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Dieser Text erschien zunäst 1893. Unsere Wiedergabe stützt sich auf die im Sammelband "Taggeist - Culturglossen von Kurt Eisner", Dr. John Edelheim Verlag, Berlin, 1901 enthaltene Version.
 
Paginierung und Absätze wurden unverändert übernommen. Einfügungen durch (Klammern und Kursivschrift) kenntlich gemacht. Die Orthographie wurde beibehalten, offensichtliche Druckfehler bereinigt, Hervorhebungen erfolgen wie im Original durch gesperrten Satz.

Militarismus

(1893)

Dieselbe Welle, die den Rector Ahlwardt nebst etlichem mißduftigem Tang in den Reichstag geschwemmt, hat die Militairvorlage fortgespült und den Tag des Redens in die Nacht des Schweigens gebannt. Unterwegs wurde noch einer Partei, der freisinnigen, das Genick gebrochen. Es ist dieselbe Welle, wenn auch der Heilige von Friedeberg für die Vorlage seine arischarnswaldische Stimme abgegeben. Herr Böckel, der hessische Bauernführer, ist klüger; er schloß sich den Neinsagern an, weil er seine Wähler kennt. Auch das Centrum, sonderlich das süddeutsche, kennt seine Leute, und darum ist der Versuch des Freiherrn von Huene, mit einem coulanten Kundenrabatt an die verehrten aber heuer eigensinnig geratenen Wähler das Geschäft zustande zu bringen, elend gescheitert. In Süddeutschland hält man überhaupt den ganzen Militarismus für eine preußische Erfindung, und man kann an Biertischen Aeußerungen hören, wie: "Wenn's wieder losgeht, die Bayern gehen nicht mit", Aeußerungen, die darum nicht an Wert verlieren, weil sie gar so naiv sind. Und wie schreibt gar der "Vaterlands"Sigl? "Ein siegreicher Krieg wäre für Bayern das Ende." Das Ende, nämlich eine "königlichpreußische Provinz."

Dieselbe schmerzhaft eingewachsene Unzufriedenheit hat Ahlwardt gewählt und den Reichstag gesprengt. Man ist in der That über alle Maßen unzufrieden - wenn es auch vielleicht eine" unberufene" Unzufriedenheit ist, man ist mürrisch und verdrossen.

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und hat das Gefühl, als ob irgend so ein Probegastspiel des jüngsten Tages in Sicht sei. Herr von Bennigsen, der staatsmännische, hat nicht ohne Grund von dem wachsenden Pessimismus gesprochen, nur ist es nicht der Pessimismus Schopenhauers, noch weniger der Nietzsches (denn Friedrich Nietzsche ist trotz seines parlamentarischen Impresarios ein enthusiastischer Optimist), es ist der Pessimismus der Verhungernden, der Pessimismus der geplünderten Leiber und gemarterten Seelen. Und zu dem Pessimismus der schweren Not gesellt sich der Pessimismus des Uebermuts, die Unzufriedenheit der politischen Gourmands und Gourmets, der Vielesser und Feinschmecker, der Interessenwucherer und Feueranbeter. Diese Pessimisten aus wirtschaftlicher und ästhetischer Luxusgier scharen sich um Bismarck: Bismarck soll die Börse bessern, Bismarck soll die Industrie heben, die Landwirtschaft schützen, Bismarck soll die Blasiertheit der psychischen Lebemänner mit den aufregenden Emanationen genialer Großnatur aufgeißeln - ein politischer Braunscheidtist. Hätten sich nicht die Pessimisten des Uebermuts vor der Gewalt des Massenpessimismus gefürchtet, sie hatten sicherlich nichts dagegen gehabt, wenn der derzeitige Administrator der Reichsgeschichte, wenn Graf Caprivi mit seiner Vorlage zugleich explodiert wäre.

