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Die Psychopathia spiritualis erschien als Buch 1892 im Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig. Der Erstabdruck war in der Zeitschrift "Die Gesellschaft" bereits 1891 erfolgt. Der Aufsatz stellt einen Meilenstein der geistigen Entwicklung Eisners und seiner Hinwendung zur Sozialdemokratie dar. Dem individualistischen, sozialdarwinistischen Menschenbild Nietzsches stellt Eisner seine Auffassung von der Milieuprägung des Menschen und seinen Erziehungsgedanken gegenüber.
 
Paginierung und Absätze wurden unverändert übernommen. Einfügungen durch (Klammern und Kursivschrift) kenntlich gemacht. Die Orthographie wurde beibehalten, offensichtliche Druckfehler bereinigt, Hervorhebungen erfolgen wie im Original durch gesperrten Satz.
 
Erwähnte Werke Nietzsches im Internet: http://www.fns.org.uk/fnslink.htm

Psychopathia spiritualis

 

Friedrich Nietzsche

 

und die Apostel der Zukunft

 

Vorbemerkung

 

Schriften, die zu Menschen wirken sollen, müssen menschlich sein; es muß in den Worten eine Persönlichkeit durchscheinen, die menschlich ist in Irrtümern und Fehlern, in Mängeln und Gebrechen, in Launen und Leidenschaften. Die Büchermacher verfahren gemeiniglich anders, sie wattieren ihr persönliches unvollkommenes Ich zu einem stattlichen Schreibschauspieler aus, der im Lichte der Öffentlichkeit, heroisch geschmückt und gewandet, als tadellose Erscheinung einher schreitet und ein staunensfähiges Publikum wirbt. So steht denn hinter den meisten Schriftwerken ein blutleeres, unfehlbares Abstraktum, das alles weiß und alles versteht, das mühelos und ohne Lücken und Widersprüche denkt, kurz, das zum mindesten sämtliche Attribute besitzt, die eine himmelsgläubige Philosophie dem lieben Gott zu Ehren ausfindig zu machen verstanden hat. Dieses schriftstellerische Komödiantentum, das Mensch und Autor in einen lächerlichen Gegensatz bringt, erreicht seinen Gipfelpunkt in der Gruppe derjenigen Männer, die "objektiv" und "vornehm" zu sein beanspruchen.

Der Verfasser der nachfolgenden Erörterungen ist sich bewußt, weder den Ehrentitel der Objektivität noch den der Vornehmheit zu verdienen. Er ist ein Mensch, ein Iebendiger Mensch, der möglicherweise mit all den Schwächen seines Wissens und Denkens doch Herz und Hirn dieses oder jenes Mitmenschen zu gewinnen imstande ist. Wenn er seine Arbeit ganz unverändert, wie sie in der "Gesellschaft" erschienen ist, in diesem

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Sonder-Abdruck herausgiebt, so mag man das seiner unüberwindlichen Abneigung gegen nachträgliche orthopädische Verschönerungsversuche an organisch gewachsenen (oder verwachsenen) Gedankenwesen zu Gute halten. Das namentlich in kompositioneller Hinsicht manches zu ändern gewesen wäre, ist ihm so klar wie irgend einem. Der Kritik wird durch dieses offene Geständnis wohl erspart, über die angedeuteten Mängel rügend zu richten. Möge sie dafür Zeit und Raum gewinnen, einiges über die Probleme beizubringen, zu deren Lösung und Klärung der Verfasser in seinen aphoristisch schweifenden Betrachtungen vielleicht hier und da eine Anregung gegeben hat

Frankfurt a/M.

Kurt Eisner.

 

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"Wahrlich ich rate euch: geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch:
schämt Euch seiner! Vielleicht betrog er euch."
Nietzsche: Zarathustra I.111.

"...eine rohe, unwissenschaftliche, doch glänzende Behauptung, die ihren Glanz aber nur durch ihre konzentrierte Form des Ausdrucks ... und durch unser momentanes Erstauntsein erhalten hat."
Nietzsche über A. W. Schlegels Erklärung des griechischen Chors als eines idealisierten Zuschauers (Geburt der Tragödie p. 81).),

 

I.

Ein Geist, der in Flammen aufgeht, - ein Schauspiel von dämonischer Erhabenheit, gleich wie Natur dann am gewaltigsten ist, wenn sie sich zerstört! Natur, die sich in grausig erhabenen Gebilden zerstört - das ist Friedrich Nietzsche! Ein packendes Schauspiel, aber keine weisende Lehre, Flammenlodern aber kein Sternenleuchten - das ist uns Friedrich Nietzsche!

Nicht ein Schauspiel ist es eigentlich, sondern ein furchtbares Trauerspiel voll der blutigen Ironie, wie sie nur das Leben zu dichten wagt und weiß. Nicht verzehrende Flammen glaubte der Beobachter zu sehen, wie erglühende Dämmerung, die den Morgen, die Sonne kündet, schien es. Schon sahen wir geistig und empfanden erschauernd das reine Gestirn, da zerriß der Wahn, und Schutt und Asche lag da, umfangen von der Nacht, die nicht mehr erhellt war durch die lodernden Flammen...

Allmählich hatte sich Nietzsche losgerungen von dem Schlingengestrüpp des Pessimismus. Immer höher schien er zu steigen, ganz oben glaubten wir ihn endlich zu sehen voll lachenden Übermuts und freudiger Freiheit, damals als er den "Fall Wagner" dem Bayreuther "Cretinismus" fröhlich und ausgelassen in die verzückten Gesichter schleuderte.

 

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Der "Fall Wagner" ist ein unbändiger Wirbelwind von Bosheit, eine zersetzende Karrikatur, ein schillerndes Lachen, ein noch ganz gesund scheinendes Lachen. Dieses witzgefiederte Pamphlet ist der köstlichste Übermut; der Augenblick, in dem Nietzsche es schrieb, war scheinbar der erste, da er "leichtfüßig", Zarathustra, der Tänzer, war, jener historische Augenblick, da uns das beste Feuilleton beschert ward, das die deutsche Litteratur kennt oder - nicht kennt.

Und kurz nach dieser Befreiungsthat geschah das Grausige. Nicht der Tag gebar die ahnungsvolle Helle, die Nacht brach herein. Flammen erloschen in Schutt und Asche und Finsternis. Für Morgengrauen hielten wir den verendenden Scheiterhaufen...

 

II.

Es ist besser von Nietzsche hören als ihn selbst. Er ist ein Verführer, weil er ein Großer ist. Wenn man trunkenen Geistes heim kommt von dem Manne, welcher der Einzige in Deutschland scheint, der stark genug ist, Länder- und Zeitengrenzen zu sprengen, wenn man seine Bücher gelesen, dann scheut man sich, so sehr auch nüchterne Bedenken aufsteigend dazu drängen, den Großen anzutasten. Man steht unter dem Banne dieser schicksalsvollen, schweratmenden Worte, dieses wilden Ernstes und dieses heiligen Hohns. Und dann wieder schwirrt's und funkelt's in flüchtig behendem Spiel wie Libellensurren an Blauäugigem Sonnentag. Ein Sprachbändiger ist er, wie kaum ein zweiter, diese Sprache berauscht durch Farbe und Duft. Sein Stil ist ein Narkotikum aus grübelndem Tiefsinn, bildprächtigem Geist, verwegenem Witz und - spärlich nur - freudvoller, fast kindlicher Schalkhaftigkeit. Man vergißt fast ganz, daß dieser Witz häufig rein sprachlich-assoziativer Art, und daß, wo wir nach Beweisen rufen, der also geartete Schalknarr Witz antwortet, daß seine Gedanken oft einem See vergleichbar sind, der unergründlich scheint, weil nächtige Dunkelheit auf ihm ruht. Aber man ist bethört, weil aus Nietzsches Philosophie nicht die Lampe und die Studierkammer, sondern die Großnatur der Alpen redet, weil die Einsamkeit dieses einzigen Mannes die des Manfred, nicht die Kants ist.

