Mächte dasselbe Verfahren beobachteten."

Indem Grey in dieser Instruktion an den englischen Botschafter in Petersburg auch seine ursprüngliche, dem deutschen Botschafter in London Tags zuvor unterbreitete Vermittelungsformel zur Kenntnis gibt, arbeitete er sie in den russischen Vorschlag ein und empfiehlt diese Kombination Grey-Sasonow in Petersburg zur Annahme. Der russische Minister des Aeussern telegraphierte am 31. Juli an die Botschafter in Berlin, Wien, Paris, London und Rom, dass er mit dem

3 Eisner, Unterdrücktes

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und die italienische Haltung besonders schwierig geworden war.

All das wurde mir natürlich erst im Laufe der Ereignisse zur zweifelsfreien Ueberzeugung. Sie erschütterte aber niemals meine Ansicht, dass die deutsche Sozialdemokratie am 4. August 1914 unter den damaligen Umständen nicht anders handeln konnte. Wenn ich


englischen Vorschlag einverstanden sei und entsprechend den Anregungen Greys seine frühere dem deutschen Botschafter in Petersburg überreichte Formel so abändere:

"Wenn Oesterreich einverstanden ist, den Vormarsch seiner Truppen auf serbischem Territorium einzustellen, und wenn es unter Anerkennung, dass der österreichisch-serbische Konflikt den Charakter einer europäischen Frage angenommen hat, gestattet, dass die Grossmächte die Frage der Genugtuung prüfen, die Serbien ohne Beeinträchtigung seiner Rechte als souveräner Staat und seiner Unabhängigkeit Oesterreich-Ungarn geben könnte, übernimmt Russland die Verpflichtung, seine abwartende Stellung beizubehalten."

Auf Grund dieses englisch-russischen Vorschlags verhandelte dann Wien mit Petersburg. Der Unterschied zwischen dem Kompromiss und der ersten Fassung Greys besteht in der ausdrücklichen Betonung der Erhaltung der Unversehrtheit und Unabhängigkeit Serbiens; ich wüsste nicht, dass an dieser Bedingung ein Sozialist Anstoss nehmen könnte! In gleicher Richtung schlug zur serbischen Angelegenheit Grey - noch am 31. Juli - in Berlin eine Vermittelungsaktion der vier unbeteiligten Mächte (Deutschland, England, Frankreich, Italien) bei Oesterreich vor. Ja, dem deutschen Botschafter in London hatte schon am Morgen des 31. Juli Grey versichert, dass, wenn Deutschland eine derartige Verständigung bei Oesterreich durchsetze, Russland und Frankreich aber sich ablehnend verhalten würden, England mit den aus solcher Abweisung entstehenden Folgen sich nicht länger befassen, d. h. nicht mit dem Zweibund gehen würde. So ist am 31. Juli eine allgemeine Verständigungsformel gefunden: Dem Grey-Sasonowschen

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gleichwohl sofort, unabhängig von der erst hernach sich vollziehenden Entwicklung meiner Auffassung über die Kriegsverantwortlichkeiten zur Opposition gegen die Partei gedrängt wurde, so geschah das aus anderen Gründen. Die Aktion vom 4. August halte ich heute nicht für richtig. Aber die Folgen, die sich aus dieser, der ganzen (von mir nicht geteilten) Tradition


Vermittelungsvorschlag ist Oesterreich entgegengekommen, indem es Serbien Integrität und Souveränität versprach. Fehlte nur noch - Berlin, das die Verhandlung durch die vier Mächte auf dieser Grundlage in Wien befürworten und durchsetzen sollte. In dieser entscheidenden Stunde aber weigerte sich Deutschland dem englischen Botschafter gegenüber, den englischen Vorschlag auch nur in Erwägung zu ziehen, ehe Russland auf das - deutsche Ultimatum geantwortet habe. Es durchkreuzt mit dem Ultimatum die ganze Vermittelungsaktion, die trotz aller Mobilisierungen (aller Mächte) hätte durchgeführt werden können. Damit erweist sich auch das zweite Zeugnis Bethmanns lediglich als ein Mittel der politischen Inszenierung der fest beschlossenen Entscheidung durch die Waffen.

