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Dieser Text erschien zunäst 1897. Unsere Wiedergabe stützt sich auf die im Sammelband "Taggeist - Culturglossen von Kurt Eisner", Dr. John Edelheim Verlag, Berlin, 1901.
 
Paginierung und Absätze wurden unverändert übernommen. Einfügungen durch (Klammern und Kursivschrift) kenntlich gemacht. Die Orthographie wurde beibehalten, offensichtliche Druckfehler bereinigt, Hervorhebungen erfolgen wie im Original durch gesperrten Satz.

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Nationalsociale Grundirrtümer*)

(1897)

Charakterköpfe von der scharfen Prägung eines Naumann sind nicht allzu häufig in unserem politischen Leben. Herr Naumann wäre schon aus diesem Grunde allein eine höchst erfreuliche Bereicherung unserer parlamentarischen Körperschaften. Wäre dieses herrliche deutsche Reich nicht ein solcher zum Ersticken enger Bureaukratenstaat, so hätte sich die Regierung längst diese feste Energie und starke geistige Kraft zu gewinnen versucht; denn Regierungen bedürfen der geschickten Menschenfänger die jedenfalls dauerhaftere Wirkungen ihnen sichern als brutale Handhabung der Gewalt, die Knebelung des freien Wortes und Polizei- und Gerichtschicanen. So wie die Verhältnisse bei uns liegen, macht man den Mann zum Märtyrer und ihn den sein ganzes Wesen zu praktischem Thun und zur Eroberung der Macht drängt zum - Rebellen. Er revolutioniert die Gebildeten, während er an anderer Stelle mit mehr Erfolg als irgend ein andrer die Massenbändigung betreiben könnte.

Aber der Mann ist auch für den reinen Psychologen ein interessantes Problem. Ein überraschend klarer Blick im Einzelnen, eine Virtuosität im Geistreichen und Packenden ein nie versagendes diplomatisches Geschick ein sehr bemerkenswertes Finderglück in anregenden Einfällen, die fast wie Ideen schimmern, eine erstaunliche Kunst im Umgang mit politisch mutierenden Menschen gesellt sich zu einer fast unglaublich widerspruchsvollen Wirrnis der Grundprincipien und einer Inconsequenz, die sich nur dürftig hinter blendenden Bildern und Gleichnissen zu verstecken vermag. Ist diesem geräumigen, kantigen Schädel wirklich die Gabe principieller Einheitlichkeit versagt? Vermag es diese Intelligenz zu ertragen, daß sie das Unvereinbare nebeneinander hegt? Oder haben wir es mit einem zwecksicheren

*) Anläßlich eines im Februar 1897 zu Marburg gehaltenen Vortrages des Pfarrers Naumann

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Taktiker zu thun, der genau weiß, mit welchen Mitteln die verriegelten Hirne der Widerstrebenden am sichersten zu erschließen seien? Fast möchten wir die letzte Annahme für die günstigste halten, wenn die Methode nur nicht schließlich darauf hinauslaufen würde, die geistige Erschlaffung, die unter der opportunistischen Libertinage unfähig zu strenger Gedankenbildung geworden ist, zu fördern statt zu heilen!

In der letzten großen Marburger Naumann-Versammlung hat Herr Naumann unter großem Beifall diese Verschmelzung des schlechterdings Widerstrebenden in seinen allgemeinen Erörterungen vorgenommen. Die Debatte, die sich an den Vortrag anknüpfte, stand nicht auf der Höhe, sie verflachte bald und verebbte in allerlei Abwässerchen.

Dergestalt blieb Herr Naumann Sieger, gerade wo er am schwächsten war, und der merkwürdige Romantiker auf dem Thron des Socialismus fand für seine in grellen Contrasten zuckenden Rhapsodien nicht den nüchternen Kritiker, dessen sie bedurften.

Was die Debatte versäumte, wollen wir nachholen, indem wir die Grundanschauungen des "Systems" Naumann einer Kritik unterziehen. Es handelt sich vornehmlich um die Verbindung von staatsnationaler Weltmachtpolitik und socialer Classenkampfpolitik, die Herr Naumann auf einander häuft nach der fragwürdigen gastronomischen Logik: Ein saurer Hering schmeckt gut, Schlagsahne schmeckt auch gut - wie außerordentlich gut muß da erst saurer Hering mit Schlagsahne schmecken! So genießt Herr Naumann - er selbst behauptet mit großem, aufrichtigem Appetit - Karl Marx mit Karl Peters, wie er auch in einer Art modernem Heliandstil die Gestalt Christi mit eherner Rüstung wappnet, und aus dem idyllischen Stall, der seine Wiege barg, ein Artilleriedepot in naiver Anpassung gestaltet.

Es gilt Bilder und Gesichte an denkender Erfahrung systematisch zu messen.

Falsche sorglose Analogien sind die gefährlichsten Spielereien für das Denken, sie treiben es in Zwangsvorstellungen, in denen alle intellectuelle Gesundheit zu Grunde gehen muß. Es wäre besser, nichts von der Geschichte zu wissen, als irrige Lehren aus ihr zu

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ziehen. Die kranke Romantik, die in der Vergangenheit ihre tiefsten Eingebungen sucht ist durch solche Pseudohistorik entstanden.