Die politische Bewegung wächst sich immer mehr zum politischen Banksturm aus, seitdem nicht mehr Ehrfurcht vor greiser Majestät Schweigen, die Uebermacht beglückten Thatmenschentums Bewunderung oder Unterwerfung gebietet. Die öffentliche Meinung, die keine fromme Scheu, keine Schwärmerei und keine gewaltsame Niederhaltung mehr bindet, wird zur Gegenregierung. Man will etwas anderes, etwas Neues, Heilendes und Lösendes. Nur heraus aus dieser Qual drückender Ratlosigkeit, nur heraus, um jeden Preis! Wir sind müde eures ewigen Begehrens, wir geben nichts mehr, macht was ihr wollt, aber laßt uns in Ruhe! Ihr schickt unsere Vertretung nach Hause? Gut! Wir waren schon so mit den Herren unzufrieden, und wir werden euch einen neuen Reichstag fabricieren, der euch zeigen wird, daß wir mehr sind als misera plebs contribuens. Das Opfer dieser verbitterten Stimmung ist die Militairvorlage geworden. Auch die innerlich widerstrebenden Volksvertreter haben

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nicht gewagt, dem Willen ihrer Wähler zuwider für die Heeresreform einzutreten. Die schönste Militairmusik vom starken, wehrhaften Vaterland vermochte nicht, die Leute in Tritt zu bringen. Nur eine Partei hat (von den kleineren Gruppen abgesehen) geschlossen gegen die Vorlage gestimmt, die Socialdemokratie; sie negiert die heutige Weltordnung, sie negiert vor allem das Hauptstück der "capitalistischen Schreckenskammer", den "Moloch Militarismus". Dieser Partei ist ein doppeltes Glück beschieden, das Glück des unermeßlichen Hoffens und das Glück des Wartenkönnens; denn sie ist die Partei der Jugendkraft. Sie sieht in religiöser Hoffnungsseligkeit ihren Tag kommen, nur sie darf sich bescheiden, nein zu sagen. Ebenso verständlich und folgerichtig ist es, wenn die Vertreter von Besitz und Bildung, die Rechte und die Nationalliberalen, für die Militairvorlage oder für den Antrag Huene sich entschieden haben; ist doch für sie das Heer die Garantie der neugermanischen Zwillingsformel "Besitz und Bildung", wenigstens ihres ersten Bestandteils. Uneinig sind die großen bürgerlichen Reformparteien gewesen, Centrum und Freisinn; sie ergaben sich schließlich in ihrer Majorität dem Willen ihrer Wähler. Ein Teil der Freisinnigen benutzte aber die gute Gelegenheit, sich von ihrem Fractionstyrannen Eugen Richter zu trennen, und man verdankt der neuen" Freisinnigen Vereinigung" einen Wahlruf, der sich auch stilistisch von dem Einfluß des Poeten der "Zukunftsbilder" löblich emancipiert. Herr Eugen Richter aber pactierte mit den süddeutschen Demokraten; der seit einem Menschenalter unbekehrte Manchestermann trank Brüderschaft mit den Leuten, die in wirtschaftlicher Beziehung einem möglichen Socialismus, einer Art von positivistischem Socialismus huldigen. Ueber diese Schwierigkeit half ihnen der unersättliche Haß gegen den Militarismus hinweg. Der Soldat ist eben der Jude dieser Volksmänner, er trägt die Schuld an allem Unheil; der Militarismus ist der Feind! Wer's nicht glaubt, ist ein Volksverräter und speculiert zum mindesten auf einen Lotteriecollecteurposten.

Keinen Augenblick zweifle ich, daß die Agitation der antimilitaristischen bürgerlichen Reformparteien den schönsten Erfolg haben wird, aber ebensowenig kann ich mir verhehlen, daß dieser Kampf

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gegen die Heeresreform demagogisch ist, weil er unfruchtbar ist. Eine Partei, welche die gegenwärtige Ordnung der europäischen Verhältnisse kennt und anerkennt, muß sich dem Militarismus beugen. Keine parlamentarischen Carpenterbremsen werden diese Entwickelung Europas hemmen. Die Haltung der Socialdemokratie heischt Achtung und Beachtung, weil sie consequent ist. Der Antimilitarismus der Reformparteien ist eine unnütze Halbheit. Mehr noch: In ihrer wilden Soldatenscheu vergessen sie ihrer eigentlichen Aufgabe, zu reformieren. Gerade jetzt hatten sie die Gelegenheit, eine Culturthat ersten Ranges zu verrichten. Sie hatten die Gelegenheit (da nun einmal Regierung und Volksvertretung nach dem Mercantilsystem mit einander verhandeln), der quantitativen Heerreform der Regierung die Forderung einer qualitativen Neuordnung des Armeewesens gegenüberzustellen und so eine Veredelung des Militarismus zu versuchen, die diese Institution dem wirklichen Fortschritt dienstbar gemacht hätte. Denn nicht der Militarismus an sieh ist der Feind, sondern der falsche Militarismus, wie er gegenwärtig auf Deutschland, auf Europa lastet. Möglich, wahrscheinlich sogar, daß jener Veredelungsversuch gescheitert wäre; dann hätte sich eben die Unmöglichkeit erwiesen, eine Reformation der europäischen Lage herbeizuführen. Es wäre aber ein heldenhafter Versuch gewesen, würdig wahrer Freiheitsmänner. Kann es denn ein schöneres Unternehmen geben, als einen Weg zu zeigen, wie diese übergewaltigen Summen an Kraft und Gut, die Europa dem Militarismus anscheinend zu keinem anderen Zwecke wie zur Selbstvernichtung geopfert, sich in fruchtbare Culturenergie verwandeln?