Jüngst hat Eduard David (Glocke Nr. 36) in einem Artikel, in dem er Eduard Bernstein Fälschung und Verstümmelung der englischen Bekanntmachung gewissenlos vorwarf, den Sachverhalt in der leichtfertigsten Weise, völlig konfus durcheinandergebracht. Er verwechselt geflissentlich die erste (gegenüber Russland von England niemals vorgeschlagene) Formel Greys mit der zweiten Kombination (die Russland annahm), um einen Gegensatz zwischen Grey und Sasonow zu erfinden ("Dabei hatte Sasonow die Stirn, zu behaupten, dass er den englischen Vorschlag annehme") und schliessen zu können, Oesterreich und Deutschland seien mit dem Greyschen Vorschlag einverstanden gewesen, aber Russland nicht. Tatsächlich hat den einzigen Vorschlag, den Grey nach Petersburg gesandt, Russland angenommen, und auch Oesterreich hat sich ihm anbequemt. Deutschland aber zog ihn nicht einmal in Erwägung, sondern wartete - auf die russische Beantwortung seines Ultimatums!

K.E.

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der Partei widersprechenden Tat ergaben, waren zermalmend. Ein halbes Jahrhundert sozialistischer Erziehungsarbeit war in einem Augenblick vertan. Weil die Abstimmung ein Bruch mit unserer bisherigen Politik war, darum passte man die neue Politik der Abstimmung an. Die Kreditbewilligung war nicht die Folge unserer früheren Politik, aber die jetzige Politik war die Folge der Kreditbewilligung. Als die raschen militärischen Siege Deutschlands im August und der ersten Hälfte 1914 (von der darauf einsetzenden entscheidenden Wendung erfuhr man bei uns nichts!) die Köpfe betäubten, ergriff fast die gesamte deutsche Sozialdemokratie ein schrecklicher Taumel. Alles wurde nicht nur national, sondern chauvinistisch. Man begeisterte sich für deutsche Weltherrschaft, protzte mit den Herrlichkeiten des Systems, von dem man bis dahin verachtet und misshandelt worden war. Und dieser deutsche Weltbeherrschungswahn war nicht nur eine Preisgabe aller sozialistischen und demokratischen Vorgänge, sondern - fast noch schlimmer -: eine völlige Erblindung der Einsicht in die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse der Welt und die nationale Berufung Deutschlands.

In diesem Wirbelwind ward die deutsche Sozialdemokratie eine deutsche Offiziosenpartei, also noch weit weniger als eine Regierungspartei; sie ward bis ins Innerste unselbständig, sie fand kein Wort der Kritik, des Protestes, der Menschlichkeit, der internationalen Gesinnung, der - Wahrheit! Man berufe sich nicht auf Belagerungszustand und Zensur. Wenn es nicht möglich war, frei zu reden, so durfte man doch schwei-

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gen. Die Anklage richtet sich nicht dagegen, was man - aus Zwang - verschwieg, sondern was man - ohne Zwang - sagte und schrieb! Der Zusammenbruch der sozialdemokratischen Gesinnungen war unendlich schlimmer, als der Wettersturz der Liberalen nach 1866.

Die einzige Entschuldigung war die gegen den Zarismus gerichtete Parteiüberlieferung. Aber abgesehen davon, dass man die antizaristische Ideologie alsbald verliess, und der imperialistischen Parole gegen England nicht nur bereitwillig, sondern fast fanatisch folgte, trat für den mit wissenschaftlichem Ernst die Erscheinungen durchdringenden Beobachter immer mehr eine andere Tatsache hervor: Die europäischen Westmächte waren mit dem neuen, dem demokratischen Russland verbündet, das seit einem Jahrzehnt daran ist, die Hülle des Zarismus zu sprengen, wie Preussen-Deutschlands hundertjährige Freundschaft mit dem zaristischen Russland verknüpft war. Gegen diese deutsch-russische Politik richtete sich unser Hass und unser (erfolgloser> Kampf, seitdem es eine deutsche Sozialdemokratie gibt, E. H. und ich haben gemeinsam mit Karl Liebknecht und Hugo Haase das grosse deutsche Vorspiel der russischen Revolution, den Königsberger Hochverratsprozess, als Augen- und Ohrenzeugen erlebt. Der Krieg, der zehn Jahre später ausbrach, fand ein innerlich gewandeltes Russland. Der Bund zwischen der französischen Republik und dem slawischen Weltreich im Osten war nicht mehr so widernatürlich, wie er es früher war. Unser Fehderuf: gegen den Zarismus verlor seinen Sinn. Auch darüber