Nietzsche hat uns gewaltige Dichtungen hinterlassen, keine Lehren, Erzeugnisse einer rücksichtslosen Originalität, Stimmungsschrullen, denen bedeutende Menschen unterliegen, ohne daß sie für ihr eigenes Leben, geschweige denn für das Leben der übrigen Menschheit leitende sind und sein sollen. Nietzsches "Zarathustra" ist ein Kunstwerk wie "Faust". Und er ist ebenso wenig vorbildlich für das Handeln der Zukunft, wie der "Faust"

 

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verlangt, daß alle Männer die Handlungen Faustens und alle Weiber die Schicksale Gretchens nachleben müssen.

"Zarathustra" ist ein Kunstwerk wie "Faust" - das ist mehr wie ein Vergleich, das ist eine Wertung und eine Gleichung. "Zarathustra" ist Goethes Zentralschöpfung ebenbürtig. Es ist mißlich, mit dem Tone der Unfehlbarkeit für alle Ewigkeit das Werk eines Zeitgenossen fest zu beurteilen. Wenn ich es aber dennoch thun soll, so stehe ich nicht an, Nietzsche um dieses Weltwerks willen ganz obenan zu stellen unter die Erzväter der Dichtkunst. "Zarathustra" bedeutet in unserem und der Welt Schrifttum einen einsamen hochragenden Gipfel in der Lyrik des Denkens, die aus dem Gemüt des Intellekts strömt, wie die Lyrik des Empfindens aus dem Gemüt des Willens - schopenhauerisch gesprochen. Den ehrfurchtsvollen Genuß dieser Lyrik des Denkens wird uns auch nicht eine gewisse Krückenkritik vergällen, die aus zerbrechlichen Maßstäbchen als aus ihrer einzigen Stütze umherlahmt und mit einer angesichts ihrer Krüppelhaftigkeit komischen Strammheit kommandiert: Lyrik des Denkens, Reflexionslieder? Hinaus aus dem Heiligtum der Dichtkunst mit diesem unmöglichen Bastard!

Vielleicht wäre die Wirkung dieser gewaltigen Gedanken noch eindringlicher und haftender, wenn die einzelnen Bilder mehr einen novellistischen Realismus als Rahmen und Hintergrund hätten. So hat man den Eindruck eines riesigen Schlachtfeldes, man sieht gebrochene, verschlungene Linienbruchstücke, keine ganzen, entwirrbaren Umrisse. Ich denke da an Bonaventuras (Schellings) "Nachtwachen", deren Nihilismus sich durch jene novellistischen Züge unverlöschlich dem Geiste einbrennt.

Aber, was will dieser kleine kritische Einwurf, der erst nach, nicht während des Lesens sich herauswagt, gegenüber dem Genuß dieses unsterblichen Werkes!

Die Lieder Zarathustras fluten dahin breit und gewaltig wie Wagners Musikströme. Die Philosophie ist hier in Musik gesetzt, der Gedanke in Ton, nicht verflüchtigt, nein umgeglüht. Der Geist wird in eine Art sinnlich heißer Erregung versetzt. Die Wirkung ist ein intelligibler Erregungsgenuß, wie man bei Wagner (tadelnd!) von einem Erregungsgenuß der Nerven, des Willens gesprochen hat. Und wie alle Werke Wagners ausbranden in den einen jauchzenden Schmerzensruf, in dem Siegmund und Sieglinde eines werden, und alles Vorher und Nachher nur Spannung und Abspannung ist, so braust es im Zarathustra wie Brautchor und Liebessturmlied: Denken und Wahrheit ward eines! Winterstürme wichen dem Wonnemond! Vorbei der Winter lichtlosen Wahns! Der Lenzhauch des freien

 

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Geistes sprengte das Thor! Seht, wie es quillt und rauscht und duftet auf allen Wegen - der Frühling kam, das Licht, die Wahrheit, die Freude, der - Tanz!... O über den unsterblichen Zarathustra!

Unsterblich! Ich kann mich irren mit diesem Urteil, das zugleich eine Weissagung und deshalb nicht so bequem ist, wie das der Herren Litteraturhistoriker, die gleich Herrn von Wildenbruch nur zu prophezeien brauchen, was längst Thatsache geworden ist; ich kann mich irren - aber was wollt ihr? Darf sich nicht ein vergänglicher Mensch irren, wenn sich sogar die Zeit, die Geschichte selbst diesen Mut gestattet? Wenigstens habe ich den despektierlichen Argwohn, daß die Geschichte nicht selten dem Falschen durch den Vermerk "Klassisch" einen Fahrschein in die Ewigkeit ausstellt, und den Berechtigten vergißt. Ein Werk z B. wie die oben erwähnten "Nacht - wachen" wiegt schwerer wie vieles, was wir klassisch schön finden müssen. Und wer kennt diese "Nachtwachen", außer litterarhistorischen Kuriositäten-Liebhabern und -Händlern. Freilich die "Geschichte" löst sich hier wohl auf in die Faktoren: Publikum, Verleger, Kritik etc. Und vielleicht findet man auch anderswo solche Auflösungen, wenn man schärfer blickt, auch bei der Geschichte von Fürsten, Ministern, Feldmarschällen Banquiers und Reichskanzlern. -

Ich habe Nietzsches, des Dichters, Ruhm in vollen Tönen gesungen Um so eher darf ich nunmehr kühl und keck sagen, was ich von seinen Anschauungen halte. Alles was ich von Nietzsche Boshaftes, vielleicht Unverschämtes sagen werde, gilt von Nietzsche dem Denker und Lehrer, dem Denker als Lehrer, nicht dem Dichter, dem Künstler und Genie. Der Nietzsche bleibt den Weihestunden der Geweihten.

Nietzsche, der Denker, ist - und das ist ein volkserzieherisches Moment - der ehrliche Kündiger seiner Überzeugungen, der den Mut und den - Stoff hat, alles auszusprechen ohne Rücksicht auf Sitte, Herkommen, gemeine Meinung, Polizei, Strafgesetzbuch, Richtigkeit, Bewiesenheit und Beweisbarkeit.

Nietzsche ist ein Raubritter vom Geiste, der uns arme, kleine Gedankenkrämer um unser letztes Päckchen Zuversicht, Glauben, Ruhe und Selbstgenügsamkeit bringt.

Nietzsche gehört zu jenen sybillinischen Denkern der Art Hamanns, die neben den an Tiefe und Geist häufig weit geringeren Männern herlaufen, welche die Geschichte der Philosophie darstellen: krause, magisch verschlungene Arabesken zu der klaren, geraden, nüchternen Entwickelungslinie. Nietzsche ist nichts heilig als der Geist. Es ist selbstverständlich, daß den Philosophen oder, um in Nietzsches Sprache zu reden "uns Psycho-

 

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logen" nichts heilig ist, außer die Wahrheit. Nietzsche aber macht bei dieser Ausnahme mit seinen höchst lobenswerten Blasphemien nicht Halt; er ist zu witzig, um wahr zu sein. "Geist" ist Todfeind dem Geist der Wahrheit. Nietzsche ist nichts heilig außer der Geist.

Nietzsche ist - - doch halt: ich will nicht auf einmal beweislos alle meine Sprüchlein ausschütten. Das "Problem Nietzsche" kann nur auf vielen Um- und Abwegen erreicht werden. Das "Problem Nietzsche" wird für jeden, dem es sich bietet, zum Erlebnis. Man wird das Problem nur bewältigen können, wenn jeder sein persönliches Verhältnis zu ihm, seine Gefühle und Gedanken, seine Vermutungen und Ahnungen, welche das "Problem Nietzsche" erzeugt, darzustellen versucht. Die Unklarheiten müssen erst da sein, ehe Klarheit werden kann. Aus diesem Grunde beginne ich das folgende Kernstück meiner losen, locker gefügten Betrachtungen mit - mir.

 

III.

Mich hat Nietzsche lange gequält. Ich hatte nur über ihn, nichts von ihm gelesen. Aber das, was ich über ihn gelesen, reichte ans, daß seine Gedanken unheimlich auf mir lasteten. Indessen gelang es mir, mich zu befreien, weil ich eben noch nicht betäubt war von dem Chaos seines Geistes, das erst das Lesen seiner Werke offenbart. Man urteilt oft klarer, besser, geistreicher, umfassender und weitsichtiger über ein Werk, das man nur vom Hörensagen kennt, als über eines, das man gelesen hat. Die aufdringlichen Einzelheiten verwirren den Blick und töten die gleichsam intuitive Erkenntnis des Ganzen. Ich sah nur die Umrisse, nicht die verführerischen Einzellinien des Nietzscheanismus, und nur diesem Umstand habe ich es wahrscheinlich zu verdanken, daß ich einsehen lernte, daß der Gott nur ein Götze war, daß ich den Kampf gegen den verschrobenen Geistesriesen wage.

