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Neben dem Socialismus

I.

Talarsocialismus

(1893.)

In demselben Jahre, in dem der Socialdemokratie durch das Socialistengesetz Gelegenheit gegeben wurde, am Hemmenden zu wachsen und zu reifen, begründete Herr Hofprediger Stöcker die christlich-sociale Partei zur Bekämpfung des geknebelten Totfeindes. Es war der alte Wahn; man wollte den Gegner vernichten, indem man das "Berechtigte" seines Strebens für sich annectierte.

Die christlich-sociale Partei beabsichtigte "die Verringerung der Kluft zwischen Reich und Arm, und die Herbeiführung einer größeren ökonomischen Sicherheit." Der Geistlichkeit wurde "die liebevolle und thätige Teilnahme an allen Bestrebungen, welche auf eine Erhöhung des leiblichen und geistigen Wohls, sowie auf die sittlich-religiöse Hebung des gesamten Volkes gerichtet sind, " zur Pflicht gemacht. Die Besitzenden wurden zu einem "bereitwilligen Entgegenkommen gegen die berechtigten Forderungen der Nichtbesitzenden, speciell durch Einwirkung auf die Gesetzgebung, durch thunlichste Erhöhung der Löhne und Abkürzung der Arbeitszeit" haranguiert.

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Die christlich-sociale Partei war conservativ und reactionär. Trotzdem hat es von Anfang an nicht an conservativen Stimmen gefehlt, die das Programm bereits arg socialdemokratisch fanden. In der That gingen bald die Teilnehmer der christlich-socialen Theeabende in Scharen zu der Socialdemokratie über. Selbst der Antisemitismus, mit dem der Dünnthee für die gröberen Nerven alkoholisiert wurde, war auf die Dauer nicht wirksam. Die ewige Aussicht auf den Himmel, als höchste Versicherungsanstalt gegen Alter und Invalidität, wurde den Leuten zu eintönig - man war ja Berliner - und so hatte Herr Stöcker schließlich Soldaten für den Feind geworben und gedrillt.

Seit dem Jahre 1878, dem Jahre des Socialistengesetzes und der christlich-socialen Partei, hat sich die Sozialdemokratie zur stärksten und gefürchtetsten politischen Macht entwickelt, und die christlich-sociale Partei hat es lediglich zu einem evangelisch-socialen Congreß gebracht, auf dem eifrig und ernstlich gesonnen wird, wie Leuten zu helfen sei, die schon längst darauf verzichtet haben, daß ihnen von oben geholfen werde. Ein paar Jahre noch, so wird die Tagesordnung der redlichen Fürsorger nicht lauten: "Wie helfen wir ihnen?", sondern: " Wie helfen wir uns?"

Ja, es ist noch schlimmer gekommen für den Gründer der christlich-socialen Partei. Die Herren werden aus ihrer eigenen Schöpfung herausgedrängt. Die Sozialdemokratie wächst selbst in den evangelisch-socialen Congreß hinein.

Das war das wichtige Ergebnis des vierten evangelisch-socialen Congresses, der in den ersten Tagen des Juni zu Berlin versammelt war. Noch zwar bilden die Alten das Uebergewicht, aber schon regen sich die Jungen. Die Evangelisch-Socialen werden bedrängt von den Social-Evangelischen. Der Uebergang eines Teiles der Geistlichkeit zur Socialdemokratie, der von scharfen Beobachtern der Gegenwart schon seit einigen Jahren bemerkt wird, ist bereits jetzt innerlich Thatsache geworden. Nur die Socialdemokratie selbst macht den Ueberläufern mißtrauisch Schwierigkeiten. Die Kirche ist ihr ebenso verdächtig wie die Bourgeoisie; sie glaubt nicht an ihre ernsten Absichten.