Auf einer falschen Analogie ruht auch Naumanns taktischer Grundgedanke Er ist geblendet von der nationalliberalen Vergangenheit. Wie es den Nationalliberalen, nicht den Radicalen, gelang, unter Bismarcks und eines blutig berauschenden Krieges Beihilfe, die deutsche Reichseinheit zustande zu bringen, so meint er, müsse es auch einer compromisselnden Mittelpartei gelingen, die socialen Tagesaufgaben ihrer Lösung näher zu führen. Naumann will die Geschäfte der bankerotten nationalliberalen Firma weiterführen, indem er sociales Kapital hineinsteckt.

Niemand wird leugnen, daß in der That die deutsche Reichseinheit unter nationalliberalem Zeichen entstanden ist. Das aber ist gerade unser Unglück. Das deutsche reich ist eine Compromißgeburt, und das deutsche Volk ist, wie es den richtigen Augenblick seiner Einigung 1815 verpaßte, anscheinend auch für immer um seine Aera des bürgerlichen Liberalismus betrogen worden. Das Unbehagen auch in rein politischer Beziehung, der ganze antiliberale, reactionäre, mit allerlei feudalistischen Rückständigkeiten erfüllte Geist stammt aus jenem nationalliberalen Ursprung. Es ist schon an sich wenig verlockend, jene Methode nochmals zu wiederholen, abgesehen davon, daß ihre Anwendung in der socialen Transponierung überhaupt unmöglich ist.

Was hatte der Nationalliberalismus zu überwinden, um die Einigung des deutschen Volkes zu ermöglichen? Im Grunde nur die widerstrebenden dynastischen Interessen. Der Nationalliberalismus pactierte mit dem stärksten dynastischen Interessenten gegen die schwächeren Rivalen, so erreichte er schließlich, was der Demokratismus nicht vermochte, weil er gegen alle dynastischen Interessenten arbeitete. Der Nationalliberalismus siegte durch diese Capitulation. Das Bürgertum opferte seinen politischen Radicalismus, um die für das materielle Aufblühen der deutschen Bourgeoisie notwendige Einheit zu erringen. Es war schließlich kein Kunststück mehr, sobald der dynastische Widerstand überwunden war, es war der Kampf um eine formale Unterschrift.

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In anderen Landern ist die nationale Einigung auf andere und vollkommenere Weise errungen worden, die zufällige, man möchte sagen, unlogische und willkürliche Art der deutschen Einheitsvollendung spiegelt keineswegs ein großes historisches Gesetz wieder. Es ist keine geschichtliche Notwendigkeit, daß die politischen Aufgaben nur nationalliberal gelöst werden können. Im Gegenteil. Jedenfalls ist die alte nationale Aufgabe mit den modernen socialen Problemen nicht zu vergleichen. Hier handelt es sich nicht um die formale Vollziehung eines staatsrechtlichen Actes, sondern um die Organisation eines wirtschaftlichen Chaos, um eine Weltschöpfung, nicht nur um Statuten für eine bereits im Wesentlichen bestehende Organisation. Nicht ein verhältnismäßig kleines nationales Problem ist zu lösen, sondern eine Frage die für alle auf der Höhe der modernen Wirtschaft stehenden Culturvölker auf gleiche Weise gilt. Welche unmögliche Vorstellung, eine solche Frage nach nationalliberalem Recept mit den netten Künsten des Vorzimmers, des Pactierens mit den Mächtigen, des Compromisses, des juste milieu zu bewältigen! Nicht einmal die Entfesselung eines patriotischen Kriegsfuror würde zum Ziele führen. Der Nationalliberalismus ist gewesen, er ist tot - und auf seinem Grabmal stehen zwar seine Orden vermerkt aber nicht seine Verdienste. Seine Methode ist so compromittiert, daß ihr Scheinerfolg niemanden mehr verführen sollte.

Gewiß, hätte der Nationalliberalismus noch einige Aufgaben zu lösen: die nationale Einigung im großdeutschen Sinn, und den liberalen Ausbau der Verfassung nach englischem Vorbild. Das wären seine natürlichen Aufgaben. Die Transfusion, durch die Naumann aber des Nationalliberalismus Greisenschwäche heilen möchte, muß tödlich wirken. Denn Naumann sieht die nationale Aufgabe seiner Bennigsen-Nachfolger-Partei in einer deutschen Weltpolitik, und die innenpolitische in einer strammen Socialreform.

Naumann ist national. Was versteht er unter diesem Begriff?

