Criminelle Majestätsverherrlichung

(Januar 1897)

Als wir am Dienstag, den 19. Januar 1897, die Zeitungen musterten, die uns die Berliner Post gebracht, hatten wir eine Erscheinung, die wir gern der vierten Dimension zur Last legen würden, wenn es unser Gerechtigkeitsgefühl gestattete, nach berühmtem Vorbild den großen Unbekannten als den Generalschuldigen zu denuncieren. Plötzlich war es uns, als ob wie unsere eigene Todesanzeige sähen, wiewohl wir nötigenfalls zu beschwören bereit waren, das wir lebten, als ob wir eine Rezension über ein Tat-Twamsches Werk läsen, das wir nie geschrieben, oder die Höchster Farbwerke ein aus dem Leichengift gewonnenes Sterblichkeitsheilserum rühmend ankündigten, das unserer Genialität sein Dasein verdankte, die doch nie mit einer dividendenfähigen Sache je etwas zu thun gehabt hat. Aber die Erscheinung war bösartiger: Was wir in der Zeitung fanden, war die Besichtigung eines Verbrechens, von dessen Verübung wir bis dahin nicht das mindeste Bewußtsein gehabt hatten. Es war doch recht hübsch von dieser Zeitung, daß sie und von einer Handlung benachrichtigte, die wir begangen haben sollen: das nennt man gute Information! Anfangs gedachten wir sofort den § 11 in Bewegung zu setzen, dann glaubten wir an einen Doppelgänger, und schließlich, abseits gleitend auf der Bahn des Uebersinnlichen und Uebergeistigen, wähnten wir den anderen in unserem Organismus zu beherbergen, der Schurkenthaten lächelnd begeht, während das bessere Ich ahnungslos als sorgsamer Familienvater und Staatsbürger sein bißchen ideale Culturpflicht zu erfüllen bemüht ist. Wir schauderten, schauderten, schauderten. Erst als uns unser Weib einen bereits geöffneten Brief überreichte mit der listigen Frage, ob so etwas zu den Scheidungsgründen gehöre, gelang es uns, unsere Identität festzustellen und aus der transcendenten Ohnmacht in das Leben der realen Welt zurückzukehren: Es ist so, wie die Zeitung

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Meldete! O Tat Twam, was schriebst Du diesen „undiplomatischen Neujahrsempfang”, der doch – der Staatsanwaltschaft sagt's und die Polizei bestätigt's – nichts ist als Ein großes crimen laesae majestatis! So schuf Deine Feder Unheil, vier Stunden wütete die Haussuchung, daß Briefe sich öffneten und Documente emporwirbelten, und 875 schmucke schuldlose Druckhefte wurden in düsteres Criminalverließ geschleppt! O Tat-Twam, o Tat-Twam …

Alle Schuld rächt sich auf Erden, da wir ja eine Staatsanwaltschaft und eine Polizei haben. Warum ließen wir es uns auch beikommen, in diesem herrlich geeinten deutschen Reich in Freiheit Träume zu spinnen und Märchen zu sinnen, Träume und Märchen, die völlig wider die Grundanschauung unserer Erkenntnis gerichtet sind. Da wissen wir ganz genau, daß der Einzelne, und wäre es der stärkste, niemals im stande ist, die Executive der Weltgesetze zu beschleunigen, und trotzdem lockt uns die Sehnsucht in der ernsten, erfüllten Stimmung zwischen den Jahren, unsere Trübsal über den schleichenden, stockenden Gang der Entwicklung in einem Augenblick der von den Sylvestergeistern entfesselten Phantasie vergessen zu machen und die am fernen Horizont erstarrte Erfüllung unsere Wünsche zu erlösen, in beglückende Nähe zu zaubern. So gestalten wir uns denn träumend einen Menschen, der mitten aus dem System heraus, dessen Ueberwindung wir erstreben, hervorwächst, um es selbst zu zerstören. Wir gesellen zur größten staatsrechtlichen Machtvollkommenheit die tiefste Einsicht, den edelsten Willen und die gewaltigste Kraft und heischen dann von diesem Märchenprinz unseres sehnenden Geistes die Lösung der Wunderaufgabe, die Jahrhundertarbeit der schleppenden keuchenden Entwicklung in einem heldenstrahlenden Tage frühlingsstürmisch zu verrichten. Und diese über alles Menschenmaß und nüchterne Vernunft hinausfliegende Verherrlichung des erhabenen Einzelnen wird von der Staatsanwaltschaft nicht nur für eine Modellarbeit gehalten – uns würde dieser Vorwurf byzantinischen Geschmacks bitter kränken – sondern, um das Unbegreifliche zu gipfeln, als ein beleidigendes Pamphlet angeklagt, das man confiscieren und dessen Verfasser man unter allen Umständen um der