Ich blickte zurück und ich erkannte, daß wir am Ende des Jahrhunderts da stehen, wo wir am Anfang standen: in der Romantik. Was damals Aufklärung, Rationalismus hieß, nennt sich heute Sozialismus. Wie damals die Schlegel und Tieck eine ästhetische Ichgenußwelt im Kampfe gegen eine platte altruistische Moral aus Geist und Galle schufen, wie sie mit nachtwandlerischer Verwegenheit sorglos über die Gesetze der natürlichen Vernunft hinwegturnten und höhnten über den gesunden Menschenverstand, den sie durch den Tief- und Wahnsinn kranker Ausnahmemenschen ernstlich bedrängten, wenn sie auch vergeblich ihm den Garaus zu machen suchten - so jetzt Nietzsche und die um ihn.

Romantisch ist die Mystizisierung oder auch Mystifizierung des

 

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Lebens, welche überall das Klarste verrätselt und das Flachste ins Bodenlose vertieft.

Romantisch ist die Ironie Nietzsches, die zugleich Hülle und Waffe wehrloser Weisheit ist.

Romantisch ist das Orakelhafte, das Spiel mit den "Eingeweihten": Nur der Kultusgenosse, der Bruder im Geiste, kann verstehen.

Romantisch ist das Schlagwort von der Emanzipation des Fleisches die bei Nietzsche freilich in männlicher Kraft und nicht in der weibisch-weichlichen Verschwommenheit der Romantik erscheint.

Romantisch ist die Verquickung von Kunst und Wissenschaft, was für die letztere noch weit gefährlicher ist als für die erstere. Die Kunst gestaltet das Leben nach mit allen Mitteln und Stoffen; das Leben ist ihre Mutter, der Künstler ihr Vater, die Potenz der Beeinflussung durch die Eltern durchstreift alle Grade und bildet so die mannigfachen Kunstformen vom extremen Idealismus bis zum konsequenten Naturalismus. Die Wissenschaft dagegen spiegelt das Leben und reißt das Bild dann in seine Elemente. Das ist die normale Formel. Es ist selbstverständlich, daß die Grenzen, wie bei allen derartigen Scheidungen, fließend sind. immerhin aber ist es besser, die Grenzen zu verschärfen als sie zu verwischen. Nietzsches erstes Buch aber wagte sich schon an die Ausgabe heran, "die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens" (Vorrede zur "Geburt der Tragödie", pag. VII). Die Wissenschaft erscheint also hier durch ein doppeltes Medium gebrochen: Leben - Kunst - Wissenschaft. Das heißt völlig wie ein Romantiker gesprochen. Da kann man denn auch wohl sagen, daß derart unter der "Optik des Künstlers" gesehene Wissenschaft vielfach optische Täuschungen in subjektivem und objektivem Sinne zur Folge haben muß.

Romantisch endlich ist der Kultus eines zurechtgefärbten Hellenismus. Schon Friedrich Schlegel litt an der Gräkomanie und versicherte die dorischen Damen seiner tiefsinnigsten Hochschätzung. Auch er träumte von regenerierender Rassenzucht, und sein neues jungstarkes Menschentum sollte "getragen" werden von Säulen dorischen Stils: Die unverehelichte "Lucinde" war so eine zukunftsträchtige Säule, freilich eine, die bis zur Unkenntlichkeit verschnörkelt und verschlegelt war. - Über das merkwürdige Verhältnis Nietzsches zum Hellenismus wird weiter unten noch einiges beizubringen sein; hier galt es nur kurz die Berührungspunkte der Jungromantik am Ende des 19. Jahrhunderts mit der alten romantischen Schule zu bezeichnen.

 

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Dieses romantisch-paradoxe Geniewesen ist, wie vor 100 Jahren, entsprossen aus dem herrschenden Ungeniewesen, aus dieser langweiligen Gedankenödheit, diesem nivellierenden Flachsinn, dieser leeren, zielstreberischen Geschäftsmäßigkeit, welche unser öffentliches Leben charakterisieren. Parlament, Schule, Presse reden eine traurige Sprache! Man kann ganze Jahrgänge von Parlamentsverhandlungen durchsieben, ohne eine tiefsinnige, originelle, oder auch nur einigermaßen witzige Äußerung aufzustöbern, man kann ganze Generationen von Gymnasiallehrern ausquetschen, ohne eine eigenartige Lebensanschauung durch diese Prozedur zu gewinnen. (Diese Hyperbel soll übrigens nur die Lehrer als solche, nicht die in ihnen steckenden Menschen treffen.) Und die Presse vollends! Rettungslos scheint sie verloren auf dem Wege zur armseligsten Reportage. Geknebelt ist sie durch Publikum, Partei, Kapital, Regierung. Der Redakteur ist der Sklave dieser Gewalten, und seine Mitarbeiter sind die Untersklaven, die noch die Peitsche des Obersklaven zu fühlen haben. Die Lohnherren des Journalisten sind zugleich seine Fronherren, die jede aufbäumende Originalität sorgfältig ausprügeln. "Richten" war das Amt der Presse, Nachrichten - das ist jetzt die einzige Gier. Und Nachrichter sind in einem zwiespältig kläglichen Doppelsinn die Leute, die über die idealen Kulturgüter zu wachen haben, die Kritiker. Das auf unseren Universitäten eingesessene Gelehrtentum macht es begreiflich, daß unsere bedeutenden Geister des Doktortitels entbehren oder auch Exprofessoren sind. Diese Beamtenzuchthäuser sind zu eng für das Große, das sich entweder verkrüppeln lassen oder fliehen muß. Das Genie des Sitzfleißes und Sitzfleisches brüstet sich an diesen Stätten öder Spezialkrämerei mit pfäffischem Dünkel. Ein Mensch mit aufgeschlossenen, dürstenden Sinnen, der nicht gerade das Kapital besitzt, um Dutzende von Semestern opfern zu können, die dazu gehören, das Wertvolle aller Wissenschaft auszusaugen und zu sammeln, - ein bedeutender Mensch findet an den Hochschulen keine Förderung und keinen Raum. Dieses gelehrte Unwesen ist mitschuldig an der düsteren Erscheinung, daß so viele ihr geistiges Fortkommen mit materiellem Verkommen erkaufen müssen.

Das sind einige Striche zur Zeichnung eines Zeitbodens, aus dem ein romantisches Genietum fast mit Notwendigkeit erwachsen muß. Alles, was Kraft und Eigenart in sich fühlt, wird auf unfruchtbare Abwege geführt, weil es kein Genügen in den engen, flachen Strebungen der Zeit findet. Politische Kämpfe werden leicht widrig, da jegliches Parteiwesen - und ohne Partei kein erfolgreicher Kampf - für sensible Geister des Abstoßenden genugsam bietet. Das nervöse Temperament vermag nicht seine durch Äußerlichkeiten erweckten eklen Empfindungen zu Gunsten der vielleicht von

 

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Natur gesunden Bestrebungen zu bezwingen. So kommt es, daß diejenigen, welche nicht auf den Kopf gefallen sind, sich auf den Kopf stellen. Diese paar Bemerkungen mögen zeigen, daß ich für die genialische Neuromantik wohl Verständnis und Erklärungen habe. Aber alles begreifen, heißt - nichts verzeihen!

Gerade die Geschichte der Romantik lehrt, daß nicht die potentiell größten Geister am fruchtbarsten sind für die Entwickelung der Menschheit. Was hat der genialische Sprudelgeist Görres Bleibendes gewirkt? Ich glaube, ein beliebiger Sudelgeist der nüchternsten und gemeinsten Aufklärung hat mehr geleistet, mehr fruchttragende Keime ausgestreut.