Es ist unbillig, einer Regierung zu verbieten, was jede Partei, sofern sie ans Ruder käme, - immer abgesehen von der Socialdemokratie - selber thun müßte. Es lastet auf Europa die Bannangst des Traums; man will ein Geleise übersteigen, strauchelt, und während man den Blitzzug grausend näher und näher kommen sieht, haftet man wie festgekettet am Boden, beraubt der Muskelkraft in ohnmächtigem Trotz; nur das Hirn gebiert in brennender, jagender Hast Rettungspläne, Fluchtgedanken, verzweifelndes Gehenlassen. Etwas von dieser Angststimmung lauert stets auf der Schwelle

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des europäischen Bewußtseins. Frankreich vergißt keinen Augenblick seine Revanche, und den furchtbaren russischen Bergsturz erwartet das bebende Europa als sein unvermeidliches Schicksal. Der große Weltkrieg der Zukunft reckt in seiner Höhle die Tatzen. Niemand, auch nicht die reichste Phantasie, vermag diese ungeheure Katastrophe, wenn nur in schattenhaften Umrissen, im voraus zu erkennen. Auch für den Krieg ist das patriarchalische Zeitalter vorbei. Er ist nicht mehr das unfreundschaftliche Abkommen zweier Fürsten, Dynastien. Man schickt nicht mehr ein paar bezahlte Leute hinaus, um die Sache zu erledigen. Der Krieg ist ein unübersehbares Riesenunternehmen geworden, von gewaltigen Dimensionen, das die Völker zerfleischt. Selbst der genialste Seherblick vermag nicht zu ahnen, wie sich der Zukunftskrieg gestalten wird. Nur Eines weiß man: Wir müssen alles an Soldaten aufbieten, was wir vermögen. Aus dieser einen Gewißheit entsteht das Rüstungsfieber, und diese sich gegenseitig in die Höhe treibenden Heeressteigerungen kennen nur eine Grenze, die physische Leistungsfähigkeit der Nationen. Erst mit dem Versiegen des Menschenmaterials ist der Vermehrung des Heeres ein Ziel gesetzt. Dieser Entwickelung an einem willkürlichen Puncte Halt zu gebieten, heißt einen Capitalisten auffordern, bei der ersten Million mit seiner Capitalsteigerung aufzuhören. Die Dinge müssen das Maximum ihrer Kraft erreichen, sie müssen sich erschöpfen, ihr Wesen verbrauchen.

Wie? So etwas vermag einer kalten Blutes hinzuschreiben? Diese Völker in Waffen sollen dann gegen einander anstürmen, sich zermalmen, daß nur Weiber, Kinder, Greise, Krüppel zurückbleiben?

Es ist nicht nötig, daß die Dinge diesen Gang nehmen, vorausgesetzt, daß der Militarismus sich seiner humanen Mission bewußt wird.

Der Militarismus, wie er sich heute darstellt, ist die radicalste Form des Communismus, die gedacht werden kann: eine casernierte Gleichheit, die bis zum ekelhaften Communismus der Leiber geht. Die Massenuntersuchung in einen Raum zusammengepferchter entkleideter Menschen, die das stimmungsvolle Vorbild zum soldatischen Patriotendrill bildet, ist wohl nur aus Versehen von den