Ein erhebliches Verdienst Naumanns ist es, daß er über das wirkliche Wesen der Socialdemokratie in Kreisen Aufklärung zu verbreiten bemüht ist, die noch an das einfältige Märchen glauben, das sei eine Rotte von Menschen, die eine Lösung der socialen Frage

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in einer hübsch gleichmäßigen Verteilung des Geldes sehen. Daß diese Erfindung dummpfiffiger Gegner der Socialdemokraten auch von sogenannten Gebildeten noch für bare Münze genommen wird, sollte man zwar nicht für möglich halten, ist aber gleichwohl Thatsache. Naumann hat nun richtig erkannt, daß man auf die Dauer nicht Gegner bekämpfen kann, indem man gegen erfundene Programme losschlägt. Schließlich merkt auch der Beschränkteste, daß das, was er in seinem Blättchen so oft gelesen, erlogen sein müsse. es könne vernünftigerweise nicht angenommen werden, daß Millionen ausgewachsener, denkender Menschen sich für jene Tollhausidee der Teilerei begeistern. Ist der Philister einmal erst mißtrauisch geworden, so beschädigt er sich am Ende ernsthaft mit dem sozialistischen Programm, dem er nunmehr leicht sich ergiebt, nachdem er das Vertrauen zu seinen bisherigen Autoritäten gründlich verloren. Wenn die Gutgesinnten, so folgert er, nur mit Verleumdungen den Gegner bekämpfen zu können glauben, so muß dieser wohl den Inbegriff des Wahren und Unüberwindlichen besitzen. Naumann schlägt also mit Recht einen anderen Weg der Bekämpfung ein. Er will die Irrtümer der wirklichen socialistischen Lehre erweisen, und den Hauptirrtum und die Hauptschwache glaubt er in dem antinationalen Charakter entdeckt zu haben.

Naumann will beobachtet haben, daß in der Sozialdemokratie selbst hinsichtlich der nationalen Frage verschiedene Strömungen nebeneinander herlaufen, und er billigt ihr sogar einen mehr national gesinnten rechten Flügel zu. Was er aber hier für verschiedene Anschauungen innerhalb der Socialdemokratie hält, ist in Wahrheit das Schillern des Nationalbegriffs bei Naumann selbst. Der Beobachter wechselt den Standpunct, nicht aber verändert sich das Object. In Naumanns Bewußtsein kreuzen sich verschiedene Auffassungen des Nationalen, und je nachdem die eine oder die andere in Kraft tritt, findet oder vermißt er in der Socialdemokratie die nationale Gesinnung, während bei einheitlicher Begriffsstellung, auch die gleiche einheitliche nationale Anschauung jener Partei zuerkannt werden muß.

Was versteht die Socialdemokratie und was versteht Naumann unter berechtigtem Nationalismus ?

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Die nationale Gesinnung, die nach Naumann dem "rechten Flügel" der Socialdemokratie eigentümlich ist, besteht in etwas sehr Einfachem und gehört gewiß zum Inventar sämtlicher "Flügel" der Partei. Wir nennen diese Anschauung den natürlichen Nationalis-mus. Das ist das Recht und die Pflicht der nationalen Selbstbestimmung, der Erhaltung der Culturgüter der am deutlichsten durch die Sprache zusammen gehaltenen Stammeinheiten. Wie solcher Nationalismus der eigenen Nation das Recht auf sich selbst einräumt und deshalb in der Wehrhaftmachung des gesamten Volkes den notwendigen Schutz gegen fremde Gelüste erblickt - Volks-heer, nicht Militarismus, Castenheer fordert dieser Nationalismus -so räumt er auch den anderen Nationen das Recht der Selbst-Bestimmung ein. Deshalb erklärt er jede nationale Unterdrückung für einen Hohn auf echte nationale Gesinnung. Darum bleibt aber dieser Nationalismus keineswegs auf trage, passive Verteidigung beschränkt. Seine Sehnsucht ist, mit den Culturgedanken des eigenen Volkes die Welt zu erfüllen und in friedlichem Wettbewerb zu erobern, daneben streben seine Arbeitserzeugnisse auf dem Weltmarkt, deren siegreiche "kleinkalibrige" Waffen Güte und Wohlfeilheit heißen.

Der so bestimmte Nationalismus hat einmal nichts zu thun mit dem läppischen Nationalismus, der sich in den Ruhmesthaten glorreicher Vergangenheit räkelnd sonnt und jeder anderen Nation ein paar verachtungsvolle Unehrentitel anhängt, nichts mit der nationalen Unterdrückungssucht, die mit der Kanone sich die Plätze auf der bewohnten Erde herausschießt, aber auch nichts mit dem Staatsnationalismus, der an sich verschiedene Nationen zu einem einheitlichen staatsrechtlichen Organismus zusammenschließt. Das Deutsche Reich bedeutet in diesem letzteren Sinne eine Nation, während es in dem natürlichen Begriff des Nationalen mit seinen Polen, Dänen, Franzosen usw. keine nationale Einheit darstellen würde. Gesellt sich der Staatsnationalismus mit jenem natürlichen Nationalismus, so wird auch der radicalste Flügel der Socialdemokratie nichts gegen eine derartige Nationalgesinnung einzuwenden haben, die sich mit der Internationalität nicht nur verträgt, sondern sie als notwendige Ergänzung und Erweiterung fordert.