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konnte man zu Beginn des Krieges im Zweifel sein. Aber der Krieg selbst offenbarte die Gewalt der demokratischen Strömungen in Russland. Und wenn alle deutschen Hoffnungen auf einen Separatfrieden mit Russland sich ausschliesslich auf die russischen "schwarzen Hundert" stützen, gibt es ein stärkeres Argument gegen die Kriegspolitik der leitenden deutschen Sozialdemokratie?

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IV.

er Anlass meiner Oktober-Zuschrift und der Ausgang dieser Betrachtungen war der Hohn, mit dem die Volksstimme die Schiedsgerichtsproklamation Lord Greys überschüttet hatte. Ich hätte diese Verleugnung einer sozialistischen Programmforderung und eines demokratischen Grundsatzes erklärt: "Nicht weil England eine sozialistische Forderung aufnimmt, sucht man sie zu entkräften und zu verdächtigen, sondern weil man weiss, dass man - diese Forderung ernst und unter Einsatz jedes Mittels aufgenommen - zum unheilbaren Bruch mit dem offiziellen Deutschland als dem Todfeind, dem Erbfeind solcher gefährlichen Phantastereien sich entschliessen müsste.

Inzwischen hat - am 9. November im Hauptausschuss des Reichstages - Herr von Bethmann die Ideen Greys in schwungvoll pathetischen Wendungen sich nicht nur plötzlich angeeignet, sondern in dem Ungestüm der neuen Erkenntnis natürlich auch sofort Deutschland die bekannte Mission vorgeschrieben, auch in dieser pazifistischen Organisation an der Spitze zu marschieren. Indem E. H. Grey und Bethmann in gleichem Masse ablehnt, erkennt er dem deutschen

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Kanzler immerhin den Erfolg zu, dass er durch sein Einverständnis "mit dem Gedanken eines Ausbaues des Völkerrechts zum internationalen Friedensbund" mir "diese Waffe aus der Hand geschlagen habe".

Ich will an dieser Stelle die Sezierung der Bethmannschen Rede nicht vornehmen. Ich hatte behauptet, dass hier die Wege sich scheiden, dass dies pazifistische Kriegsziel völlig unvereinbar mit dem deutschen System sei. Wenn E. H. diese Behauptung durch die Erklärungen Bethmanns für widerlegt hält, ist das nun E. H.sche Naivität oder etwas anderes? Hätte sich Herr von Bethmann im Sinne Greys ausgesprochen, so wäre das in der Tat der radikale Bruch mit dem deutschen System, eine revolutionäre Umkehr, und der Friede könnte auf dieser Grundlage sofort geschlossen werden; er wäre die erste Anwendung und der erste Erfolg der neuen Völkertafel. Aber ist Herr von Bethmann über Nacht zum Revolutionär an seiner und der herrschenden Auffassung in Deutschland geworden?

Ich ahnte, nach gewissen publizistischen Vorbereitungen, dass dergleichen Worte einmal fallen würde Darum hatte ich dargelegt, dass die Völkerbundsforderung im Munde des englischen Staatsmannes die Verkündigung eines englischen Lebensinteresses sei und ich hatte die vorsichtige Klausel hinzugefügt, dass das deutsche System mit dem Gedanken unvereinbar sei, sofern diese Forderung ernst und unter Einsatz jedes Mittels (von den deutschen Sozialisten) aufgenommen würde.

Ernst genommen, bedeutet die Forderung: Jeder Konflikt ist vor einer kriegerischen Entscheidung ei-

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nem Schiedsgericht zu unterbreiten, und zwar gerade dann, wenn es sich um sogenannte nationale Lebensfragen handelt. Der Friedensbund legt weiter allen Mitgliedern die Verpflichtung auf, gegen jeden Verletzer dieser neuen internationalen Rechtsordnung mit allen militärischen und wirtschaftlichen Machtmitteln einzuschreiten.