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schamhaften Urhebern der lex Heintze nicht paragraphiert worden. Dieser Communismus aber ist durchsetzt mit rudimentären Ueberbleibseln einer absterbenden Feudalzeit. Der Bürger wird zum willenlosen, oft mißhandelten Sclaven einer Kriegercaste, die sich streng von den Civilisten scheidet. Das Heer beugt seinen eigentlichen Zweck, es wird aus einer Volkswehr zur Leibgarde privilegierter Mächte und Stände. Aus einem Hort nationaler Unabhängigkeit wird eine Schutzgruppe der unabhängigen Nationalen, d. h. der Mächtigen und Besitzenden. Soldatenspielerei und Soldatenschinderei schädigen die financielle, physische und ethische Gesundheit. Die militärische Pädagogik hat sich noch immer nicht losgelöst von der Ueberlieferung einer Zeit, da es galt, eine zusammengelaufene Horde von Söldlingen fürs Sichtotschießenlassen zu präparieren. Ein unöffentliches Gerichtsverfahren raubt dem widerwillig Soldat gewordenen Manne den letzten Rest von Rechtsglauben und Berufsfreude, von Selbstbewußtsein und Stolz.

Trotzdem der Militarismus heute noch aus der untersten Stufe seiner qualitativen, culturellen Entwickelung steht, darf man heute schon seine Vorteile nicht verkennen. Für eine hohe Zahl von Menschen bedeutet der Militairdienst eine sociale Erlösung (für sie wäre es freilich auch der Krieg, der den ewigen Kampf um das Sattsein beseitigt - ein Gewinn, der mit dem Leben nicht zu teuer erkauft ist). Die in äußerstem Elend isolierten, eingekerkerten Menschen zieht der Militarismus in eine von höheren Interessen als der primitivsten Notdurft beseelte Gemeinschaft. Der communistische Grundzug des Militarismus hebt die Niedrigen und zwingt die Bevorzugten zu einiger gerechten Demut. Der zu Uebungen eingezogene Großkaufmann, der feinem Hausdiener als seinem Vorgesetzten parieren muß - das ist kein ungewöhnliches Beispiel für die demokratisierende Tendenz des Militarismus. Dazu kommt die körperliche Selbständigmachung, die physisches Selbstvertrauen und entschlossene Gewandtheit schafft - ein spartanisches Element, das keinem Staatswesen fehlen darf, das nicht einer allgemeinen Gewebeerschlaffung und Herzverfettung verfallen will. Ueberdies liegt im Militarismus, je weiter er seine Fangnetze ausspannt, ein desto ernsterer, dringenderer

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Anreiz für die Regierenden, durch sociale Fürsorge die körperlichen Verheerungen, die der Industrialismus anrichtet, zu bekämpfen. Das Wehrinteresse verlangt Männer, während das capitalistische System Krüppel züchtet; der Egoismus des Militairstaats hemmt die Verwüstungen der wirtschaftlichen Anarchie. All das und noch mehr ließe sich schon jetzt zu Gunsten des gelästerten Militarismus einwenden.

Wie aber, wenn jene Humanisierung des Heerwesens eintreten würde, wenn ein volkstümlicher Militarismus unter fachmännischer, nicht aber ständischexclusiver Leitung erstehen würde, wenn die Armee wahrhaft das freie Volk in Waffen wäre, das keinen anderen Zweck mehr hätte, als die nationale Unabhängigkeit zu schützen? Dann könnte getrost jeder Wehrhafte ausgebildet werden, dann würde jeder Wehrhafte freudig sich den gewissenhaften und humanen Heerbeamten anvertrauen, dann wäre der Militarismus nichts als eine Hochschule für die körperlichwehrtüchtige Ausbildung des gesamten Volkes. Damit wäre der Fluch von dem Militarismus genommen, er wäre eine Institution, so segensreich, so fördernd für den culturellen Aufstieg, wie keine zweite. Zieht man die Consequenzen der allgemeinen Wehrpflicht, scheidet man alle rudimentären, entwickelungshemmenden Ueberbleibsel aus einer toten Epoche des Wehrsystems aus, so muß man zu diesem humanen Militarismus gelangen. Die Regierung hat in richtigem Instinct begonnen, den Gedanken eines pandemischen Militarismus auszuführen. Sie hat sich mit einem Factor der Idee begnügt, der Zahl. Es ist Aufgabe des Volks, zu zeigen, daß auch eine neue Art notwendig ist. Den reinen Militarismus wider den unreinen auszuspielen - auch das wäre eine Wahlparole, und nicht die schlechteste.

