Rede Kurt Eisners auf der Arbeiter- und Sozialistenkonferenz in
Bern, 3. bis 10 Februar 1919.

Sonntag, 9.2.1919, vormittags

Rede zur Frage der Kriegsgefangenen. Vgl.Resolutionsentwurf von Eisner/Renaudel

Parteigenossen! Die Resolution, die ich Ihnen zur Annahme empfehle, trägt den Namen eines Franzosen und eines Deutschen gemeinsam, und ich glaube, daß in dieser symbolischen Verbindung sich wieder ein Anfang der neuen Zeit zeigt. Aber ich erwarte auch, daß in dieser gemeinsamen Resolution die Kraft steckt, daß das, was wir wünschen, nun auch unmittelbar ausgeführt wird.

In Deutschland regt sich gegenwärtig eine Protestbewegung zugunsten der Kriegsgefan-genen. Ich protestiere nicht, um keinen Preis, und ich bedaure, daß die Revolution, die unser Volk in den Tiefen aufgewühlt und umgestaltet hat, so wenig umgestaltet hat den Geist derer, die solche Protestbewegungen organisieren. Es bildet sich wohl mancher ein, daß der Potsdamer Geist verschwunden ist, wenn er sich in die Eisenbahn setzt und von Berlin nach Weimar fährt, in jene Stadt, in der Goethe gewirkt hat, für den die innerste Wahrhaftigkeit der Inbegriff, der Weltbegriff der Menschheit gewesen. Sollen wir protestieren, dürfen wir protestieren? Ich sage nein, das ist zu spät, viel zu spät. Dürfen wir uns entrüsten über Zwangsarbeit, wo wir es geschehen ließen, daß Zehntausende, ja vielleicht Hunderttausende in Zwangsarbeit verschleppt wurden, daß wir Sitten wieder einführten in den Krieg, die nicht einmal das Mittelalter gekannt hat und die vielleicht seit dem Altertum niemals wieder angewendet worden sind?

Ich denke daran, wie man schonungslos in Frankreich und Belgien junge Mädchen davongeschleppt hat, fernab von ihren Familien, und wie man die Einwohner gezwungen hat, sogar die eigenen Fabriken zu zerstören, damit die Industrie des Landes für alle Zeiten vernichtet würde:

Ich erinnere mich, daß in Nordfrankreich 4200 km Eisenbahnen zerstört sind, 400 Brücken, 220 Schleusen, und ich stelle mir das Bild vor, wie die Tausende von Franzosen, die jetzt in ihre Heimat zurückströmen, auf wüsten Trümmern hausen, hungern, und daß es an Arbeitskräften fehlen mag, um so rasch wie möglich diese Trümmerhaufen wieder in Heimstätten für Menschen zu verwandeln.

Das sind alles Gründe, die mich bewegen, nicht zu protestieren und uns das Recht zu versagen, zu protestieren. Aber dennoch, Parteigenossen, und gerade deshalb habe ich das Vertrauen, daß das Los der Gefangenen zu mildern die erste Aufgabe der neuen Zeit ist.

Ich erwarte, daß das Martyrium der Gefangenen, das jetzt viel schlimmer ist als je zuvor, weil das Ungewisse, das Fehlen der Hoffnung auf das Ende, die Qual unendlich vermehrt, bald einmal zu Ende gehe.

Jeder Parteigenosse, der einmal im Gefängnis gesessen hat, weiß, wie furchtbar die letzten Tage sind, und dieses Schicksal haben jetzt unsere Gefangenen.

Es war kurz nach der bayerischen Revolution, da war es unsere erste Tat, daß wir einen erbärmlichen Gefangenenschinder, irgendeinen höheren Offizier, unschädlich machten, und es ist für mich ein Erlebnis, das ich niemals vergessen werde, als ich gemeinsam mit französischen Offizieren in ein München benachbartes Gefangenenlager ging. Man hat alle Abtransporte der französischen und zum Teil auch der russischen Gefangenen, die sich in diesem Lager befanden, von Berlin aus organisiert. Aber man vertröstete die Gefangenen mit Versprechungen, sprach ihnen von der großen Not in den Verkehrsverhältnissen, von der Kohlennot, dem Lokomotivenmangel. Zum Teil allerdings hatte man uns die Lokomotiven weggenommen und so bestand darin ein Mangel.