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Ganz in altem Stil war der Vortrag des Herrn Professor Kaftan-Berlin. Er sprach über "Christentum und Wirtschaftsordnung", und seine Erörterungen liefen auf Resolutionen zu Gunsten der Einführung des Himmels hinaus. Das Wirtschaftliche ist ihm in Anbetracht der kurzen Dauer des zeitlichen Lebens ein Nebensächliches. Das ewige Heil liegt ihm mehr am Herzen, als das tägliche Brot, das der besoldete Theologe ja als Gottesgabe stets vorrätig findet. Die "Leitsätze" des Herrn Professors lauteten:

I. 1) Christliche Religion und wirtschaftliches Leben sind an und für sich getrennte Gebiete. Mit jener ist es auf das ewige Leben in Gott, mit diesem auf die zweckmäßige Befriedigung zeitlicher Bedürfnisse abgesehen. - 2) Das Christentum ist unabhängig von der Wirtschaftsordnung und mit jeder Form des wirtschaftlichen Lebens verträglich. Wiederum trägt dieses seine eigenen Gesetze in sich, durch die es dem Christentum selbständig gegenübersteht.

II. 1) Christliche Religion und wirtschaftliche Arbeit treten auf dem Boden des sittlichen Lebens notwendig in innere Berührung und Wechselwirkung miteinander. Nach christlichem Verständnis giebt es kein ewiges Leben in Gott ohne sittliche Erziehung und sittliche Bethätigung, während die Ordnungen des wirtschaftlichen Lebens ihrerseits das sittliche Handeln sowohl bedingen als dadurch bedingt werden. - 2) Es ist Christenpflicht, die Wirtschaftsordnung so zu gestalten, daß sie eine Grundlage für die Pflege der sittlichen Ideale des Christentums bietet. - 3) Gegenüber der heute bestehenden Wirtschaftsordnung führt diese Pflicht sowohl zur Verteidigung ihrer wesentlichen Grundgedanken gegen Umsturzgelüste, als zu einschneidenden Forderungen mit Bezug auf ihre Umgestaltung.

Ich gestatte, dem Setzer ausnahmsweise, diese Thesen mit Druckfehlern zu schmücken. Sie können nur gewinnen. Anzuerkennen ist es jedenfalls, daß die Herren mit ihrem strengen Dualismus von Himmel und Erde Ernst machen. Das hat der Candidat Wangemann bewiesen, der dem Congreß seine Leiden als freiwillig-arbeitsloser Handwerksbursche erzählte. Die Geistlichen warfen den Bittsteller einfach zur Thüre hinaus, da ja christliche Religion und wirtschaftliches Leben an sich getrennte Gebiete sind.

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Auch ein Alter ist der Hofprediger Braun-Stuttgart, der seinen Vortrag über "Die Annäherung der Stände in der Gegenwart" in folgende Thesen zusammenfaßte:

1) Thatsächlich vollzieht sich in der Gegenwart - im Anschluß an die rechtliche Gleichstellung und vermehrte persönliche Berührung eine Annäherung der verschiedenen Stände auf den Gebieten der allgemeinen Geistesbildung und der äußeren Lebenshaltung.

2) Aber diese Annäherung bleibt, wenn sie nicht auf festere und tiefere Grundlagen gestellt wird, eine ungenügende und widerspruchsvolle und hindert nicht die innere Entfremdung zwischen den Ständen und die Schärfung des Classenbewußtseins.

3) Eine wirklich wertvolle und fruchtbare Annäherung der verschiedenen Stände hat zu notwendigen Voraussetzungen

a. eine derartige Gestaltung der materiellen Lage für die Glieder aller Stände, daß jedem ein Gefühl der Sicherheit und Befriedigung ermöglicht und dem Neid wie dem Uebermut der Boden entzogen wird,

b. den innerlich verbindenden Besitz idealer, insbesondere religiöser Güter und Interessen,

c. Dichtung und Vertrauen als Grundton aller persönlichen Beziehungen.