Auch Nietzsches Genius wird einsam am Wege sterben, und der "geistlose" Sozialismus wird auf dem Wege vorwärts schreiten. Ein künstlerisch wertloses Buch, wie Bellamys "Rückblick" wird mit goldenen Lettern in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit stehen, weil es in zahllosen Tausenden von Menschen die Sehnsucht nach einem besseren Diesseits geweckt und in anderen zahllosen Tausenden den Glauben an die Erreichung des Ideals gefestigt; Bellamys Werk bleibt und wirkt, obwohl es nichts als eine populäre Fibel ist, während Nietzsches gedankenwilde Schöpfungen verloren als staunenswerte Kuriositäten enden werden, aus denen vielleicht einzelne Ideen in platt- aber geradgeistigen Kulturpionieren eine fördersame Wiedergeburt erleben werden. Nietzsche hat ein Bauwerk von ägyptischer Großartigkeit aufgeschichtet, das als Totenkammer den irren Geisteskönig umschließt.

Zarathustras, des Propheten neuer Lehren und neuen Lebens, erster Gefährte ist ein Leichnam. Auch Nietzsches erster Gefährte ist ein Leichnam, ein Geistesleichnam: - Nietzsche. Zarathustra - Nietzsche glaubte den ersten Gefährten begraben zu haben: Nicht Hirt soll ich sein, nicht Totengräber. Nicht reden einmal will ich wieder mit dem Volke; zum letzten Male sprach ich zu einem Toten. Den Schaffenden, den Erntenden, den Feiernden will ich mich zugesellen..." Zarathustra irrte sich. Er begrub ihn nicht, seinen ersten Gefährten, den Leichnam. Bei ihm hockt er, und die Menschen sehen nicht zwei, nur ein Wesen, einen Totlebendigen, den wahnsinnigen Dichter...

Nietzsches Weltschicksal wird in sich verbrennen, wie sein Lebensschicksal...

 

IV.

Zeichnen wir noch einige historische Parallelen!

Geschichte giebt allerdings keine Lehre für zukünftiges Handeln. Historische Kenntnisse ersticken vielmehr die schaffende Triebkraft, sie legen uns

 

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Fußfesseln an, die wir unsere Kraft allein aus dem Erdboden der Gegenwart saugen müßten, da nur aus der Berührung mit der eigenen Zeit wir emporschnellen als Riesen der That. Zurückschauen macht schwach und feige - höfliche Menschen nennen das objektiv, nationalliberal, politisch. - Das aber bietet die Geschichte: Zu den Erscheinungen, die uns in grausender Einsamkeit unbegreiflich und furchtbar gegenüberstehen, gesellen sich durch zurückdringende Nachforschungen freundnachbarliche Gestalten, die den uns dräuenden Erscheinungen das Grauen des Einzigen nehmen.

Nietzsche gemahnt einmal an die Romantik, dann aber und hauptsächlich an Rousseau - seltsam, daß Nietzsche nichts ingrimmiger haßte, als gerade Rousseau und die Romantik. Ein Hohn, daß die Geisteshistorie den großen Irrlehrer gerade mit diesen beiden Erscheinungen vergleichen muß!

Im vorigen Jahrhundert empfand Rousseau mit brennendem Schmerz seine kranke schwächliche Zeit. Und er schaute sich um nach Erlösung. Weil er aber keinen Heilsweg in die Zukunft fand, zauberte er im verzagenden Verzicht an den Anfang der Dinge aus träumenden Wünschen ein schaumgoldenes Zeitalter. Einen Leitstern gaukelte er der Menschheit vor, der nicht sichtbar ein Ziel weist, sondern der hinter'm Horizonte nur phantasiert ward. Der Rousseau von heute heißt Nietzsche. Auch ihn ekelte die - wie es ihm schien - kraftlose Entartung des Zeitalters an, auch er spürte nach der Idealarznei. Aber inzwischen war die neue Renaissance geboren. Das klassische Hellas war eingezogen in die Gemüter der Menschen, so brauchte er nicht zu erfinden, sondern nur beleben, was längst tot, weil es sterbensreif war, und er bannte mit dämonischen Zaubersprüchen den Geist des grausamen, seligen Hellas. Er fragte sich dann: Was gab Hellas jenes starkknochige Glück? Und er fand: den Alten fehlte das Mitleid, das Christentum, die Askese. So wurde ihm Mitleid, Christentum, Askese zur Quelle des siechen Elends und er predigte: Werdet hart! Wie Rousseau blickte Nietzsche zurück statt vorwärts...

"Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht; hier redet nur ein üppiges, ja triumphierendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist." (Geburt der Tragödie p. 11.) Aus dem so ausgefaßten, romantisch gesehenen Hellenismus, den Nietzsche schon in seinem ersten Werk klar ausspricht, keimt dann sein "Jenseits von Gut und Böse", sein Übermensch Zarathustra. Damals, 1871, sagte Nietzsche nur: So war es; fünfzehn Jahre später predigte er dogmatisch: So soll es sein! Die Art der Auffassung des Griechentums deutet den späteren Weg an. Hellas blieb das Land seiner Seele; er wandelte es nach seinen Wand-

 

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lungen, er sah jedesmal seine neuen Überzeugungen und Erkenntnisse in sein Idealland hinein.

Nietzsche unterschied in seiner Erstlingsschrift die apollinische und die dionysische Kunst, diese das wildbegehrende Leben selbst, unmittelbar in Kunstmittel umgesetzt (Musik), jene die naive, ruhige Nachträumung des Daseins, eine Art friedliches, zweites Gesicht einer ungeberdigen leidenschaftlichen Fratze. Im Laufe seiner Entwickelung verlor Nietzsche immer mehr aus seiner Ideenwelt das Apollinische, und dafür wuchs in steigendem Maße das dionysische, dessen Erfüllung er nun nicht mehr in der Musik sah, sondern das eben nur im Leben Wesen gewinnen konnte, im Leben des Übermenschen. In der Anerkennung des Apollinischen merkte man den klassisch erzogenen, anerzogenen Philologen, erst mit der Mänadisierung des Hellenismus, mit dem Dionysus - Fanatismus, gelangte er zu sich selber.

Nietzsche huldigte schließlich einem andern Hellenismus als Goethe. Nicht in der "klassischen Ruhe" sah er sein Ideal, sondern in dem orgiastischen Dionysuskultus. Der dionysische Mensch war sein werdender Mensch, die wild überquellende ungezähmte Kraft seine Kultur. Man wäre fast versucht zu glauben, Nietzsche würde Goethes Iphigenie in die Formel gepreßt haben: "Iphigenie bringt den Tauriern die Decadence, Iphigenie ein Anzeichen der sinkenden taurischen Kraft, der beginnenden Zähmung, der endenden Züchtung. Humanität sagen die wurmhaften Ausdeutlinge, ich sage: Decadence."

Übrigens scheint es fast, als ob die Beschäftigung mit der hellenischen Kunst geeignet ist, ein ästhetisches Junkertum zu ziehen. Gerade unter den Archäologen findet man vielfach schlimm vornehme Genußmenschen und hochmütige kalte Schlingel. Ist diese psychologische Beobachtung richtig, so würde damit die merkwürdige Thatsache minder seltsam erscheinen, daß gerade ein klassischer Philologe, und nicht etwa ein eingefleischt darwinistischer Naturforscher, die neue Moral des Egoismus und der Härte gekündet.

Der Hellenismus ist Nietzsches Ideal. Daneben schlenderte er ein wenig in das orientalische Ariertum und brachte von dieser Reise seinen Zarathustra heim. Sehr bezeichnend ist es, daß Nietzsche gerade bei dem Volke scheu vorüberging, das auf die modernen Anschauungen des Abendlandes den größten Einfluß geübt; ich meine Indien. Er durfte ja die indische Kultur nicht kennen. Die leiseste Berührung des Buddhismus hätte sofort jedem die abenteuerliche Unwahrhaftigkeit offenbart, die in der Scheidung von semitischer Sklavenmoral und arischer Herrenmoral liegt. Wenigstens hätte er dann annehmen müssen, daß

 

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das indische Ariertum "semitisch" par distance auf dem geheimnisvollen Wege telepathischer Suggestion geworden ist. Und doch ist gerade die indische Kultur überaus wertvoll für die Erkenntnis menschlicher Entwickelung, da diese Kultur allein aus sich gewachsen ist und unberührt von fremden Einflüssen bis zu ihrem Absterben sich ausgelebt hat. Ich will nicht beurteilen, ob Nietzsches Blindheit gegenüber Indien eine Krankheit oder eine - Kunst war.