Hat sich Herr von Bethmann dazu bekehrt? Das wäre eine persönliche Katastrophe und das Wunder der Wunder. Aber noch wunderbarer ist die allgemeine Bekehrung zu Bethmanns Umsturz. Selbst die Konservativen haben sich nicht gescheut, ihre Sympathien für die Erklärungen des Kanzlers auszusprechen. Die ganze deutsche Welt steht offenbar auf dem Kopf, und es ist nicht abzusehen, welch revolutionäres Prinzip noch bei unseren herrschenden Klassen auf Widerspruch stossen möchte; es scheint, als ob sich ein geistiger Besitzwechsel vollzogen hat: in demselben Augenblick, in dem die völkerbefreienden Revolutionäre von ehemals der Verführung der bürgerlich-feudalen Ideen erliegen, richten sich die Herrschenden im kommunistischen Manifest und im Erfurter Programm häuslich ein!

Hat der epidemische Charakter der pazifistischen Bekehrung nicht einmal den Verdacht E. H.'s erregt. Auch die hitzigsten Gegner des derzeitigen Kanzlers haben sich durch diese Wandlung Bethmanns nicht beunruhigen lassen. Anders spricht auch Graf Westarp oder Herr von Reventlow nicht. Sie kennen die Vorliebe Bethmanns für wichtige Vokabeln. Aber sie wissen auch, dass das innere Verhältnis des Gedan-

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kens immer gleich leblos bleibt: ob er nun früher von Kant sprach oder jetzt von der Neuorientierung - das Wort ein ebenso scheusslicher Bastard wie der Begriff!

- oder plötzlich auch von internationalem Schiedsgericht, man spürt niemals etwas von realen Garantien, ob er den Denker, dessen Namen er im Munde geführt, auch nur gelesen, geschweige verstanden hat; ob er der zukünftigen Verheissung irgendeinen bestimmten Inhalt oder gar einen entschlossenen Willen der Verwirklichung hinzudenkt; ob nicht vielmehr die Aufnahme solcher seiner geistigen Richtung entgegengesetzten Ideen blosse Schutzanpassungen sind, hinter denen er ungestörter und ungehemmter seine angeborene Politik fortzusetzen wünscht, wie es ja seit jeher eine Liebhaberei der preussischen Staatstechnik ist, mit liberalen Männern konservative Politik zu treiben.

Die ebenso späte wie plötzliche Bekehrung Bethmanns zum Pazifismus - warum war er, zum Heil der Völker, nicht schon im Juli 1914 so weit, damals, als er sich weigerte, selbst einen so geringfügigen Konflikt wie den zwischen dem grossen Oesterreich und dem kleinen Serbien, vor ein europäisches Gericht zu ziehen? - müsste gleichwohl von uns als radikaler Bruch mit dem deutschen militaristischen System der Gewalt lebhaft anerkannt werden, wenn nicht auch diese Aeusserungen die Art aller seiner von den Mehrheitssozialisten bewunderten Zugeständnisse hätten. Alles was in Bethmanns Kundgebungen nach demokratischen und sozialistischen Forderungen klang, war völlig unbestimmt und inhaltlos. Sobald er aber das Bedürfnis hatte, die Anhänger des herrschenden Systems zu be-

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ruhigen, ward er sehr bestimmt. Wenn er z.B. einmal im Reichstag gedroht hatte, dass je länger die Feinde den Frieden verweigern, desto grösser die Forderungen Deutschlands werden würden (das war damals als Herr Helfferich mit dem finanziellen Prospekt debutierte, man brauche sich um die deutschen Kriegsschulden nicht zu sorgen, da sie die Feinde zu bezahlen hätten!), so klang das nicht so flötenhaft, wie er in den Zwiegesprächen mit Scheidemann seinem roten Gönner vorkommt.