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Erhaltung des Staates Willen ermitteln müsse. Wir machen uns den Vorwurf, daß wir einmal wider unsere bessere Einsicht in den Irrtum eines phantastischen Heroencultus verfallen sind, und die Staatsanwaltschaft destilliert aus derselben Handlung das Vergeben einer Majestätsbeleidigung – wie ist dieser Widerspruch zu lösen?

Wir gestehen, daß uns fast mehr die Begleiterscheinungen der neuesten Haupt- und Staatsaction interessieren als uns die verteidigende Erläuterung unseres Provincialbriefs über den undiplomatischen Neujahrsempfang am Herzen liegt. Seit geraumer Zeit gehören wir zu den sentimentalen Lobrednern der guten alten Zeit der Censur, nicht aus einer überflüssigen Neigung zur Paradoxie, sondern aus sehr triftigen litterar-hygienischen Gründen. Der Censor hatte die Verantwortung dafür, daß nur das in die Oeffentlichkeit gelangte, was das herrschende System vertragen konnte. Der Publicist konnte schreiben, was er wollte, der Censor besorgte die Redaction; der Autor selbst brauchte sich nicht um die Finessen der nervösen Reizbarkeit der Gewalthaber zu kümmern. Witzige Köpfe trieben dabei einen lustigen Schmuggel und dupierten den censierenden Beamten, der an der Grenze zwischen Erlaubt und Staatsgefährlich die Gedanken revidierte. Der Censor allein hatte sich um die oft unberechenbaren Launen und Grillen seiner jeweiligen Herrschaft zu kümmern und bisweilen hatte er wohl selbst Sympathien mit den kecken Ideenpaschern und ließ die verdächtige Ware passieren. Jedenfalls ist z.B. die litterarische Production am Ende des vorigen Jahrhunderts weit kühner, wahrhaftiger und radicaler als die heute aus dem Zuchthaus der Preßfreiheit kommende. Heute trägt der Schriftsteller selbst die Verantwortung, er muß sich bei jedem Satz ängstlich fragen, welchen Eindruck er wohl auf die herrschende Gewalt machen wird, und sofern er nicht die Neigung hat, sein Leben hinter Kerkergittern zu beschließen, muß er Autor und Censor in einer Person sein. Daß bei dieser Zweiseelennatur seines Schaffens der freie Schwung gelähmt wird, daß eine ängstliche, unwahre und schwachmütige Production entstehen muß, ist klar. Der Temperamentstil verkümmert, und jene Todsünde wider den Geist der Publicistik, jenes meineidige – denn der

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Schriftsteller sollte stets wie unter dem Eid seine Meinung aussprechen – jenes meineidige Verdecken und Verschweigen der Gedanken tritt an die Stelle der freien Aussprache der Wahrheit in dem heißen Stil der in inneren Erlebnissen schwingenden und singenden Psyche. Der Unsittliche freilich findet leicht einen Ausweg. Er bedient sich der frivolen Maskerade unfaßbarer Anspielungen und prostituiert sich zum kitzelnden Spaßmacher der vulgären Lüsternheit. Die politische Frivolität ist ebenso ekelhaft wie die sexuelle, und es sollte eigentlich nicht die Aufgabe der herrschenden Gewalten sein, die doch ein bißchen auch die erziehenden Gewalten sein müßten, diesen Gemeintrieb zur Zote zu fördern.

Auf der anderen Seite erschlafft der ewige Zwang sein eigener Censor zu sein, wider die publicistischen Gewissenspflichten nach den Launen und Tücken eines verhaßten Systems zu schielen, die Ueberzeugungskraft des Schriftstellers. Allmählich verlernt er es, peinlich die Weisungen seines Bewußtseins zu vollführen, und von dem vorsichtigen Aengstling zu dem verächtlichen Verleger- oder Polizeisöldling ist kein weiter Weg. Daß aber diese Entmannung der Publicistik am wenigsten gerade dem herrschenden System nützt, das sollte eine seit Jahrhunderten feststehende Erkenntnis sein. Man beseitigt die gefährlichen Untiefen nicht dadurch, daß man die roten Tonnen unter das Wasser zieht, man läuft vielmehr auf, wenn die warnenden Weiser entfernt werden. Selbst in der rohesten Hetz- und Schimpffreiheit ist ein Staat gesicherter, als in der Zwangscastration des freien Gedankens. Wenn die Begierden und Ideale unter Tage heimlich arbeiten müssen, dann drohen die schlagenden Wetter und Grubenbrände.