Es ist stets gefährlich für Wünsche der Gegenwart, Zustände vergangener toter Zeiten geltend zu machen. Wenn die modernen Kriegsschwärmer an die Zeiten der alten Germanen erinnern und in dem freudigen Krieg eine Schule der Persönlichkeit erblicken, so ist das eine folgenschwere Thorheit. Der Krieg von heute ist mit den germanischen Kämpfen nicht vergleichbar. Bei diesen kann man die erzieherische Wirkung zugeben, bei jenem nicht. Wir sind heute nicht mehr Herren des Krieges, sondern seine Sklaven. Der Krieg führt uns, nicht wir den Krieg. Die Menschen sind fast nur noch Versuchsobjekte für technische Erfindungen. Man könnte ebensogut die Völker auf die Schienen strecken und Eisenbahnzüge über sie hinwegfahren lassen. Das Problem des Sieges scheint mir in der Zukunft nur rein psychiatrischer Natur zu sein: Auf welcher Seite zuerst der kritische Augenblick kommt, wo die anerzogene und zumeist anerlogene Unterdrückung des Lebenstriebes aufhört, wo der gefesselte Trieb wieder mit ungestümer Leidenschaft erwacht und die Panik, die Flucht zeugt - auf dieser Seite ist die Niederlage, auf der anderen der Sieg. Die Entscheidung führt wohl mehr der Zufall, als die Tüchtigkeit herbei. Die Schmach ist die Gesellin der triumphierenden Natur. - Ich habe gerade dieses Beispiel gewählt, um die Trüglichkeit historischer Gleichungen zu erweisen, weil aus Nietzsches Gedankenarsenal die Gegner und Verächter des immer lauter brausenden Rufs: Die Waffen nieder! Ihre Waffen holen könnten.

Die augen sind den Menschen unter der Stirn, nicht auf dem Hinterkopf gewachsen. Sie sehen vorwärts, sie schreiten vorwärts. Wer in die Zukunft strebt und in die Vergangenheit schaut, der muß straucheln, weil er mit verdrehtem Haupt in schwindelnder Blindheit tappt.

In die Gegenwart blicken und in die eigene Brust, wo die Instinkte eine leise, aber deutliche Sprache reden! Jede Zeit zeugt ihre Instinkte, die neues Handeln, neues Wissen bestimmen: Man muß auf sie nur hören, um die Zeit zu erfüllen. Aber die Instinkte sind schüchtern und einsam. Bringt man sie in Gesellschaft, wo alle Zeiten und Völker laut durcheinander schwatzen dann verstummen sie. Und dann haben die Menschen ihre Leiter verloren; sie wissen nicht aus noch ein.

 

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Sie irren taumelnd umher und geberden sich wie Verrückte und rennen sich die Schädel ein an den Totenhäusern der Vergangenheit, während sie wähnen, neue Pfade zu brechen.

Nietzsche selbst erkennt die Gefahr historischer Rückblicke, die leicht eine ebenso schwärmerische wie nutzlose Sentimentalität und Thatenlosigkeit zeitigen; doch er blickt sehnsüchtig nach dem Hellenismus zurück und verneint darum unsere Kultur in zornvoller Klage.

Nietzsche ist ein echter Reactionär, weil sein Vorwärts ein Rückwärts ist. Und weil er ein Reactionär ist, so wird ihn die Zukunft verschmähen. Seine Sehnsucht glüht nach "leichten Füßen". Wie kann er da zugleich wünschen, Spuren zu hinterlassen. Die Erfüllung des einen schließt die des andern aus.

Die Zukunft ist nicht Nietzsches!

Vorläufig allerdings scheint es anders. Auf allen Wegen predigen begeisterte und berauschte Apostel des großen Meisters Lehre, des neuen Propheten Weisheit.

Nietzsches Geist giebt kleidsame Gewandung für viele Ungeister. Ein Fetzen nur von dem Großen lügt die Kleinen zu dem, den sie bestohlen. Die Isten und die Aner sind der Heroen schreckliche blödsinnige Kinder, die sich ebenbürtig, überbürtig ihren Schöpfern wähnen. Die ganze Geschichte des Christentums ist ein Beispiel für den Hochmut derer, die nicht groß sind, sondern nur nach einem Großen heißen, noch dazu ohne Selbstverschuldung dieser Namensgebung. Dem großen Nietzsche droht die Gefahr, zum kleinen Heros des "Fin de siècle" ausgefaselt zu werden. Es laufen jetzt die Flitternietzsche und Talmizukunftsmenschlein umher, wie einstmalen die Maskenballfauste und Faschingshamlets.

Werfen wir einen flüchtigen Blick auf das - wie der Meister selbst sich ausdrücken würde - Nietzsche - Affentum! Ich will übrigens niemandem mit dem Folgenden wehe thun, vielmehr möchte ich einen oder den anderen bekehren. Wenn die Arznei bitter schmecken sollte, so ist das nicht meine, sondern der Krankheit Schuld.

 

V.

"Die Welt ... eh! hm! ... ein kontrapunktliches Dunkelgrün, ein windender Kessel, in dem zersägte Mammutknochen in fossilem Gerumpel, violett fauchend jammernden Gebisses winseln... und herum breitest Du die tönenden Fittige, Glutar, Goethe, du allumkrallender, abgrundbohrender Kosmosschunkelwalzer, du Teufelskerl, du Tausendsassa zum Scheckigweinen..." also las ich in dem genialen Werke des - - ich bitte um Ver-

 

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zeihung. Ich habe mich geirrt. Jene Stelle lautete etwas anders, ähnlich aber und enthielt ein paar Dutzend Wortverbindungen, deren einer Bestandteil auf das griechische ψυχη zurückzuführen war. Was ich eben niedergeschrieben, stenographierte ich nach einer trefflichen Bierrede eines besoffenen Philosophen. Aber der Philosoph war ein Genie - ihr könnt mir's glauben! - und jene Bierrede enthielt alles, was zu dem Inventar einer modernen, schreibelnden Abgrundsseele, die frei nach Nietzsche stilisiert ist, gehört: Originalität, Kühnheit der Bilder, Tiefe, Temperament, Leidenschaft, Kraft und endlich - Unsinn.

Wir haben vor keinem Vorwurf so große Angst, wie vor der Möglichkeit, daß man uns für dumm halten könnte. Verdächtigt man unseren Charakter, so lächeln wir kühl - wir selbst müssen uns ja besser kennen, bezweifelt man aber unsere Intelligenz, so geraten wir in Wut und Verzweiflung, weil wir zerknirscht und beschämt zugeben, daß jener Zweifel am Ende doch berechtigt sein könnte. Darum hüten wir uns ängstlich, dem lieben Nächsten einen Anlaß zu geben, der unsere geistigen Gaben bloßstellt. Wir machen es uns also zur Pflicht, alles zu begreifen, nichts unverständlich zu finden. In der Schule beginnt bereits diese ängstliche Heuchelei und sie begleitet uns - unter dem Wir sind die Gebildeten zu verstehen - bis an das selige Ende des Lebens. Das artige Märchen von den Kleidern des Kaisers, die alle zu sehen behaupteten, weil der Schneidermeister nur die Klugen für fähig erklärte, sie zu sehen, erlebt man jeden Tag. Auf dem Gymnasium hatte ich einen Mitschüler, der in schwülstigem Unsinn das Menschenmögliche leistete, dessen Aufsätze aber von dem Deutschlehrer, der lieber an seiner eigenen Auffassungsgabe zweifelte, als daß er den Mut besessen hätte, für unverständlich zu erklären, was er nicht verstand, auf das günstigste beurteilt wurden. Als wir anderen, die wir ob unserer Klarheit weniger gute Zensuren erhielten, diese Eigentümlichkeit des Lehrers bemerkten, fügten wir fortan in jedem Aufsatz einige sinnlose, schön und tief klingende Sätze ein und, siehe da, - von Stund an bekamen wir bessere Nummern. Jener gute Lehrer aber bildet, vervielfacht, die eine Gattung vom Publikum, das sich mit seiner Verständnisfülle brüstet. Für die zweite entgegengesetzte Gattung von Publikum ist der Berliner vorbildlich, oder nicht vorbildlich, der in beneidenswert sicherem Selbstbewußtsein alles, was er nicht gleich versteht, was außerhalb seines Horizontes liegt, mit der schönen Lautkombination "Quatsch!" beehrt. Es ist richtig, daß unter dieser kritischen, dünkelhaften Schnoddrigkeit das wirklich Große, Neue, Tiefe furchtbar zu leiden hat. Ebenso richtig aber ist es, daß vom Standpunkt geistiger Volkshygiene aus beurteilt, diese klare Enge des Berliners lange nicht so schädlich ist,

 

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wie jene unklare Weite der Verständnisvollen. Geistige Epidemien finden den fettesten Nährboden bei der Art von Leuten, für die mein alter Deutschlehrer ein bezeichnendes Beispiel ist.