Aber es steht in diesem Fall des scheinbaren Zugeständnisses an Greys Forderungen noch schlimmer. Der Kanzler hat sich leider durch die verhängnisvollen Ratschläge der Harden, Zorn, Hans Delbrück, Dernburg verleiten lassen. Kurz vorher hatte namentlich Delbrück mit gar zu aufdringlichem Spott empfohlen, da nun einmal die Welt jetzt Pazifistisches gern höre, solle man auch in Deutschland einige unverbindliche Phrasen aus dieser Sphäre ertönen lassen. Der Kanzler erwies sich als gelehriger Leser der Preussischen Jahrbücher und verstand die taktischen Gründe, aus denen es zur Zeit zweckmässig sei, Pazifismen in den Wortschatz der deutschen Auslandspropaganda aufzunehmen. Das ist die Bedeutung seiner Bekehrung Nichts weiter. Jeder Satz zeigt, dass er in diese fremde Gedankenwelt sich überhaupt noch gar nicht hineingefunden hat und dass er ungefähr das Gegenteil von dem plant - d.h. aus taktischen Erwägungen davon redet

- was die demokratische-sozialistische Forderung einer europäischen Rechtsorganisation bedeutet. Uebrigens hat der hervorragendste Kenner und Vorkämpfer des

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Schiedsgerichtsverfahrens, Professor D. Nippold, jüngst das Nötige über den neuen regierenden Berliner Adepten des Pazifismus gesagt.

Indessen, ich bin objektiv genug, um einzusehen, dass die herrschenden Klassen Deutschlands die schiedsgerichtliche Zwangsorganisation gar nicht ernstlich wünschen können, nicht nur wegen der Unvereinbarkeit mit dem ganzen System, auf dem ihre innere Machtstellung beruht, sondern auch, weil in der Tat die Rechts-organisation, jetzt geschaffen, zu Gunsten der Staaten wirkt, die, durch die günstigen Umstände ihrer geschichtlichen Vergangenheit, die Weltherrschaft besitzen; hemmend dagegen für die, welche sie erst erwerben wollen. Gerade deshalb ist ja die pazifistische Kriegszielforderung Englands durchaus nicht Heuchelei, sondern ein unerlässliches Mittel der Machterhaltung. Gerade deshalb hält auch E. H. seine geheimsten Gedanken, seine Zukunftshoffnung eines deutschen Imperiums bewusstlos unvorsichtig preisgebend, die Grundforderung aller sozialistischen Programme, plötzlich für unsozialistisch (wie Radek!). Gebe ich also zu, dass das Schiedsgerichtsverfahren die bestehende englische Weltherrschaft schützt und die erstrebte deutsche Weltherrschaft hemmt, so leugne ich dagegen durchaus jedes proletarische, sozialistische und demokratische Interesse, die Entwicklung der Dinge so zu beeinflussen und zu leiten, dass die geschichtlich gewordene Weltherrschaft der herrschenden Klasse eines Landes eingeschränkt, verdrängt, in militärisch-marinistischem Gewaltringen abgelöst werde durch die künftige Weltherrschaft der herrschenden Klasse eines

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anderen Landes. Man kann den englischen Imperialismus schlechthin verurteilen und bekämpfen, aber nicht dadurch, dass man ihn durch den noch gefährlicheren - weil gänzlich undemokratischen - deutschen Imperialismus ersetzen will.

E. H. bestreitet freilich, nachdem er eben durch die Zurückweisung des Schiedsgerichtsverfahrens mittelbar sogar ein sozialdemokratisches Bekenntnis zum deutschen Imperialismus abgelegt hat, dass die Weltherrschaft wie deutsche Kriegsursache, so deutsches Kriegsziel sei. Er hat mir zugestimmt, dass Kriegsursachen und Kriegsziele identisch seien, wenn auch mit der für die zur Diskussion stehenden Frage unerheblichen und unklaren Einschränkung, dass sich Kriegsziele im Laufe des Krieges ändern können. Dass in einem Weltkrieg, nachdem er einmal losgelassen ist, alle Appetite wach werden und wachsen, ist eine automatische Notwendigkeit. Aber E. H. kennt nur für die Entente solche Kriegsziele als Kriegsursachen:

"Sie heissen Konstantinopel für Russland, Elsass-Lothringen für Frankreich, siegreicher Handels- und Kolonialkrieg für England."