4) Hiernach wird der Annäherung der Stände, wenn auch nur mittelbar, so doch um so gründlicher gedient

a. durch energische Thaten der socialen Reform,

b. durch Pflege der idealen Factoren in allen Ständen, insbesondere kraftvolle Bethätigung der christlichen Kirche und Seelsorge,

c. durch reichliche Anknüpfung und warme unermüdliche Pflege persönlicher Beziehungen, wie sie sich ungezwungen im täglichen Leben ergeben.

5) In zweiter Linie haben auch besondere Veranstaltungen, die unmittelbar eine Annäherung größerer, den verschiedenen Ständen angehöriger Kreise herbeiführen und zunächst auf geselligem Boden (durch Zusammenkünfte, Vereine, Feste) verwirklichen wollen, ihren Wert - insbesondere als Gegengewicht gegen Vereinsbildungen auf

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einseitiger Standesgrundlage - aber nur, wenn ihre Haltung von den in These 3 und 4 gezeichneten Gesichtspunkten bestimmt ist, und wenn alles Erkünstelte und innerlich Unwahre und alle übermäßige Betonung ihrer socialen Bedeutung vermieden wird.

6) in Bezug auf die Annäherung der Stände wie alle socialen Aufgaben der Gegenwart haben wir ohne Rücksicht auf den Erfolg unentwegt zu arbeiten in Pflichtgefühl und brüderlicher Liebe.

Es ist immer dieselbe Anschauung der Volksküchengnade und der Weihnachtsbescherung für arme Kinder. Man will beglücken, beschenken, und die Empfänger dieser edlen Gaben lehnen so höflich wie entschieden die zugedachte Ehre ab.

Das hat der Pfarrer Naumann, der tapfere und kluge Frankfurter, auch den Herren derb gesagt. Er führte nach einem Zeitungsreferat aus: Daß die behauptete Annäherung der Stände thatsächlich nicht vor sich gehe, zeige sich, sobald man die ökonomisch-statistischen Tabellen in die Hand nimmt. Die materielle Seite der Frage sei die Hauptsache, die "energischen" Thaten, die der Referent vor-beschlagen, reichen keineswegs aus. Der Bildungsausgleich dürfte nicht blos von oben nach unten gedacht werden, sondern auch von unten nach oben. Wenn der Referent die vermittelnde Thätigkeit der Geistlichen besonders betonte, so erinnere er daran, wie Männern wie Klein, Borchert, Quistorp eine solche vermittelnde Thätigkeit bekommen ist. Das angepriesene patriarchalische Verhältnis habe auch seine Schattenseiten in der Unterdrückung der Selbständigkeit der einzelnen Person. Schließlich habe er vermißt, daß bei Erörterung der Ständeunterschiede der Referent nicht dem ganzen, principiellen Recht des Ständegedankens nachspürte. Nach seiner Meinung gehöre Standesunterschied zu dem Rohmaterial, welches umgeschmolzen werden soll.

Ich bin der Meinung, daß Pfarrer Naumann, den übrigens auch die Socialdemokraten in Frankfurt am Main verehren, einer der wenigen Geistlichen ist, die ihre Zeit verstehen. Wenn Herr Stöcker höhnisch bemerkte, Herr Naumann stehe bereits im Jahre 2000, so ist das ein ungewolltes Lob. Niemand kann seine Zeit

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verstehen der nicht die Zukunft ahnt, der nicht bereits in ihr seine geistige Heimat hat. Nur aus der Distanz der Zukunft gewinnt man den Blick für die Gegenwart. Die Erscheinung des Herrn Naumann ist aber um dessentwillen besonders bemerkenswert, weil er gleichzeitig ein Erzieher und Bildner der Sozialdemokratie sein kann. Daß der Mann seine Genossen bekehren wird, ist ja so wie so fast ausgeschlossen. Nur den jüngeren Idealisten, die hinausdenken können aus dem Bevormundungschristentum, wird er ein Führer sein können. Wichtiger ist also der Einfluß, den er auf die Socialdemokratie vielleicht auszuüben fähig ist.