Mit unserer gegenwärtigen Preßgesetzgebung wäre nur dann möglich zu existieren, wenn unsere Richter noch jenen liberalen Sinn hätten, der ihnen der Legende zufolge einst eigentümlich gewesen sein soll. Des Liberalismus Herz aber ist die Preßfreiheit. Heute haben die Richter im allgemeinen nichts mehr von solchem Liberalismus. Im Gegenteil. Wer in den Gerichtssälen sorgsame Beobachtungen anstellt, der wird längst die Erfahrung gemacht haben, daß kein schwerer Verbrecher von Staatsanwälten und zuweilen

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auch von den Vorsitzenden so feindlich und verächtlich behandelt wird wie ein Preßsünder. Einem Raubmörder widmen sie vielleicht noch ein wenig menschliches Empfinden; hat man aber schon einen Staatsanwalt gesehen, der für einen angeklagten Publicisten nur ein winziges sympathisches Gefühlchen übrig gehabt hätte? Die umstürzlerische Schriftstellerei, das ist das Schlechte an sich, Wie viel tödliche Ehrverletzungen haben sich schon die Officiere des Geistes in öffentlichem Gerichtssaal gefallen lassen müssen! Die Ersten sind so glücklich die Letzten in der gesellschaftlichen Rangordnung geworden.

Wenn wir bis zum heutigen Tage unter dem anarchischen Zustande leben, daß kein Strafvollzugsgesetz der Willkür in der Behandlung von Häftlingen Schranken setzt, so liegt das klärlich daran, daß man sich scheut, die schneidigste Waffe gegen politische „Verbrecher” aus der Hand zu geben; denn natürlich würde ein Strafvollzugsgesetz nicht die Schamlosigkeit wagen, messerstechende Zuhälter mit „beleidigenden” Redacteuren auf eine Stufe zu stellen. Deshalb hat man keine Lust, aus der doch sonst so verhaßten Anarchie herauszukommen. Im Reichstag wurden kürzlich einige Fälle von entwürdigender Behandlung inhaftierter Journalisten erwähnt und mit Recht auf sibirische Gepflogenheiten hingewiesen. Die Liste ließe sich beliebig bereichern. So wurde vor einigen Jahren ein Redacteur, der in der Untersuchungshaft sich ein Stückchen Wurst zustecken ließ, mit Handfesseln versehen, mit denselben Handfesseln, die kurz vorher ein Raubmörder, dem mehrere Dienstmädchen zum Opfer gefallen waren, getragen hatte, nur mit dem Unterschied, daß sie für den Herren Dienstmädchenmörder gepolstert waren. Als man den Staatsanwalt, der inzwischen eine bedeutende Carriere gemacht hat, wegen seiner Verfügung öffentlich angriff, klagte er natürlich wegen Beleidigung, weil das Verfahren vollständig gesetzlich war, und zu den Acten gab der Mann des Gesetzes die Erläuterung, daß dem Redacteur deshalb ungepolsterte, dem Raubmörder aber gepolsterte Handfesseln angelegt wären, weil des letzteren Handgelenke zu fein waren. Alles durchaus gesetzlich!

Weil man also von der Rechtspraxis gegenwärtig nichts zu erhoffen hat, darum ist es an der Zeit, endlich die Anomalien des