Gewiss, Russland träumt seit tausend Jahren von Konstantinopel. Aber es fehlt jeder Beweis, dass es am 1. August 1914 entschlossen gewesen sei, diesen Traum zu verwirklichen. Ja, indem es bei Ausbruch des Krieges sich bemüht hatte, die Türkei auf seine Seite zu ziehen, war es sogar im Gegenteil bereit, für diesen Krieg auf die Verwirklichung seines Traumes zu verzichten. Dass dann, als ganz Europa in glühenden Fluss geriet, Russland bei der kommenden Kristallisa-

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tion Konstantinopel sich anzugliedern begehrt, war selbstverständlich.

Frankreich hat niemals auf Elsass-Lothringen verzichtet, auch die französischen Sozialisten nicht, am allerwenigsten Jaurès. Aber man hatte sich allmählich darein gefunden, dass man wegen dieses Rechtsanspruchs keinen Krieg anfangen dürfe. In keinem Lande hatte die pazifistische Stimmung so alle Schichten der Bevölkerung durchdrungen, wie in der französischen Republik. Selbst die zur ohnmächtigen Opposition zu rückgescheuchten Chauvins der Revanche schreckten vor einem Kriege zurück. Am 14. Mai 1914 - zehn Wochen vor Ausbruch des Weltkrieges - schloss der sozialdemokratische Abgeordnete Wendel in Reichstage seine Rede mit dem Rufe: Vive la France - es lebe Frankreich! Tags darauf setzte die Chemnitzer Volksstimme diesen "prächtigen Schlachtruf" als Ueberschrift des Artikels, in dem zu lesen war: "Es ist im Grunde genommen immer ein und derselbe Konflikt: handele es sich nun um die Enteignung der Duala oder um die neuen Liebknechtschen Enthüllungen über die Rüstungskorruption oder heute um die Gesamtheit der deutschen (!) Auslandspolitik: Auf der einen Seite stehen die Imperialisten und Rüstungstreiber, die aus der Völkerverhetzung und Völkerbelastung ihre Profite ziehen, auf der anderen Seite die Vorkämpfer für Kultur und Gerechtigkeit ... - Alle bürgerlichen Parteien lehnen es ab, nach Kultur, Vernunft und Recht zu entscheiden, sondern preisen als ihr höchstes Ideal die Nation, was Genosse Liebknecht treffend dahin über setzte: ihr Geld." Weiter: "Das bisschen Friedenswil-

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len bei den bürgerlichen Parteien ist ja immerhin ganz nett, und wir wollen es durchaus für die Friedenssache ausnützen. Aber wir wollen uns nicht darüber täuschen, dass die Friedensliebe kapitalistischer Politiker eben nicht zur Berghöhe der Gerechtigkeit, sondern nur zum Maulwurfshügel der Profitberechnung emporführt." Immer noch weiter: "Darum konnten die bürgerlichen Parteien nicht einmal verstehen, was Genosse Wendel mit seinem Hochruf auf Frankreich gemeint hat. Sie antworteten mit dem Hinweise auf Frankreichs Milliardendarlehen an Russland zu Rüstungszwecken oder beriefen sich auf kriegerische und deutschfeindliche Aeusserungen der Barthou oder Clemenceau oder gar auf die Wahlsiege - der Anhänger der dreijährigen Dienstzeit in Frankreich. Aber Wendel hatte mit aller wünschenswerten Klarheit gesagt, dass sein Gruss dem Frankreich der Arbeit und der Demokratie gilt, dem Frankreich des Sozialismus, das durch den Mund von Jean Jaurès, als der König von England Paris besuchte, der Welt kundtat: 'Wir rufen mit dem Bürgertum: Es lebe England! Aber wir rufen in gleichem Atem: Es lebe Deutschland!' Dieses neue Frankreich, dieses proletarische Frankreich der Arbeiter und Bauern, das keine Milliarden verleiht und keine Zinsen schluckt, ist von genau demselben Geiste beseelt wie das deutsche Proletariat, und mit ihm tauschen wir Gruss und Handschlag. Gerade der Geist der französischen Revolution hat in diesen letzten Kammerwahlen einen glänzenden Sieg davongetragen, und so ist es denn heute mehr denn je an der Zeit gewesen, das Vive la France! auch