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Naumanns Nationalismus jedoch ist nur ein Gemisch von allen vier, zum Mindesten aber der ersten, dritten und vierten Art des Nationalbewußtseins. Schon daß er das natürliche Stammesgefühl ohne weiteres mit dem secundären Staatsnationalismus gleich setzt, ist bedenklich. Daß aber sein Nationalismus auf Unterdrückung und Vergewaltigung hinausläuft, wenn auch nicht gegenüber den Minderheitsnationen innerhalb der Reichsgrenzen, so doch gegenüber den Völkern außerhalb, führt zu dem Fundamentalirrtum dieser politischen Secte. Der Naumannsche Nationalismus enthält in seiner wirren Zusammenstückelung kaum mehr etwas von seinem ursprünglichen natürlichen Begriff er ist vielmehr die abstracte Bejahung des in die Offensive gerückten Deutschen Reichs. Ein wild gewordener dürrer staatsrechtlicher Begriff - das ist Naumanns Nationalbewußtsein, wie sehr er auch versucht, durch Stammesgefühlslyrik über sein wahres Wesen zu täuschen. Naumann treibt die Politik des greater Germany, der Name "Deutsch" ist aber nur Zierat, der Dr. Sigl würde vom größeren Preußen, wenn nicht gar vom größeren Kassubien reden. Mit dem wirklichen Nationalgefühl hat jedenfalls solche Politik nichts mehr zu thun. Eine politisch-wirtschaftliche Organisation will um die Erweiterung ihrer Macht kämpfen, indem sie die nationale Selbständigkeit anderer Völker nötigenfalls gewaltsam zu unterdrücken versucht. Diese Politik ist antinational in dem Ursinn des Begriffs. Man scheide also füglich das Wort "national" ganz aus und stelle fest, daß Naumann, wenn nicht als Daseinszweck so doch als Notwendigkeit den Kampf der Staatsmacht um die Herrschaft der Erde proclamiert - auf Kosten des Nationalen. Militarismus und Marinismus erweisen sich damit als unumgängliche Lebensbedingungen der Mächte, der innerhalb des Deutschen Reiches lebende Kaufmann wünscht zur Sicherung seines Exporthandels möglichst zahlreiche Kriegsschiffe und der außerhalb der Grenzen lebende Reichsangehörige erst recht. Von dem gleichen Wunsch sind natürlich die Händler aller anderen Mächte beseelt, und schließlich prallen die Staaten in Africa aneinander, um Reserveplätze - wenigstens in der Phantasie - für ihre Angehörigen zu behaupten. Der Kampf entscheidet, in dem zwar nicht der Stärkste aber

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das raffinierteste Mordinstrument Sieger sein wird. Denn das Gesetz der natürlichen Auslese erscheint in der modernen Staatenbalgerei zur Fratze verzerrt als die unnatürliche Auslese durch Pulver und Blei.

Aus zweierlei Motiven tritt Naumann für diese kleinkalibrige Politik ein, einmal aus romantischen Weltmachtsträumereien, sodann aus wirtschaftlichen Erwägungen.

Romantik ist der Weltmachtswahn genau so wie die Phantasieen eines Novalis am Anfang des Jahrhunderts über die Wiederherstellung der deutschen Mittelalter-Herrlichkeit. Man will Tote auferstehen lassen, man glaubt die Geister von Verstorbenen citieren zu können. Weltmächte, die ausbeutende und vergewaltigende Suprematie eines Stammes, einer Dynastie über zahllose heterogene Nationen, charakterisieren Altertum und Mittelalter. Die Neuzeit wird gerade bezeichnet durch die Ueberwindung der brutalen Weltmachtpolitik durch das Absterben der colonialen Herrlichkeit. Wir stehen am Ende nicht am Anfang der Colonialpolitik. Cuba ist solch ein colonialer Todeskampf. Die Neuzeit drängt zu frei nebeneinander stehenden individualisierten Völkern, die sich zu Culturgemeinschaften zusammenschließen, um sich gegen tiefer stehende Völker zu schützen. Die Beseitigung der Völker-Sclaverei ist ebenso im Willen der Neuzeit wie die Abschaffung der Einzelsclaverei. Wer den Sinn unserer Zeit erfaßt hat, der arbeitet auf eine Culturgemeinschaft hin, welche zum Mindesten die europäischen Staaten, mit Ausnahme Rußlands, und America gesellt. Gerade weil die modernen Colonisationsversuche dem Geist unserer Zeit widersprechen, versagen sie so kläglich und saugen das Blut ihres Erzeugers.

Nun blicken alle unsere Weltmachtromantiker auf England, das gewaltige England. An dieser Weltmacht haben sie sich sämtlich versehen, und ihre Hirnsprößlinge zeigen übereinstimmend englische Muttermale. Aber gerade in England haben Politiker, die mit unseren Nationalsocialen manche Aehnlichkeit haben, die beispielsweise Agrarsocialisten sind, sich gründlich von dem gleißenden Weltmachtswesen abgewendet. In einem Aufsatz, den jüngst Karl Peters veröffentlicht hat, findet sich in einem Kehrichtkasten voll Gedanken-