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Preßgesetzes zu tilgen. Am wichtigsten wäre die Beseitigung des verantwortlichen Redacteurs. Man hat im Preßrecht den Behörden das Handwerk außerordentlich erleichtert. Während die Polizei nach Spitzbuben und Mördern mühselig und häufig vergeblich suchen muß, hat man liebenswürdigerweise bei den Preßvergehen den Thäter zur Verfügung gestellt. That und Thäter sind von vornherein bekannt, nicht die kleinste Ermittlung ist mehr notwendig, der Verbrecher, der verantwortliche Redacteur, hat schon vor der That seine Adresse bei der Polizei aufgegeben. Wenn es aber nun ständige Praxis wird, den verantwortlichen Redacteur als den fictiven Thäter zu betrachten und nach einem zweiten Thäter, dem Verfasser zu suchen, so daß Preßvergehen stets zu Collectivdelikten werden; wenn man ferner, obwohl der Thatbestand dank dem Preßgesetze von Haus aus klar und zweifellos ist, sich die überflüssige Mühe nicht verdrießen läßt, durch grobe Haussuchungen bis in die innersten Privatangelegenheiten der Redacteure einzudringen, und mit den Daumenschrauben des Zeugniszwangs neben dem Thäter im preßgesetzlichen Sinne noch einen anderen, der nicht Thäter, sondern Verfasser ist, zu ermitteln, - so ist die Institution des verantwortlichen Redacteurs, durch die gerade solche schwierigen Bemühungen entbehrlich gemacht werden sollten, völlig überflüssig und schädlich. Will man nicht den Redacteur, sondern den Verfasser als wirklichen Thäter gelten lassen, so gönne man diesem die Wohlthat, die jeder schwere Verbrecher genießt, daß ihm seine That bewiesen werde, und lasse jenen ganz aus dem Spiel. Es ist eine das Rechtsbewußtsein auf das schwerste verletzende Auffassung, daß der verantwortliche Redacteur gleichsam nur als Stellvertreter geopfert wird, weil man den eigentlichen Thäter nicht erwischen kann. Entweder gilt der Redacteur als der wirkliche Thäter oder er verschwinde überhaupt aus der Gesetzgebung. Alsdann werden auch Haussuchungen und Zeugniszwang legitime Mittel der criminellen Recherche sein, während sie jetzt wie mittelalterliche Barbarei wirken, da sie ja überflüssig sind, weil der Thäter von Anfang an feststeht.

Wie empörend wirkt heute insonderheit solche Haussuchung! Man dringt in der Abwesenheit eines Redacteurs in seine Wohnung

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ein, erbricht die Schlösser, durchstöbert alles, die zartesten und individuellsten persönlichen Erinnerungszeichen werden brutal untersucht, nicht einmal der geschlossene Brief ist ihnen heilig, das sorgsamst gehütete Geheimnis wird hervorgezerrt, das feine psychische Leben, das in dem für-uns-allein-Sein der Gegenstände liegt, wird erbarmungslos vernichtet – und alles das, um etwas zu erfahren, das die Behörde gar nichts angehen sollte, weil das Preßgesetz ihr That und Thäter ohne jede Nachforschung zur Verfügung stellt. Denn welches Interesse kann es für sie haben, den Namen eines Schriftstellers zu erfahren, der sich nicht nennt, vielleicht aus dem verächtlichen Grunde, weil er in der Stille zu schaffen wünscht, unberührt von dem Lärm einer zudringlichen Oeffentlichkeit, und dessen Ermittelung den gesetzlichen verantwortlichen Thäter nicht im mindesten entlasten würde! Der Schriftsteller, der für eine periodische Druckschrift arbeitet, lehnt nicht die Verantwortlichkeit ab, weil er feig und ängstlich ist, sondern weil ihn das Gesetz zwingt, die Verantwortlichkeit dem Redacteur zu cedieren. Die Selbsterhaltung des publicistischen Berufs nötigt dazu, zu verhindern, daß das Preßgesetz so gehandhabt werde, daß für eine Handlung zum mindesten zwei Opfer zur Strecke gebracht werden. Bereits haben wir ja erlebt, daß man auf dem Wege der Beihilfe-Construction die Zahl der Thäter ins Unermeßliche zu steigern sucht.

Man unterschätze auch nicht die Folgen, die ein derartiges gewaltsames Eindringen in den allerpersönlichsten Besitz von Staatswegen haben muß. Welche Achtung sollen wir vor der Unantastbarkeit des an sich gleichgiltigen gemünzten Eigentums haben, wenn es dem Staate gestattet ist, ohne genügenden Anlaß unseren intimsten und eigensten Besitz anzutasten. Ist der Schutz unserer Briefe nicht einmal einbruchssicher, nicht unser Heim geschützt vor allen Angriffen von außen, was liegt da an den schmutzigen Goldstücken, die als das gefährlichste Productionsmittel unserer freien Verfügung entzogen werden sollen! Der Staat gibt ein schlechtes Beispiel hinsichtlich der Heilighaltung des Eigentums.