Von Berlin gab es nur Versprechungen, aber nicht Taten, und da entschlossen wir uns, von München aus sofort zu handeln. Die französischen Gefangenen und auch ein Teil Russen wurde sofort abtransportiert, obschon wir dazu nicht berechtigt waren.

Ich erinnere mich an die unmenschlichen Szenen, die ich in dem Gefangenenlager sah, wohl 12.000 Menschen schwärmten unruhig hin und her. Ich habe eine Revolution mit gemacht, ich habe Stürme auf Kasernen und Gefängnisse erlebt, aber nichts reichte heran an die furchtbare Unruhe und Qual dieser hin- und hergetriebenen Menschen, die hofften, die erwarteten, nun könnten sie hinaus, nun würden sie frei, und es war erschütternd zu erfahren, daß dieser armen Gefangenen, im Augenblick als sie hörten, in München sei die Revolution ausgebrochen, erster Gedanke war, nun werden auch wir frei. Das kam aber nicht sofort, und da kam die Verzweiflung.

Ich danke noch heute dem französischen Offizier, der zu den Gefangenen sprach, um sie zu beruhigen, denn es bestand die Gefahr, daß die Tausende, die in diesem Lager waren, ausbrechen, denn nicht nur die Gefangenen wollten nach Hause, sondern auch die deutschen Bewachungsmannschaften waren es müde und wollten nach Hause.

Ich danke noch heute dem französischen Offizier, der zu den Gefangenen sprach, sie sollten sich noch ein wenig gedulden, und daß ich mich dafür verbürgte, dafür, daß sie bald nach Hause können. Die Gefangenen überzeugten sich, daß, wenn ich es ihnen verspreche, ich es auch halte.

Aber, Parteigenossen, in welcher Stimmung waren diese Menschen! Sie wollten nicht mehr arbeiten, sie blieben am liebsten liegen. Die Zustände in diesem Gefangenenlager waren derart, daß wir wohl kein Recht haben, uns über Mißstände in fremden Gefangenenlagern zu entrüsten, obwohl es ganz zweifellos ist, daß auch in den Ländern der Entente arme Gefangene mißhandelt worden sind. Aber wer gesehen hat, wie in diesen dunklen Holzbaracken, in denen die Seuche herrschte, eine furchtbare Seuche, die man Grippe nannte, aber die wohl nicht viel anders war als die Pest, wer gesehen hat, wie diese sterbenden Menschen neben gesunden dicht beieinander gedrängt lagen, Tote, Leichname und Särge, der hat wohl ein Gefühl dafür bekommen, daß unter allen Schrecken dieses Krieges das Los der Gefangenen die fürchterlichste und schwerste Anklage gegen die Menschheit gewesen ist, und nur aus dieser Erwägung heraus stelle ich die Forderung, daß man die Gefühle des Hasses und der Vergeltung nicht aufkommen lasse, sondern anfange, neu zu denken, neu zu fühlen, und unverzüglich die Gefangenen freigebe.

Denn das ist richtig, was mein Freund von der Mehrheit gesagt hat, die Gefangenen leiden nicht nur, sondern auch ihre Angehörigen, auch die zittern heute angstvoll um das Leben ihrer Väter, Brüder und Söhne. Sie wissen nichts von ihnen, und es ist wahr, nichts regt diese Angehörigen so auf wie die Nachricht, daß sie zu Zwangsarbeiten verurteilt wurden.

Ich wiederhole, es wäre nur eine schwache Vergeltung für das, was wir selbst getan haben, es wäre weniger, als wir selbst getan haben, denn wenn man die Gefangenen jetzt benutzt zum Aufbau, so ist das ein schöpferisches Werk und vorzuziehen jenen Deportationen und jener Zwangsarbeit, jener Sklavenarbeit, die dazu benutzt wurde, um zu zerstören.