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gerümpel eine gescheite Idee. Da Karl, der Pionier, in einer Fußnote sich auf die Anregungen seines "Freundes" Gerlich beruft, vermuten wir, daß gerade dieser Lichtgedanke zu den Anregungen gehört. Peters oder Gerlich führen nämlich aus, daß es falsch sei, zu sagen, England habe sich aus einem Agrarstaat in einen Industriestaat verwandelt. Es habe bereits eine dritte Staffel erklommen: den reinen Capitalistenstaat. England ist nur noch der große Geldhändler und Zinsnehmer. *) Das aber heißt nichts anderes, als daß England in dem Augenblick ein Nichts ist, in dem die Schwindelherrlichkeit des Capitalismus zusammenstürzt. Eine Hand voll Leute thront auf ihren entwerteten Geldstücken, und die ausgepowerten Massen versuchen in krampfhafter Hast den Ackerbau und die Industrie wieder zu beginnen, die beiden werteschaffenden materiellen Arbeitsformen der Menschheit. In England hat man in socialistischen Kreisen bereits scharf das Unheil erkannt, das in der Vernichtung der Landwirtschaft durch die industrielle Exportpolitik liegt. Man predigt laut genug die Rückkehr zum Agrarstaat. Aber vielleicht zeigt sich in den leidenschaftlichen Klagen über die Concurrenz des made in Germany schon auch das keimende Bewußtsein dafür, daß die capitalistische Weltmachtpolitik auch die Industrie bereits zu verwüsten beginnt. Jedenfalls ist, abgesehen davon, daß romantisierende Nachahmungen in der Geschichte überhaupt verpönt sind, England in Hinsicht der Weltpolitik kein lockendes Vorbild. Ihm wandelt sich alles in Gold, das scheint heute herrlich, bald aber wird es hungern.

Das zweite Motiv der Naumannschen greater-Germany-Politik gebärdet sich realistisch-nüchtern: Deutschland braucht Colonieen, um die überschüssige Bevölkerung unterzubringen. Das Gespenst der Uebervölkerung! Leuchten wir dem Spuk mit einem kleinen Sturmstreichhölzchen ins Knochengesicht!

*) Die englische Staatsschuld beträgt gegenwärtig 13139978820 Mark, also mehr als 13 Milliarden. Von dieser Staatsschuld wurden 12 Milliarden binnen 24 Jahren (von 1796 bis 1820) contrahiert. Daß das kleine England allein diese Riesensummen zu verzinsen vermag, beweist allerdings, daß England nichts ist als ein gewaltiger Capitalist. der so viel Zinsen bezieht, daß er auch seine eigenen Zinsen bezahlen kann.

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Für Naumann ist die expansive, colonisierende Nationalpolitik nicht nur ein schönes Ideal, sondern eine harte Notwendigkeit. So wenigstens sucht er sein neues Gewissen gegenüber den noch immer in ihm herrschenden Instincten seiner nationalliberalen oder gar conservativen Rassenabstammung zu rechtfertigen. Deutschland, so argumentiert er in der bekannten Weise, nimmt jährlich an Bevölkerungszahl zu, in so und so viel Jahren wird das Reich statt 50 100 Millionen zählen, die wir nicht mehr ernähren können. Deshalb brauchen wir das größere Deutschland, in das die überschüssige Volkskraft abfließen kann, und das wir natürlich mit Heer und Flotte erobern und erhalten müssen.

Wir kennen alle das Lied von der Uebervölkerungsgefahr, die in dem Malthusianismus ihren crassesten Ausdruck gefunden hat. Nur sollte die längst überwundene Irrlehre, die schlimmer als der finsterste Aberglaube gewirkt hat, nicht noch als Fundamentalprincip einer neugebildeten Partei verwendet werden dürfen.

Kaum eine andere Lehrmeinung ist so leichtsinnig und beweislos in die Welt gesandt worden, und selbst der anarchistische Wahnsinn ist nicht so verderblich wie dieser Malthusianismus. Mit ihm verteidig^ man die unsittlichsten Mittel der Rassenverschlechterung, das Fortwuchern socialer Organisationsgebrechen, den Krieg und vielleicht auch - es wäre die einfache Consequenz - die Cholera und die Beulenpest. Und doch ist kaum eine andere Lehre von den Thatsachen so unzweifelhaft Lügen gestraft worden, wie die über die drohende Uebervölkerung.

Es ist schon grenzenlos frivol, daß man von der Uebervölkerung redet, ohne jemals zu verraten, wo eigentlich der Begriff Uebervölkerung beginnt. Ueber die behauptende Phrase kommt man nie hinaus. Von einer Uebervölkerung der Erde darf man doch wohl erst reden, wenn es thatsächlich an Raum zum Wohnen, an Nahrungsmitteln und Industrieproducten fehlt. Was den Raum anbelangt, so werden für die nächsten Jahrtausende die Menschen auch bei einer Kaninchenfruchtbarkeit noch recht bequem unterzubringen sein: die paar Lebewesen, die heute die Menschheit der Erde bilden, finden

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ja, auf einem Quadrat über der Linie Marburg-Gießen nebeneinandergestellt, reichlich Platz. Und was die Production anbetrifft, so ist es eine hübsche Satire, daß hundert Jahre nach Malthus' Essay on the principles of population der Popanz der Ueberproduction, d. h. des Nichtverbrauchs der erzeugten Güter durch die Menschheit, schreckhaft umgeht. Wir haben - anscheinend! - zuviel Getreide, zuviel Industriewaren. Die allzu billigen Getreidepreise bilden einen Hauptfactor in der Politik aller Länder, und der allzu üppigen industriellen Zeugungskraft sucht man durch Productionseinschränkungen in ihren preisdrückenden Wirkungen zu begegnen. Dieser Warenmalthusianismus ist der vernichtende Gegenbeweis wider den Menschenmalthusianismus.