Natürlich würde man die Zeit der Ausbildung so kurz wie möglich bemessen müssen, damit die persönliche und staatliche Belastung auf das denkbar niedrigste Maß herabgedrückt wird. Damit ist die wirtschaftliche Seite der Frage berührt. Hier erheben sich die gewichtigsten Einwände gegen jede Vermehrung der Armeen; die Idee eines gesamten Volks in Waffen erscheint vollends wie heller Wahnsinn. Soll denn diese tolle Schuldenwirtschaft, die ja eigentlich eine geheime Enteignung des capitalistischen Besitzes bedeutet, ins

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Ungemessene wachsen? Sollen alle culturellen Aufgaben vernachlässigt werden, zu Gunsten des Militarismus? Soll das Volk in unerträglichster Weise mit Bluts und Gutssteuer bedrückt werden, Sollen wir ein Haufen von Soldatenbettlern werden? Nun, ich glaube, daß die Nationen jenen veredelten Militarismus tragen könnten, daß sie in ihm eine höchst productive Anlage haben würden. Von Grund aus geändert aber müßte die Verteilung der Lasten werden. Daß die Lasten des Militarismus heut vorzugsweise von den Unbemittelten getragen werden, ist keine Wahlphrase, sondern das Ergebnis mathematischer Operationen, und kann ebensowenig bezweifelt werden, wie daß es keine conservative und keine liberale Mathematik, sondern eben nur eine objective und allgemein giltige Mathematik giebt. Den privilegierten Classen ist der Militarismus eine Versorgungsanstalt, und von den vielen Millionen, die die Masse für den Militarismus aufbringt, fließt ein erklecklicher Teil schließlich in die Geldschränke der bevorzugten Minderheit, denn der Bedarf des Heeres, der die Millionen verschlingt, wird zumeist von den Großindustriellen, den Großhändlern gedeckt. Daß diese nackte Ungerechtigkeit beseitigt wird, das müßte eine Hauptaufgabe jeder Reformpartei sein. Eine allgemeine Reichssteuer, die in bisher unerhörter Progression nach oben wüchse, könnte etwa die Mittel liefern. Werden die patriotischen Hüter von Besitz und Bildung dadurch unzufrieden - nun, so beweisen sie, daß es keine Verleumdung mehr ist, wenn ihre Gegner und Neider ihren Patriotismus Ziffernmäßig begrenzen. Der Freiherr von Stumm hat das gefühlt und sich für seine Person zu allen Opfern bereit erklärt - zu allen? nun er wird nicht auf die Probe gestellt werden.

Nicht feilschen um die Zahl, nicht vergeblich kämpfen gegen eine Entwickelung, die nun einmal da ist, sondern umbilden, umschaffen, das scheinbar Verderbliche dem Fortschritt tributpflichtig machen - das wäre ein Ziel!

"Scheinbar? Wirklich scheinbar verderblich? Und was wird, mit Verlaub, dieser gereinigte, zu sich selbst gekommene Militarismus denn mit sich anfangen, wenn der letzte brauchbare Mann, vielleicht auch das letzte brauchbare Weib der Segnungen der humanen Leibes

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und Willenspädagogik teilhaftig geworden? dann werden vermutlich die diversen gereinigten Militarismen übereinander herfallen und dann - Finis Europae." So höre ich die Leute höhnen über den hoffenden Thoren. Nun, ich weiß, die Dinge werden einen anderen Gang nehmen, wie dieser Versuch sie gehen läßt, dieser Versuch, gewisse optimistische Folgerungen aus trüben, ängstigenden Erscheinungen zu ziehen. Indessen warum soll man nicht glauben dürfen, daß jene Zeit des idealen Militarismus den bewaffneten Frieden zur ewigen Wahrheit machen wird?

Niemand wird sich auch gegen die Bemühungen stemmen, die einen Rechtszustand zwischen den Nationen schaffen wollen, der den Krieg als Criminalverbrechen ächtet. Und warum soll man denn nicht glauben dürfen, daß eines Morgens dieser soldatische Militarismus als socialer Militarismus aufsteht, der nur noch einen Feind kennen wird - das menschliche Elend?

Immerhin, wenn man selbst den Weg zum humanen Militarismus, den ich anzudeuten versuchte, nicht so weit gehen mag, daß man die Grenznebel Utopiens bereits verspürt, eine gute Strecke des Weges wird man gehen können, gehen müssen, sofern man nicht überhaupt an der fördersamen Weiterbildung der europäischen Verhältnisse nach den geltenden Principien verzweifelt.