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im deutschen Reichstag erschallen zu lassen!" Ich gebe noch kein Pardon und lasse die Volksstimme fortfahren: "Die wechselnden Konstellationen der Bourgeoispolitik haben nichts mit der prinzipiellen Klarheit sozialistischer und demokratischer Friedenspolitik gemein. Erringt morgen die russische Arbeiterklasse einen Sieg über den Nikolaus, den der Vizepräsident Dr. Paasche in komischer Unwissenheit heute als einen verbündeten Monarchen nur mit höchster Ehrfurcht zu behandeln befahl, so rufen wir morgen im Reichstage: Es lebe Russland!, weil jeder derartige Ruf im Grunde genommen dasselbe bedeutet: Es lebe die sozialistische Internationale des Friedens, der Freiheitskampf der Völker ... Weil wir dieses grosse Ziel vor Augen haben, darum sind wir auch die einzige Partei im Reichstage, die zur auswärtigen Politik etwas Wesentliches zu sagen hat ... Ebenso charakteristisch ist das völlige Versagen der bürgerlichen Redner, von deren Reden man den Inhalt kurzerhand in das Wort 'nichts' zusammenfassen kann ... Und auch die Rede des Staatssekretärs von Jagow verlor sich in Allgemeinheiten und Plattheiten ... Höchstens, dass er sich (bitte recht aufmerksam lesen! E. H.) einer ausgesuchten Liebenswürdigkeit gegenüber England befleissigte und vor dem russischen Zaren lange nicht soviel Respekt an den Tag legte wie ein liberaler Reichstagspräsident. Es ist der Unterschied zwischen kleinlicher Eintagspolitik und Geschäftspolitik auf der einen und grosszügiger Prinzipienpolitik auf der anderen Seite, der in

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diesem Gegensatz der Reden an den Tag tritt." Und endlich der schreckliche Schluss: "Wir streben der Zeit zu, da die Völker wirklich eine grosse Kultiviertheit bilden werden, und haben in dem jüngsten grossen Wahlsieg unserer französischen Genossen eine neue Gewähr, dass wir dieses Ziel erreichen werden. Aus Freude darüber und zum Zeichen der Entschlossenheit zur weiteren Friedensarbeit unterstreichen wir Wendels Ruf und pflanzen ihn durch ganz Deutschland fort: Vive la France!"

Aber das war zu lange, lange vor dem Weltkrieg - zehn ganze Wochen! Ueber die Politik Englands jedoch, das E. H. heute wie irgendein Reventlow anklagt, es habe den Weltkrieg organisiert, zu dem Kriegsziele, die deutsche Wirtschaft und die deutschen Kolonien zu vernichten, schrieb der Londoner Korrespondent, M. Beer, in der Volksstimme vom 30. J u li 1914: "Ohne England würde der Dreibund entschieden das Uebergewicht gegenüber dem Zweibund haben. Und ein Dreibund würde Deutschland massgebend sein: es wäre imstande, dem europäischen Festlande seinen Willen aufzuerlegen. Dass gerade Deutschland diese Hegemonie haben soll, ist doppelter Grund für England, sich auf die Seite des Zweibundes zu stellen. Nicht wegen der deutschen Handelskonkurrenz, sondern wegen der deutschen Flottenrüstungen, die selbstredend sich in der Nordsee und der unmittelbaren Nähe Englands vollziehen müssen. Seit mindestens zehn Jahren versuchte ich in der deutschen

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sozialdemokratischen Presse die Ansicht zu vertreten, dass nicht der ökonomische Kampf, sondern die Seerivalität die Ursache der deutsch-englischen Spannung sei." Das stand in der Volksstimme bloss einen Tag vor der deutschen Kriegserklärung an Russland und zwei Tage nach ihrem Extrablatt!