Aber nicht nur für die Erde in ihrer Gesamtheit sondern auch für die Völker in ihrer nationalen Begrenzung ist die Frage der Uebervölkerung gar kein ernst zu nehmendes Problem, wenigstens für die nächsten Jahrhunderte nicht. In der bisherigen Weltgeschichte ist nie die Uebervölkerung, sondern die Entvölkerung eine drängende Lebensfrage gewesen. Rom in der alten und Frankreich in der neuen Geschichte zeigen diese Gefahr. Jede übergroße Anpassung an die jeweiligen socialen Bedingungen nach Malthus' Recept, das ja auch die persönliche Selbstsucht, Faulheit und Eitelkeit besonders gern sich verschreiben läßt, ist mit den schwersten Gefahren für die nationale Gesundheit verknüpft. Das ist eben das Verhängnisvolle des Uebervölkerungswahns, daß man lieber auf die unnatürlichste Weise an der Volkskraft sündigt, statt die schädigenden socialen Bedingungen zu ändern. Wenn man heute liest, daß in Frankreich 400000 Frauen amtlich bekannt sind, die es dem Fortschritte der Chirurgie verdanken, daß sie unfehlbare Jüngerinnen Malthus' sind, so ist diese grauenhafte Verwüstung die Wirkung desselben Aberglaubens, der uns lehren will, in einer tollen aussichtslosen Colonialpolitik kostspielig-wertlose Abzugscanäle für den angeblichen Bevölkerungsüberschuß anzulegen.

Wir wissen garnicht, wie der Zustand aussehen möchte, der mit Recht Uebervölkerung genannt werden könnte, weil es eben nie ein Volk gegeben hat, das an solcher Hypertrophie gelitten hätte.

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Wir vermögen auch für die Zukunft solchen Zustand uns nicht vorzustellen, weil unsere Entwickelung anscheinend in entgegengesetzter Richtung verläuft, derart, daß die Völker nicht verbrauchen, was ihnen Natur und Arbeit in verschwenderischer Fülle zur Verfügung stellt. Natürlich ist diese Ueberproductionslehre nicht minder falsch wie die Uebervölkerungslehre. Ein tiefer liegender wirtschaftlicher Organisations- und Constructionsfehler verschuldet vielmehr das, was oberflächliche Köpfe als Uebervölkerung oder im Widerspruch dazu als Ueberproduction empfinden.

Daß in der That die Uebervölkerung nichts zu thun hat mit den wirtschaftlichen Notständen, ist schon durch die eine Erwägung hinlänglich bewiesen, daß in den dünn bevölkerten Ländern, wie Rußland, Armut und Elend weit größer ist als etwa in dem "übervölkerten" Holland. In früheren Zeiten waren auch in dem viel dünner bevölkerten Deutschland Hungersnöte ein chronisches Uebel, während heute diese Epidemie unbekannt ist, obwohl wir angeblich bereits an einem Menschen-Ueberschuß leiden sollen. Sociale Uebel sind die Folgen mangelhafter, widersinniger nationaler und internationaler Wirtschaftsformen. Wir haben nicht zu viel Menschen, sondern eine unseren Productivkräften nicht angepaßte wirtschaftliche Verfassung. Raum für alle hat die Erde, heute mehr denn je, nur reicher und unerschöpflicher werden stets ihre Gaben. Wir verstehen die Ueberfülle nur nicht fruchtbar zu machen für die kleine, störrische Menschenwelt. Trotz Prof. Sombart und Naumann haben wir heute keinen Kampf um die Futterplätze der Erde mehr nötig, und wer so denkt, ist im Nomadenzeitalter stecken geblieben. Der Kampf, wie er gepredigt wird, würde nur die reichen Futterplätze verwüsten. Es ist eine Culturgefahr schlimmster Art, wenn wir die natürlich-menschlichen Lebensbedingungen der Anpassung an unnatürliche Wirtschaftsbedingungen opfern. Wir würden die gleiche Thor-heit begehen, wie Leute, die ihre Füße verkrüppeln lassen, weil einsichtslose Fabrikanten nun einmal Spitzenschuhe produciert haben. Die Schuhe haben sich nach unseren Füßen zu richten, nicht umgekehrt. Die socialen Bedingungen müssen wir nach den Bedürfnissen der Menschen umformen, nicht die Menschen jenen zu Liebe verzwergen.