Die neue Romantik, die von Nietzsche ihren Ursprung nimmt, ist eine solche Epidemie.

Der Nietzscheaner ist vor allen Dingen original. Dieweil originelle Gedanken aber nicht allzu reichlich an den Bäumen hängen, so begnügt man sich, allerhand plattfüßige Wahrheiten in seltsam geschnäbeltes Wortschuhwerk einzuzwängen, was dann über die Maßen urneu und urgeistreich ausschaut. Das ändert aber an der Trivialität der Gedanken nichts, die höchstens durch besagte Prozedur mit etlichen originellen Hühneraugen ausgestattet werden. Diese Falschmünzerei dient nur dazu, daß man alle ausdruckseltsamen Arbeiten überhaupt nicht mehr liest, um nicht immer wieder die traurige Enttäuschung zu erleben, daß ganz gemeine Lederbälge übrigbleiben wenn man den glitzernden Flitterstaat auszieht. Man wird an die romantische Lyrik erinnert. Worte, nichts als Worte. Will man sie in Sinn übersetzen, so verflüchtigt sich bei diesem chemischen Experiment alles in nichtigen Dunst, höchstens ein kleiner, ärgerlicher Gestank steigt empor, der Kopfschmerzen verursacht.

Der Nietzscheaner ist sodann stets individuell. Er liebt es namentlich, seine Gebrechen kokett zur Schau zu stellen, er prahlt mit seinen Menschengeschlechtskrankheiten (oder auch mit den letzten zwei Dritteln des Wortes). Er giebt sich selbst mit Haut und Haaren, mit Nase und Nägeln - alles struwelpeterhaft vergrößert und ins Groteske verzerrt. Er sagt mit Sudermanns Alma: "Ja, so sind wir!" und verlangt, daß man Ehrfurcht vor seinem wütigen Wesen habe.

Der Nietzscheaner behauptet stets und beweist nie. Er dekretiert Wahrheiten, er giebt Gesetze, die dem Parlamente des abwägenden Verstandes nicht vorgelegt werden. Er schwelgt in geistlosem Absolutismus, er kommandiert die Köpfe, wie der Unteroffizier die Rekruten. Subordination! Respekt vor dem, was ich Euch zu sagen mich herablasse: die Welt ... eh! hm! ... ein kontrapunktliches Dunkelgrün ...

Das sind also einige äußerliche Kennzeichen, die den Nietzscheaner charakterisieren. Über den Einfluß Nietzsches auf die Weltanschauung oder besser, Weltbestimmung einzelner moderner Geister, über die Verbreitung und Verbreiterung gewisser Nietzschescher Ideen, wird später noch manches zu sagen sein.

Die Geschichte des Nietzscheschen Einflusses zu schreiben, wäre bereits jetzt eine dankbare, weitgreifende Aufgabe. Will einer diese Aufgabe

 

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übernehmen, so mag er sich beeilen, damit die Nietzsche-Episode nicht früher fertig werde, als seine Arbeit.

Um nicht bei Allgemeinheiten stehen zu bleiben, wenigstens einige Namen aus dieser ungeschriebenen Geschichte des Nietzscheanismus!

Zu den Stilbarnums gesellte sich bisweilen der arme Hermann Conradi, der wundersame Sänger und wirksame Denker. auch der geniale "Bahr"de des Fin de siècle, (dessen Originalität die Bösen in Berlin dadurch zu erklären suchen, daß sie sein Dasein einem Wunder verdanken lassen - - lesbischer Liebe), schwindelt bisweilen in krausem Wortverbildungs-Tiefsinn. Nietzsche, der Dichter, hat - das sei hier beiläufig eingefügt - einen belebenden Einfluß ausgeübt auf das gedankliche Gedicht in Prosa. Ich will zwei dieser Dichter nennen: Erstlich Ola Hansson, der die schönste Charakteristik Nietzsches gedichtet, die selbst wieder wie ein Lied Zarathustras klingt, und dann der den Lesern der "Gesellschaft" wohl-bekannte O. J. Bierbaum. Interessant war es mir zu hören, daß auch der Versuch unternommen worden ist, das "System" Nietzsche wissenschaftlich fortzubilden. Ich meine: "Denken und Weltanschauung oder Theorie der Grundprobleme" von Albert Kniepf. Ich kenne das Buch bisher nicht und bin, wenn ich es ehrlich sagen will, auch nicht sonderlich begierig, es kennen zu lernen. Ich fürchte, daß wieder einmal Wahrheiten nach Herzenslust dekretiert werden. Kniepf bringt offenbar zu diesem gesetzgeberischen Beruf die hinlängliche, durch Nietzsche gestärkte und an ihm geübte Fertigkeit mit. Seine "Lessing - Episode", welche ein paar Seiten der "Gesellschaft" schmückte, hat meine vollste Bewunderung und meine gläubigste Ehrfurcht vor jener Fertigkeit erweckt. Donnerwetter! Mit ein paar Schock Worten wird da die "Geschichte" Lessings einfach in eine "Episode" verwandelt. Die Statue im Berliner Tiergarten wird nun über kurz oder lang und nicht nur figürlich vom Piedestal herabgestürzt werden und an Lessings Stelle tritt der heldenmütige Heroenstürzer Albert Kniepf ... Ich halte es wirklich für ein zu harmloses und billiges und deshalb für einen ernsten Mann unwürdiges Vergnügen, auf die Weise Größen zu "vermöbeln". Als jüngst ein Litteraturprofessor dem toten Hamerling sein: "Ich mag ihn nicht" entgegenschleuderte, da entstand ein Orkan von Entrüstung über diese professorale anmaßliche Dünkelhaftigkeit, über diese "Leichenschändung". Und doch war der Mann in seinem Recht. Es steht jedem frei, zu sagen, diese oder jene Erscheinung ist mir antipathisch, mir fehlt das Organ zu ihrem Verständnis. Sich aber hinstellen auf offenen Markt und brüllen: "Einfaltspinsel, ihr haltet für klassisch, was eben so einfältig ist, wie ihr!" und dann diese Behauptung durch die Anwendung

 

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irgend eines willkürlichen Grundsatzes (z. B.: der große Dichter darf nicht beeinflußt sein, er darf nicht die Liebe schildern, er darf keine Sommersprossen haben und keine krumme Nase) scheinbar beweisen - das geht doch über den Spaß, oder vielmehr unter den Spaß! Das ist kritische Zoterei! Wen will man denn durch solches Verfahren bekehren! Der Gott läuft nicht gleich davon, wenn man ihn Götze anschreit. Man wertet nicht um, indem man einfach auf den Kopf stellt. Ich erblicke in dieser kritischen Drauflosgeherei und gewissenlosen Umstürzlerei eine der verhängnisvollsten Folgen der Nietzscheschen Revolutionsmanie und Umkehrungssucht. Denn nichts anderes ist es, wenn Nietzsche, weil nun die griechische Litteratur einmal allgemein höher geschätzt wird als die römische, mit päpstlicher Unfehlbarkeit versichert: die römische Litteratur ist unendlich wertvoller als die griechische. Daß etwas allgemein geglaubt wird, ist für Nietzsche Grund genug, das Gegenteil als wahr zu behaupten Ein bequemes Verfahren wahrlich, um eigenartig, neu zu sein. Und wie der Herr Nietzsche, so der Knecht Kniepf und die anderen neumodischen Symbolisten, Individualisten, Ästhetizisten, Nationalisten, von denen ich mir zwei Prachtexemplare noch bis zuletzt ausgehoben habe.