Heute weiss E. H. überhaupt nichts mehr von deutscher Auslandspolitik, von deutschen Kriegszielen. Fünfundzwanzig Jahre deutscher Auslandspolitik, die nur äusserlich das Bild eines Zickzackkurses darbieten, in Wahrheit aber sehr einheitlich und zielbewusst gefördert wurde, sind aus E. H.'s Gedächtnis ebenso geschwunden, wie die zehnjährige Aufklärung M. Beers über das Wesen des englisch-deutschen Gegensatzes. Die weltpolitisch gerichtete Aera der deutschen Politik beginnt ungehemmt mit Bismarcks Sturz. Die charakteristische Form dieses deutschen Imperialismus ist, dass, wie immer Ziele wirtschaftlicher Expansion - Entwicklung und Sicherung des Exports, eigene Rohstoffgebiete - gesteckt sind, die treibende Kraft der deutschen Weltpolitik die militarisch-nationalistische Machtromantik ist, die letzten Endes (ihrer Betätigung durch rein strategische) in Erwägungen entschieden wird; wie es ja auch deutsche Spezialität war, den Krieg um des Krieges willen, wegen der Kraft seiner sittlichen "Ertüchtigung" zu preisen und zu fordern. Das Ziel des deutschen Imperialismus war von Anfang an der Sturz der englischen Weltherrschaft. Das liess sich aber mi-

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litärisch nicht erreichen, da Deutschland für seine Flotte keine Stützpunkte im Weltmeer besass Darum brauchte man eine Hilfskonstruktion. England war zu-nächst unerreichbar, aber um so leichter war Frankreich niederzuwerfen, und das musste dann aus seinem Besitz die Häfen und Stationen für die deutschen Flotten abtreten. So erst waren die Voraussetzungen gegeben für eine künftige Auseinandersetzung mit England. Das war deutsches Kriegsziel, das durch Englands unerwartetes Eingreifen und die Marneschlacht untersank. Auf der anderen Seite suchte man England zu treffen, indem man sich durch den Balkan den Weg nach Asien bahnte; da stiess man notwendig auf Russland.

Es ist ein Widerspruch und ein Widersinn, wenn man bei uns die Frage aufwirft, ob denn England allein ein ewiges Recht auf die Weltherrschaft habe, diese Frage verneint, und doch zugleich leugnet, dass Deutschland sich entschlossen habe, das einzige Mittel anzuwenden, das den englischen Anspruch aufzuheben geeignet wäre: den Krieg. Es ist derselbe Widerspruch und Widersinn, von der deutschen Einkreisung und Einschnürung zu reden, und gleichwohl zu behaupten, dass Deutschland gar nicht daran gedacht habe, sich durch den Krieg Hals und Atem frei zu machen. Ebenso wie diejenigen, die vorher den Krieg als Stahlbad und Jungbrunnen verherrlicht hatten, jetzt nicht von dem Verbrechen, der Blutschuld des Krieges, reden dürfen. War Deutschland wirklich, wie unsere Imperialisten behaupten, durch die Politik der Entente unerträglich eingeschnürt und an dem Lebensrecht seiner notwendi-

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gen Entwicklung gehindert, dann war es - nach bürgerlicher Anschauung - nicht nur das geschichtliche Recht, sondern auch die absolute Pflicht Deutschlands, durch die Waffen sich zu befreien und den Ausweg in die Welt zu bahnen. Das ist die einzige und mögliche Voraussetzung jeder Diskussion des Weltkrieges. Die deutschen Imperialisten sollten endlich den Mut beweisen, sich jetzt zu dem Kriege zu bekennen, den sie fünfundzwanzig Jahre lang vorbereitet und gefordert haben.

Auch die deutschen Sozialisten können nur von dieser Grundannahme ausgehen. Sie haben sich zu entscheiden, ob auch sie jenes historische Recht zum deutschen Kriege anerkennen und aus diesen deutschen Kriegsgründen und Kriegszielen die Pflicht des deutschen Proletariats folgern, "weiterhin nicht nur die selbstverständliche Pflicht der Landesverteidigung zu erfüllen, sondern auch positiv das Recht Deutschlands gegen die Entente zu vertreten", wie es der Schlusssatz E. H.'s fordert. Das Recht Deutschlands! Welches Recht? Das Recht zum - Kriege! E. H. soll denn die Verantwortung für dieses deutsche Recht - um des imperialistischen Zieles willen - endlich wagen zu bekennen und zu übernehmen!

München, Anfang Dezember 1916.

Dieser Artikel, dessen Erscheinen unmöglich gemacht wurde, hatte ein Zensurnachspiel, das sich in dem folgenden Aktenstück skizziert:

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