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Der Uebervölkerungswahn schafft in Wahrheit die Entvölkerungs- und physische Entartungsgefahr. Daß sich die Großhändlerpolitik, die mit Staatsmitteln ihren Profit zu steigern wünscht, auch auf jene längst überwundene Theorie beruft, um die schnöde Selbstsucht der ihren Interessen angepaßten Colonialpolitik "idealistisch" zu verputzen, ist nicht wunderbar. Unverständlich bleibt es aber, wie radicale Socialpolitiker, zu denen doch Naumann gehören will, dieses Hexeneinmaleins des brutalsten, selbstsüchtigen Großcapitalismus in ihre Rechnungsweisen gläubig einführen. So sind die Nationalsocialen eigentlich nicht als inconsequente Nationalliberale, die gegenüber diesen Leuten noch den Nachteil haben, daß sie deren ideologische Gaukeleien, an die jene selbst nicht im Mindesten glauben, für echte Wahrheiten nehmen.

Die Anschauungen Naumanns unterscheiden sich in Nichts von den üblichen, antiquierten liberalmanchesterlichen capitalistischen Marktmeinungen, die dadurch nicht besser werden, daß sie mit allerlei Mysticismen feudal-klerikaler Art ausgeputzt werden. Auf dieses ehrwürdig-wacklige Gebäude wird nun plötzlich unvermittelt die rote Fahne gehißt, die den entschiedensten Socialismus künden Der Naumannsche Zickzackcurs im Denken erreicht damit die Grenze, wo der Schiffbruch unvermeidlich ist.

Naumann ist ein so radicaler Socialist, daß er selbst die Notwendigkeit des allen Gemütssocialisten verhaßten Classenkampfs anerkennt. Mit einem seiner kecksten Gedankensprünge hat Naumann eine Inconsequenz der socialdemokratischen Theorie darin zu ertappen gemeint, daß diese Partei zwar national den unerbittlichen Classenkampf proclamiert, im Verhältnis der Völker zu einander aber sich weichlich-verschwommenen Weltfriedensträumereien hingäbe, während folgerichtigerweise auch zwischen den Völkern frisch-fröhlicher Kampf herrschen müsse. Wir wollen es nicht weiter aufmutzen, daß der allerchristlichste Naumann hier dem manchesterlichen Kampf-ums-Dasein-Princip in seiner brutalsten Form ein wenig stark zu huldigen scheint. Für ihn ist, so sieht es aus, der Classenkampf Selbstzweck, während er für die Socialdemokratie nur ein Mittel zum Zweck ist, das gerade durch sich selbst überwunden werden soll.

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Naumann hat sich eben noch nicht befreit von der liberalen "Kampfes"-lyrik, ihn berauscht noch das allgemeine Wort mit seinem germanischen Heldenklang und seinen Heilswirkungen der natürlichen Auslese, während alles darauf ankommt, zwischen Kampf und Kampf zu unterscheiden: Ein anderes ist es, durch das Kleinkalibrige, ein anderes durch die Hungerpeitsche, ein anderes durch die Idee zu kämpfen. Kampf an sich ist ein leeres Wort, die Waffe schafft erst verschiedene Kampfbegriffe gegensätzlichster Art, die selbst miteinander unversöhnlich ringen.

Doch dies nur beiläufig. Die Hauptsache ist: Wie ist es möglich, daß ein so gescheiter Kopf wie Naumann den Nonsens wagt, zu behaupten, die folgerichtig notwendige Ergänzung des Classenkampfes sei der - nationale Volkerkampf. Naumann überflügelt mit dieser Meinung jenes Ideal des braven Achtundvierzigers, der eine Republik mit dem Großherzog an der Spitze wünschte. Naumann würde den Großherzog als die logische Consequenz der Republik bezeichnen, und einen Präsidenten für einen logischen Principbruch erklären. Es ist nicht unsere Sache, die Proclamierung des Classenkampfes, zu dem sich Naumann bekennt, zu billigen oder zu mißbilligen, wir wollen nur die innere Zerfahrenheit der national-socialen Programmklitterung darlegen. Naumann bekennt sich zum Classenkampf, indem er ihn - aufgiebt.

Das Princip des Classenkampfes im socialdemokratischen Sinne bedeutet die Anschauung, daß es gegen die Uebermacht des ausbeutenden internationalen Capitals nur ein Mittel gebe, die inter-nationale Organisation der Ausgebeuteten. Der Classenkampf von oben kann und soll überwunden werden durch den Classenkampf von unten. Sich zum Classenkampf zu bekennen, heißt demnach auch andere Kampfformen des Völkerlebens abzulehnen. Confessionelle, nationale, rassenhafte Streitigkeiten sind nach socialdemokratischer Meinung nur Mittel der herrschenden Classen, sich in ihrer Macht zu behaupten und zu erhöhen. Classenkampf bedeutet also die Ausschließung gerade dieser Streitigkeiten, insonderheit die des Volkerkampfes. Proletarier aller Länder vereinigt Euch! es giebt nur zwei Nationen in der Welt: die Reichen und die Armen - in diesen und anderen unzwei-

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deutigen Formeln kennzeichnet sich das Wesen und die Tendenz des Classenkampfs. Die Socialdemokratie muß mithin aus dem Princip des Classenkampfes heraus zur Ablehnung der nationalen Kämpfe gelangen, die Naumann, der verirrte und verbogene Manchestermann, nicht missen will. Er findet das unlogisch - das ist traurig für ihn.