War insbesondere in unserem Falle ein Anlaß zu solch rigorosem Thun? Wir verstehen die meteorologischen Ursachen des

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scharfen Windes, der gegenwärtig weht. Der große Spitzelproceß – einige Monate früher, und Herr v. Tausch hätte die Haussuchung vorgenommen! – hat allzu sehr die Gemüter unserer Ordnungsmannen verletzt. Er richtete seine Schärfe gerade gegen die Elemente, die im Kampfe für Religion, Ordnung und Sitte voranmarschierten und sonst gewohnt waren, mit frohem Behagen die Stäupung der Anderen zu schauen. Was ist verständlicher, als daß man sich der ausgleichenden Gerechtigkeit bedient, um die Gekränkten dadurch zu versöhnen, daß man wiederum unter ihren Gegnern Musterung hält und siehet, wen man verschlinge. Aber hätte man nicht wenigstens in solcher löblichen Bethätigung der ausgleichenden Gerechtigkeit warten sollen, bis sich eine einigermaßen günstige Gelegenheit darböte? Wir halten zu unserem Bedauern die jetzige Gelegenheit nicht für günstig.

Man beschuldigt uns, daß wir in unserer Jahresrevue „Ein undiplomatischer Neujahrsempfang” eine oder mehrere Majestätsbeleidigungen begangen haben. Nun wird auch eine zwölfstündige Haussuchung nicht eine einzige Nennung oder Andeutung des Kaisers in dem Artikel zu ermitteln vermögen. Es handelte sich mithin höchstens um die berüchtigte indirecte Majestätsbeleidigung. Oder mit anderen Worten, man schiebt uns die kränkende Absicht unter, daß wir selbst jene frivole Handlung begangen hätten, die wir so oft als unsittlich bekämpft haben, daß wir in mehr oder minder unfaßbaren Andeutungen unseren beleidigenden Witz an der Majestät des deutschen Kaisers zu üben versucht hätten. Warum hat man behördlich nur den einen Artikel der Beachtung gewürdigt und nicht auch die früheren? Im Zusammenhang hätte sich leicht der wahre Sinn auch des verdächtigen Briefes ergeben, und der staatsanwaltliche Mißgriff wäre unterblieben. Dann hätte man gesehen, wie sehr wir jene unzüchtige Stichelmanier verschmähen, deren man uns jetzt beschuldigt.

Wenn wir an Handlungen des deutschen Kaisers Kritik üben wollen, so thun wir dies direct ohne schützenden Gerichtskorb. Wir sagen unsere Meinung, wie es unsere Gewohnheit ist, ernst und aufrichtig. Wir leugnen auch nicht, daß, wenn wir uns mit der

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Person des Kaisers beschäftigen müssen, dies wohl stets in kritischer Weise geschehen würde. Fürstenlob ist wohl die compromittierteste Sache der Weltgeschichte. Gerade die unbedeutendsten und verächtlichsten Menschen auf Thronen haben die größten Bewunderer gefunden; denn sie bedurften natürlich am meisten der Bewunderung, und was der Mächtige wünscht, erlangt er leicht in Fülle. Schon deshalb sollten bedeutende Persönlichkeiten auf alles Huldigen und Byzantinern verzichten. Es ist die Gewohnheit der liberalen Schranzen in Stadt- und anderen Parlamenten, am lautesten zu preisen, wenn in ihrem Busen auch nicht die leiseste Empfindung sich rührt. Gerade das schlechte Gewissen des unmonarchischen Gefühls veranlaßt die lautesten Gefühlsausbrüche. Das einzige gesunde Verhältnis zwischen Fürst und Volk besteht in der offenen kritischen Auseinandersetzung. Zum mindesten verrät es einen schlechten Geschmack, den durch die Geschichte prostituierten Monarchenpreis zu üben und zu – dulden.

Wir persönlich empfinden aber wenig Neigung zu solcher Kritik. Wir haften nicht an Persönlichkeiten, weil wir für Ideen streiten, und wir überlassen es gern den hochpolitischen Sprößlingen der Wilhelmine Buchholz, sich darüber aufzuregen, daß der deutsche Kaiser mit Herbert Bismarck nicht zusammenzutreffen wünscht, wie uns auch die Schwächen und Tugenden der Minister kalt lassen. Das Problem des Monarchismus selbst ist längst entschieden. Wir wissen, daß es mit den eigentlichen Lebensfragen der Gesellschaft nicht zusammenhängt. Deshalb hat der Radicalismus auch längst den Kampf gegen die Monarchie eingestellt. Seit der Revolution von 1866, wo unter dynastisch-feudal-bürgerlicher Führung alte Monarchien gestürzt wurden, bedroht niemand mehr die Kronen, am allerwenigsten der Radicalismus, der an der Geschichte gelernt hat, sich nicht für die Fürstenhetze zu begeistern. Die Frage nach der besten Staatsform im äußerlichen Sinne fesselt nur noch die oberflächlichen Köpfe und politischen Kinder.