Die heutige Volksbewegung ist, abgesehen von ihrer zeitlichen politischen Krystallisation, eine Renaissance der Masse: ein dasein-frohes, geistig begehrliches Aufblühen der Millionen, welche die Geschichte bisher vergessen hat. In diesem Betracht ist die socialistische Bewegung eine Gegenströmung gegen die christliche. "Der Sklavenaufstand in der Moral" endigt in eine Herrenmoral der geadelten Masse.

Trotz des Gegensatzes aber besteht ein seelischer Bund mit der christlichen Bewegung. Jesus, der Lebensmüde, der sich nach erfülltem Untergange sehnt, wird zum Symbol lebensstarken Opfermutes. Jesus wird zum Befreier, zum Helden; man empfindet ihn, wie ihn Michel Angelo gemalt; ein trotziger Renaissancemensch, der zugleich milde sein kann und träumerisch und voll Liebe. Dieser Christus, den die alten Talarsocialisten nicht kennen, lebt im Volk und kämpft mit ihm. Vergebens, daß die geistlichen Besänftiger den wahren historischen Christus predigen. Aber der neue irdische Christus kann ein Mittler sein zwischen den neuen Weltgeistlichen und dem talarscheuen Volk. Der aufgeklärte Socialismus kann auf diese Weise den Tropfen romantischen Bluts gewinnen, dessen er Bedarf, wenn er die Herrschaft über die Gemüter behaupten will.

Socialismus und liberale Aufklärung haben an sich nichts miteinander zu thun. Daß die Socialdemokratie gleichzeitig das Programm der Aufklärung mit übernommen hat, ist eine zufällige Entwickelung. In der That setzt unsere heutige Socialdemokratie un-mittelbar die aufklärerische Bewegung des vorigen Jahrhunderts

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fort. Bis in die kleinsten Einzelheiten entspricht z. B. die Pädagogik eines Bruno Wille den Maximen der Philanthropen des 18. Jahrhunderts. Man ist für die Vernunft, für die Wissenschaft darin ist man gut nationalliberal. Aufsätze aus der Sonntagsbeilage der "Kölnischen" sind ja wiederholt als socialdemokratisch von kirchlicher Seite denunciert worden. Man haßt die Mystik; ein echter Socialist darf kein Kirchengänger sein. Dafür ist man Darwinist, obgleich diese Anschauung eher gegen als für die Socialdemokratie ausgespielt werden kann und ausgespielt worden ist. Kurz, die moderne Socialdemokratie ist durchtränkt von dem specifisch berlinischen Aufklärungsgeist, den einst die Romantik zu überwinden trachtete.

So wahr es aber ist, daß jede Lebensanschauung im Rationalismus wurzeln muß, ebenso wahr ist es, daß ihre Aeste sich breiten müssen in die blaue sehnsüchtige Ferne. Die Aufklärung darf nicht zum intoleranten Dogma werden. Es giebt ja wohl Socialdemokraten, die Goethes "Ueber allen Wipfeln ist Ruh" aus der pessimistischen Müdigkeit der absterbenden Bourgeoisie abzuleiten geneigt sind, die in den Märchen nach Classenkampf, in den Liedern nach Capitalismus spähen - aber es ist nun einmal so: wir haben auch eine Seele, eine unvernünftig schwärmende Seele. Auch die will ihr Recht haben. Es ist ein überaus großes Verdienst der Socialdemokratie, daß sie das Volk mit den Ergebnissen der Wissenschaft bekannt gemacht hat. Sie hat in einem Menschenalter mehr geleistet, als die Kirche in Jahrtausenden. Indessen die Socialdemokratie sollte nicht vergessen, daß diese Aufklärung an sich gar nichts mit dem Gedanken Des wirtschaftlichen Socialismus zu thun hat. Und darum sperre sie sich nicht gegen andere Seelen und Gemütsstimmung. Ein Tropfen aufgeklärten Berlinertums fort und dafür ein Tropfen des romantischen Socialismus der jungen Talarsocialisten von der Art des Pastor Naumann. Ich glaube, sie werden diesen Tausch nicht zu bereuen haben.