Naumann steht im Classenkampf auf der Seite der Schwachen, in Wirklichkeit thut er aber sein Möglichstes, um - immer in seiner Classenkampfanschauung gesprochen - die Partei der Starken zu schützen. Wer das Princip des Classenkampfes vertritt und versteht muß die Ansicht haben, daß die herrschenden Classen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel aufwenden, um sich in ihrer Herrlichkeit zu erhalten. In der That ist niemals in der Weltgeschichte eine herrschende Classe mit solchen Schutz- und Wehrmitteln ausgestattet gewesen, wie die im Zeitalter des Capitalismus. Nicht nur die fast unüberwindliche immanente Kraft des Capitalismus steht den Herrschenden zur Seite, sondern auch die Staatsorganisation ist ihren Zwecken angepaßt. Was man früher kaum gewagt hätte, in düsteren Stunden politischer Verzagnis heimlich ganz leise zu sich selbst zu sagen, wird ja jetzt offen und so oft ausgesprochen, daß man sich bereits trotz des Grauenhaften an die Vorstellung zu gewöhnen beginnt: Das Heer ist gegen den inneren Feind bestimmt. Herr Naumann, der den Militarismus nicht ablehnt, scheint also im Classenkampf auf der Seite des - Capitals zu stehen.

Wir sehen davon ab, daß sociale Bemühungen um Individuen und nationale Schichten höchst gleichgiltig sind, wenn die Nationen m ihrer Gesamtheit den Launen des Kleinkalibrigen ausgesetzt werden. Herr Naumann gleicht mit diesem - von Prof. Förster treffend so genannten - Kanonensocialismus jenem "frommen" Mann in Tolstoys "Macht der Finsternis", der sein Kind noch schnell tauft, ehe er es unter einem Brette zerdrückt. Er sorgt für unser körperliches Heil und liefert dann den also gepflegten Organismus den Kanonen aus. Wozu erst die socialen Vorbereitungen, wenn wir dann national untergehen sollen; denn Naumann wird doch wohl nicht dem Fatalismus huldigen, als ob gerade Deutschland gegen die Launen des herrlichen Völkerkampfes gefeit sei.

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Aber Naumanns "Nationalismus" verträgt sich nicht nur nicht mit dem Classenkampf, er verträgt sich überhaupt nicht mit der bescheidensten socialen Reformthätigkeit. Er redet einer mit Heer und Flotte geschützten Colonial- und Exportpolitik das Wort, damit Deutschland im freien Wettbewerb die Völker überflügele, wenn nicht gar niederzwinge. Gewiß, Deutsche im Auslande lassen sich wohl durch Kriegsschiffe schützen, deutsche Güter aber erobern nur die Welt, wenn sie neben der Gediegenheit sich durch Billigkeit auszeichnen, wenn also entweder der deutsche Fabrikant auf eigenen Gewinn verzichtet und um Gotteslohn die Herrlichkeit des deutschen Namens verbreitet, oder wenn er die Productionskosten möglichst niedrig hält. Unnötig zu sagen, daß die erste Eventualität nur satirisch gemeint sei. Und nun denke man sich Herrn Naumann zu einem Industriellen kommen, um ihn für seine Ideen zu gewinnen. Es würde sich folgendes Zwiegespräch entspinnen:

Naumann: Wir vertreten die Politik der Macht nach außen.

Der Fabrikant (lebhaft): Ausgezeichnet.

Naumann (wärmer): Wir wollen, daß die deutsche Industrie die Welt erobere.

Der Fabrikant (entzückt): Bravo ! Was nur der Stumm über Sie gefabelt hat...

Naumann: Wir fordern ein starkes Heer...

Der Fabrikant (berauscht): Edler Mann. Haben Sie Ihre

Mitgliedsliste bei sich?

Naumann: Und eine größere Flotte...

Der Fabrikant (ihn umarmend): Ich werde lebenslängliches Mitglied Ihrer Partei.....

Naumann: Coalitionsfreiheit und Organisation der Arbeiter....

Der Fabrikant (stutzig): Waas ?

Naumann: Höhere Löhne...

Der Fabrikant (erregt): Waaaaas?

Naumann: Achtstundentag....

Der Fabrikant (mit einer wütenden Handbewegung): Aber mein Herr, zum Teufel mit Ihrer Partei, Sie wollen mich foppen!

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Sie versprechen mir, daß ich auf dem Weltmarkt meine Erzeugnisse mehr wie bisher absetzen soll, und machen mich durch Ihre social-demokratischen Arbeiterforderungen concurrenzunfähig. Wie kann ich mit höheren Löhnen und dem Achtstundentag aus dem Weltmarkt concurrieren.......

Wir wählen einen besonders höflichen Fabrikanten. Unhöflichere Leute würden den national-socialen Grundwiderspruch derber benennen.

Man wird selten in der Geschichte Parteibildnern begegnen. deren gute Absichten, Willensenergie, Geschicklichkeit und Tapferkeit man so herzlich anerkennen kann, und deren Principien man doch wegen ihrer gefährlichen Unklarheit und Inconsequenz so schroff ablehnen muß. Die politische Hygiene erfordert es gebieterisch, daß die Wirrnis unserer Zeit nicht durch solche Zwitterbildungen noch gesteigert werde.