Höchstens wäre der mystische Monarchismus noch ein Problem, wenn nicht darüber vollständige Einmütigkeit herrschte. Auch der deutsche Kaiser weiß, so gut wie ein anderer modern gebildeter

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Mensch, daß es einen unmöglichen Rückfall in das mythologische Zeitalter, eine Leugnung der seitherigen Geistesarbeit der Menschheit bedeuten würde, einen anderen als den staatsbürgerlichen Monarchismus anzuerkennen. Deshalb ist es auch in dieser Hinsicht nicht von nöten, sich in dem Prophetenmantel des Fürstenerziehers zu spreizen.

Dergestalt ist es von vornherein ausgeschlossen, daß wir das Vergehen begangen haben, dessen man uns beschuldigt. Wir haben den deutschen Kaiser nicht nur nicht genannt, sondern ihn auch nicht gemeint. Hätten wir ihn aber selbst gemeint, so würde unser Aufsatz keine Beleidigung, sondern eine ungewöhnlich schwärmerische Verherrlichung darstellen, denn wir hätten romantisierend den Monarchen mit jenen Wunderkräften ausgestattet, die ihm mythologische Kindgläubigkeit dereinst verlieh. Und, in der That von dem Vorwurf sprechen wir uns nicht frei, daß wir mit jenem neujahrlichen Phantasiestück einen Ritt ins alte romantische Land unternahmen, das aber natürlich nicht das Berlin oder Potsdam der Gegenwart ist.

Zweierlei wollten wir in unserem Aufsatz verrichten: Einmal eine gedrängte Jahresrevue geben, und dann in scharfem Contrast das Ideal mit der Wirklichkeit zusammenprallen lassen. Zu diesem Zwecke schufen wir nach dem Vorbild jenes mythologischen Herrschers eine Traumgestalt, der wir die Zauberkraft verliehen, unserer ungeduldigen Begehrlichkeit die rasche Erfüllung zu bringen, welche die träge Entwickelung uns versagt. Der Contrast wurde aus künstlerischer Absicht dadurch verschärft, daß wir den Menschheitsretter als einen plötzlich Bekehrten in dramatischer Handlung darstellen. Es ist unvermeidlich, daß diese Phantasiegestalt deutsche Züge trägt; denn eine deutsche Jahresschau wollten wir ja geben. In dem Sinne der Phantasie, die auf eine Erlösung der Menschheit hindeuten will, ist es weder eine deutsche, noch sonst irgend eine national fixierte Figur, auch nicht ein Monarch nach modernem Bilde, sondern ein weltlicher Erlöser, der die größte staatsrechtliche, historisch überkommene Machtvollkommenheit mit der gewaltigsten Genialität des Geistes und der That vereint. Unser leidenschaft-

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licher Idealismus schuf sich in dem erleuchteten Kritiker der Gegenwart einen Vollstrecker seiner Sehnsucht. Die lockende Versuchung, jenen blassen Schemen der Phantasie reicher und lebendiger zu gestalten, indem wir ihn mit Zügen aus dem heutigen Leben schmückten, haben wir mit Fleiß vermieden, um nicht mißverstanden zu werden. Es ist eigentlich auffällig, daß dieser Herrscher, der sich selbst überwunden und erhöht hat, nicht in der leisesten Andeutung auf den Monarchen hinweist, der uns am nächsten steht. Wir strebten eben darnach, richtig verstanden zu werden.

Unsere Schuld, die wir nicht leugnen, ist, daß wir in schwärmender Stimmung scheinbar einer Renaissance des übermenschlichen mystischen Monarchismus das Wort geredet haben. Gestehen wir, daß diese Anschauung einer lyrischen Augenblicksstimmung nicht unserer Ueberzeugung entspricht. Strafbar aber im criminellen Begriff ist, so viel wir wissen, eine solche Verherrlichung der Majestät nicht.