Das sind der große Rembrandtmann und sein Schildknappe der "langbehnige" Bismarckdithyrambus Max Bewer. Des letzteren Bismarckinterview im "Hamburger Korrespondenten" ist ein ungemein - sagen wir - individualistisch wirkendes Schriftstück, mit dem man von den Abhängen Nietzscheschen Tiefsinns glücklich bis zu den Niederungen behaglichsten Blödsinns gelangt ist. Armer Nietzsche! Bewer, den seine Vorliebe für Vergleiche aus der höheren und niederen Tierwelt als einen eifrigen Besucher zoologischer Gärten und - ungeziefer-gesegneter Hotels erweist, durfte nicht all zu viele Freunde durch seine schillernden Thorheiten, die er unkluger Weise auch auf das Gebiet der praktischen Politik hetzte, gefunden haben. Es genüge also die Erwähnung des Mannes. Dagegen hat "Rembrandt als Erzieher" einen ungeheuren, ungeheuerlichen Erfolg gehabt, so daß das Werk an dieser Stelle, wo es gilt, einige Striche aus der von Nietzsche ausgehenden Geschichte der Neuromantik zu zeichnen, etwas ausführlicher betrachtet werden muß.

Der Erfolg von "Rembrandt als Erzieher" ist eine der trübseligsten Zeiterscheinungen. Welch furchtbare Wirrköpfigkeit muß unter den Gebildeten der Nation herrschen, daß man an diesem Werke selbst bis zur Überwindung der den Deutschen eigenen Bücherkaufscheu Gefallen finden konnte! "Wilhelmine Buchholz" durch "Rembrandt den Erzieher" abgelöst, das heißt fürwahr ein lustiges Rätsel! Nach der flachsten Plattheit die tiefste Mystik -

 

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die Wege Gottes und des geistigen Appetits sind wunderbar! Oder läuft das ganze Rätsel nur auf das Gesetz des Kontrastes hinaus, das für die Bedürfnisse des Hirns eben so gut gilt, wie für die des Magens? Aber ist dieses Rätsel gelöst, so bleibt das zweite, schwierigere bestehen: Wie muß derjenige geartet sein, der sich einbildet all den mystischen Kohl verdaut zu haben! Gerade das glänzende Schicksal des Langbehnschen Konfusoriums hat mit erschreckender Deutlichkeit offenbart, wie in Deutschland gelesen wird; denn das vermag ich nicht zu glauben, daß die Leser der 30 oder 40 Auflagen des Buches durchweg mit kritischer Überlegenheit Vernünftiges und Unsinniges gesondert. Das Buch ist den Leuten eben eingeredet worden, und man fand es schön und tief, wie nur irgend einen vermoderten Klassiker, obwohl ich nicht leugnen will, daß es gewissen Stimmungen der Gegenwart entgegenkommt; der Kampf gegen den Spezialismus, die Nüchternheit, den Materialismus ist zwar schon lange und mit weniger Phrasen geführt worden, aber man blickte doch andächtig zu dem neuen Kämpfer auf, der mit solcher dogmatischen Sicherheit, so "erlesener" Bildung, so erhabener Orakelhaftigkeit Himmel und Hölle gegen ein paar Zeitkrankheiten in Bewegung fetzte.

"Rembrandt als Erzieher" ist ein tolles Wortbacchanal. Das Wort besäuft sich in Freiheitsfusel und zerbricht die Sklavenketten, die es fesselten an den - Gedanken, eine freie, Sinnesreize, souveräne Wort-Majestät. Ich nenne Worte, was andere Gedanken nennen mögen: ich habe keinen Respekt vor der mechanisch - grammatikalischen Zusammenschweißung von Worten. Ein Satz ist noch kein Gedanke und er erringt diesen Wert auch dadurch nicht, daß er an andere Sätze assoziativ angereiht ist. Diese wahllosen Assoziationen sind für "Rembrandt als Erzieher" charakteristisch. Es scheint, als ob der Verfasser alles, was ihm sein Leben lang im eigenen Hirne eingefallen und in fremden Köpfen aufgefallen war, in diesem Buche zusammengeworfen hat, nachdem er jeden Einfall, jedes Zitat so lange angeguckt, bis er ein assoziatives Schwänzchen entdeckt; dann band er flugs die Schwänzchen aneinander, und so stürmt die wilde Meute der Assoziationen kopfüber kopfunter in wirrem Knäuel gegen die betäubte Menschheit. "Das alles Organische beherrschende Prinzip der Zelle, mit ihrem Zellen-Kern ist hier aufs soziale Gebiet übertragen. Und dieses berührt sich wieder mit kosmischen Verhältnissen; der Bauer, der auf Grundbesitz begründet ist und ein Stück der Erdoberfläche sein eigen nennt, tritt dadurch in ein ganz direktes Verhältnis zum Erdzentrum; und durch dieses wieder zum Weltzentrum wie zum Herrn der Welt. Er steht Gott und der Natur nahe. Ein Bauer muß fromm sein; ein gottloser Städter läßt sich allenfalls er-

 

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tragen; aber ein gottloser Bauer ist etwas abscheuliches. Andererseits haben wieder Sonne und Mond so gut einen Hof um sich, wie jeder Bauer und jeder König den seinigen; im organischen Bau der Welt berührt sich auch das entfernteste; eben darauf beruht die Harmonie desselben." (p. 126) - Man wird nach dieser Probe begreifen, warum neuerdings bei studentischen Saufereien in der Zeit, die Bier und Brüllen übrig läßt, nicht nur von Weibern und Mensuren, sondern auch von "Rembrandt dem Erzieher "bewundernd gesprochen wird. Es ist just die richtige Verfassung zum - Verständnis!

Gerade dieses wahnwitzige Assoziieren ist echt romantisch. Alle Wissenschaften und Künste, Mathematik und Malerei, Politik und Musik, Recht und Zoologie, Philosophie und Baukunst u. s. w. u. s. w., alles wird in Einen assoziativen Brei zusammengerührt, auf daß die Einheitlichkeit der Welt erwiesen würde, wobei übersehen wird, daß ein Brei nicht einheitlich ist. Symphilosophieren nannte man ein derartiges Thun in der Zeit der romantischen Schule.

Romantisch ist das Orakelhafte, Mystische, der Kultus des Individuums und vor allem die Sucht, alles und jedes mit künstlerischer Sauce zu übergießen. Religion ist Kunst, Mathematik ist Kunst, Politik ist Kunst - man wird ganz taumelig von diesem romantischen Spiel mit dem Künstlerischen. Und dabei ist es das Wunderbare, daß ein Buch, das auf jeder Seite zehnmal das Wort "künstlerisch" enthält, selbst so unkünstlerisch komponiert ist wie möglich. Alles Unmögliche und wenig Mögliches wird kunterbunt durcheinander geschrieben, bis so etwas wie das Profil von Rembrandt zum Vorschein kommt, ähnlich den kalligraphischen Kunststücken, wo aus der Lebensgeschichte eines Kaisers sein Bild zusammengeschrieben ist.

Natürlich macht auch "Rembrandt als Erzieher" reichlich von dem durch Nietzsche eroberten Recht Gebrauch, Wahrheiten zu dekretieren. "Es ist so, es soll so sein!" in diesen beiden Sätzen bewegt sich der oftmals komisch wirkende Stil ("Wüsten sind bekanntlich (!) heiß und trocken") dieses verrückten Buches zumeist. Nur ist der "Erzieher" bisweilen höflich und befiehlt nicht, sondern bittet in aller Bescheidenheit darum, man möge doch universal, makroskopisch, künstlerisch, individuell werden.

Alle diese Weisheiten schweben in romantischer Nebelwelt, sie fühlen sich nur wohl und gelten etwas, so lange sie von mystischem Schimmer umflossen sind. Geraten sie auf die praktische, klare Erde, so entpuppen sie sich als lächerliche Vogelscheuchen. Nichts ist dümmer und lustiger in dem Buch als die politischen Bemerkungen. Gerade die hochtrabenden, geist-

 

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vollen, psychologischen Ableitungen, Begründungen, Verknüpfungen auf dem Gebiete der Politik sind, bei Lichte besehen, häufig barer Unsinn. Die Nahrungsmittelpreise dienen oft mehr zur Erklärung irgend welcher rätselhaften Erscheinungen als die tiefsinnigsten Abstammungsgrübeleien. Aber daran denkt der "Erzieher" nicht, das ist ihm zu gemein, wie er uns auch statt des nüchternen Brotes wirbelnden Dunst giebt. Dennoch ist es nun einmal wahr: Nahrungsmittel ist zwar prosaischer und unkünstlerischer als etwa das Wort "Blut", gleichwohl übt die Magenbeschaffenheit einen wichtigeren Einfluß aus, als das "Blut" die Rasse, die Kreuzung. Würde Rembrandt sein Erzieheramt praktisch ausüben, es würde ein prächtiges Lustspiel geben. "Rembrandt als Hauslehrer" könnte der Titel einer aristophanischen Posse sein.