Aber, Parteigenossen, ich möchte doch meinen, auch Frankreich sollte eines einsehen. Ich rede nicht von den Schwierigkeiten der wirtschaftlichen Konkurrenz der Arbeiter, die entsteht, aber ich möchte doch meinen, daß der Aufbau eines durch den Krieg zerstörten Gebietes nicht in Schande durch die Zwangsarbeit vollzogen, werden soll. Wenn dort in Nordfrankreich Arbeitskräfte fehlen, so möchte ich meinen, daß es die ehrenvollste Aufgabe unserer deutschen Aussöhnung wäre, wenn wir unsere Arbeiter aufforderten, freiwillig mitzuhelfen an dem Aufbau des Landes, zu dessen Zerstörung sie gezwungen waren. Wie der Krieg begonnen wurde mit dem Aufruf an Freiwillige, mit dem Aufruf zum Töten, Morden und Verwüsten, sollten wir jetzt beginnen mit dem Aufruf: "Geht hinaus und baut auf!" Freiwillige, und nicht nur Arbeiter, sollten wir haben, sondern es wäre auch eine Aufgabe für unsere studierende Jugend, mitzuhelfen am Bau der neuen Zeit im eigentlichen Sinne des Wortes.

Das wollte ich noch an dieser Stelle hier sagen; und ich für meinen Teil, wenn meine Worte in Deutschland gehört werden und wenn die Franzosen es wünschen, will diesen Aufruf an die deutschen Arbeiter richten, freiwillig zu kommen und mitzuarbeiten. Aber auch unsere Künstler und Architekten sollten bereit sein, den Grundstein zu dem neuen Völkerbund dadurch zu legen, daß sie die von uns angerichtete Zerstörung wieder durch schaffende Arbeit in die neue Zeit hinein aufbeben.

Wir wünschen also, und ich möchte da mit meinem Freunde Renaudel einig sein, daß nun sofort die Vorbereitungen getroffen werden, damit so rasch als möglich unsere Gefangenen uns wiedergegeben werden, vor allen Dingen aber die Kranken und Verwundeten. Man hat mir vorgeworfen: Du sorgst so sehr für die französischen und englischen Gefangenen, hast aber noch kein Wort des Mitleids für die deutschen Gefangenen gefunden. Ich erwiderte: Indem ich für die französischen Gefangenen gesorgt habe, habe ich vielleicht am meisten für die deutschen Gefangenen gesorgt.

Es wäre auch zu wünschen, daß der von Renaudel und mir gestellte Antrag, eine Kommission des Roten Kreuzes möchte die Gefangenenlager in Frankreich und England besuchen, dahin ergänzt wird, daß sich dieser Kommission auch deutsche Delegierte anschließen könnten.

Zum Schlusse möchte ich noch einen ganz dringenden Appell an die Entente richten und dieser Appell betrifft die Zustände in den Gefangenenlagern von Sibirien. Es sind in Sibirien noch ungezählte deutsche und deutsch-österreichische Gefangene. Ich habe von Augenzeugen, von Frauen, die dort als Schwestern tätig waren, Schilderungen von den entsetzlichen Qualen, die diese versprengten, der Kälte und dem Hunger ausgelieferter Gefangenen dort leiden, gehört. Es handelt sich da anscheinend noch um viele Zehntausende Gefangene, und ich glaube, es ist ein Anfang dafür, daß die Menschheit wieder zusammenwachse, daß wir hier jener armen Kreaturen gedenken, die abgeschlossen sind von aller Menschlichkeit, und ich bitte Sie, durch die Annahme unserer Resolution denen in Sibirien auch den Glauben beizubringen: irgendwo sind immer Menschen, die des Menschen menschlich gedenken.

Werte Parteigenossen! Diese paar Worte, die ich hier gesprochen habe, sind auch eine Liquidation des Krieges und ein Anfang der neuen Zeit. Ich bitte Sie, uns in Deutschland zu glauben, daß unser Volk ernstlich entschlossen ist, im neuen Geist zu leben und zu sühnen die Verbrechen, an denen wir keine Schuld tragen, oder wenn wir Mitschuld tragen, doch nur daran, daß wir zu geduldig waren in der Vergangenheit und die schwere dunkle Geschichte des deutschen Volkes noch in unserm Blute trugen. Heute sind wir frei! Und weil wir frei sind, können wir die Wahrheit sprechen, und weil wir die Wahrheit sprechen darum können wir fordern, daß man Menschlichkeit auch gegen uns übe. (Starker Beifall)