Nietzsche schrieb einen "Schopenhauer als Erzieher". Schon der Titel erinnert an das von Langbehn verübte "Ereignis", wie schmeichelnde Kritiker sein Werk genannt. Der Rembrandt-Mann hat vielerlei gemein mit Nietzsche; er verdenkt sich nicht nur, sondern er verdankt auch. Dennoch wird im "Rembrandt als Erzieher" der Name Nietzsche nur einmal flüchtig erwähnt. Das scheint mir undankbar gegen den gleichstrebenden und, wenn ich recht unterrichtet bin, auch persönlich befreundeten Umwertungskollegen. Diese Schweigsamkeit ist allerdings sehr auffällig, so daß man den Zufall zur Absicht potenzieren möchte. Scheute sich Jung - Rembrandt vor der Größe des Genossen? Ist doch alles, was Langbehn wertvolles sagt, schon von Nietzsche viel schärfer, geistreicher und weniger geschwollen gepredigt worden. Freilich ist jener nicht so revolutionär wie dieser, er fegt nicht die Moral hinweg, um zu dem geliebten Individualismus zu gelangen, sondern er kehrt aus dem erworbenen Abfall sämtlicher vier Fakultäten nebst deren Zubehör, der Akademien, einen gewaltigen Staubhausen zusammen als Fundament für seine nicht allzu neue Weisheit. Aber er hätte doch für Nietzsche ein paar dankbare Assoziationen übrig haben sollen, ein paar Vergleiche aus den vier Grundrechnungsarten oder einige "von innen heraus" und "von außen hinein", Antithesen, die trotz ihrer Billigkeit stets geschmackvoll und trotz ihrer "halbseidenen Qualité" wie echt wirken. Ach, Originalgenies haben ja die mühsame Verpflichtung, in der Kunst des Zeugens und Gebärens selbst Jupiters Athene-Wunderthat zu übertreffen: sie gebären sich aus ihrem eigenen Hirn, wenigstens geberden sie sich so! Freilich boshafte Skeptiker munkeln vielleicht, daß die Geburtszange, der hephästische Hammer, der bei diesem freudigen und original-genialen Ereignis fördernd und befreiend half, eigentlich ein - Dietrich war, der in fremden Schädelmutterleibern Verwendung gefunden...

 

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Doch genug des Spottes! Niemand, der sich durch "Rembrandt als Erzieher" klaren Verstandes durchgewürgt, wird es mir verargen, wenn ich mir nach den entsetzlichen Qualen der Lektüre einige Erleichterungen verschaffe, mich austurne und auslüfte durch Übungen und Mittel, die vielleicht jenseits des guten Geschmacks liegen.

Nach dem Ärger die ruhige Gerechtigkeit! Darum will ich das nach dem Vorhergehenden überraschende Geständnis machen: Ich halte trotz allem geistigen, ja fast physischen Ekel gegen "Rembrandt als Erzieher" weder das Buch noch seinen Verfasser für unbedeutend. Im Gegenteil! Es findet sich manches Feine, Tiefe, Anregende in dem Werke. Aber was will das besagen, wenn man in dem wüsten Brockengemengsel einzelne Delikatessen findet, ähnlich den Konglomeraten, die man des Morgens an den Häusern als Spuren magenschwacher Nachtschwärmer nicht selten sieht. Ich habe nach der Lektüre des Buches, wie gesagt, den Eindruck des Bedeutenden erhalten. Das hindert mich aber nicht, sondern veranlaßt mich gerade dazu, schärfer und vielleicht ungerechter zu urteilen. Die geistige Potenz hat nichts mit dem rücksichtslosen Kampf gegen geistige Verkehrtheit zu thun. "Rembrandt als Erzieher" bildet ein Hemmnis für die ernste, feierliche Ausgabe, die unserer Zeit gestellt ist und die vor allem klare Köpfe braucht, für den sozialen Freiheitskrieg. Als der bürgerliche Freiheitskrieg dieses Jahrhunderts alle wachen und männlichen Geister rief, da standen die Romantiker in ihrem vornehmen Schönheitskultus als echte Kunstgenüßlinge grollend, schmähend, beißend beiseite und beschworen so auf ihre ästhetisierenden Häupter das herrliche Zorngericht herab, das Ruge und Echtermeyer in ihrem gegen die Romantik gerichteten "Manifest" in den "Halleschen Jahrbüchern" abhielten. Etwas ähnliches erleben wir jetzt, wo es gilt, den sozialen Freiheitskrieg durchzuringen. Es ist traurig, wenn einzelne bedeutende Geister, zu denen ich den Rembrandtmann, es sei nochmals betont, trotz alledem zähle, sich abseits von diesem Kampfplatz stellen. Das Eine aber wenigstens muß jeder mit allen Mitteln zu verhüten suchen, daß der eine Abseitige nicht noch andere verführt. Darum mit aller Härte, Bosheit, Rücksichtslosigkeit in den Kampf gegen die Verkehrtheit!

Und gleich dem Vorwurf will ich noch zuvorkommen, daß ich in oberflächlicher Weise nur gewisse Äußerlichkeiten des Rembrandtbuches hervor gezerrt hätte, ohne auf den Kern einzugehen. Ich werde, wenn ich die einzelnen Anschauungen Nietzsches eingehend beurteile, gelegentlich an "Rembrandt als Erzieher" denken, ich kann allerdings nicht versprechen, daß die Bewunderer der "hervorragendsten Erscheinung seit zehn Jahren" dadurch

 

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zufrieden gestellt werden sollen. Erschöpfend zu sein, beanspruche ich ja übrigens überhaupt nicht, mit diesen losen, aphoristischen, subjektiven Bemerkungen über das Zeitproblem, das man "Nietzsche" nennen darf. Nur Einen Satz bestrebte ich mich, einleuchtend zu machen:

Wir haben an Einem Nietzsche genug!

Es wird sich nunmehr darum handeln, darzuthun, was uns dieser Eine Nietzsche sein kann.

Ins Schwarze also des Systems Nietzsche!

 

VI.

Es ist eine schwere, weil zielschwankende Aufgabe, gegen die Lehre Nietzsches zu schreiben, weil diese Lehre als Wesenskern schlummert in einer Welt von schillernden, grell widersprechenden Gedanken. Aus dieser verwirrenden Welt der Erscheinung das Ding an sich auszulösen, ist ein recht schlüpfriges, anfechtbares Unternehmen. Man kann mehr nach Eindrücken als nach Erkenntnissen urteilen, indem als besonders zweckmäßiger Leitfaden der Einfluß Nietzsches auf seine Schüler dient. Nietzsche ist ein Mann der Einfälle, die je nach Stimmung, Anschauung, Erfahrung aufgefangen und aufgespießt werden, ein Künstler, der je nach Laune und Liebe vorüberschwirrende Gedankenwölkchen zärtlich in Farben festhält, ein Grübler, der in allem den verwundbaren, wunden Punkt sucht und findet, und dem alles unter den scharfen Augen zerrinnt; ein solcher Mann ist naturgemäß voll unlöslicher Widersprüche.

Nietzsche zerstört gleich wieder, was er eben gebaut. Ewiges Auswühlen und Auswerfen wechselt ab mit mißmutigem Ebenen und Niederwerfen. Bisweilen scheint es, als entstünde etwas Neues, Festes, Ganzes - der ruhelose Spaten aber schaufelt alles wieder ins Wesenlose.

Der Denker, der sich geistig erhalten will, muß selbst auf Kosten des allezeit mordlüsternen kritischen Gewissens vorläufig und vorbehaltlich eine bestimmte Summe von Erkenntnissen als unantastbaren eisernen Fonds festlegen. Greift er diesen Fonds in faustischer Zerstörungssucht an, so zerstört er mit den Gedankenschöpfungen auch den Gedankenschöpfer, wie dies Nietzsche gethan, von dem schließlich nur ein grausig-großartiges Trümmerfeld übrig geblieben ist. Alles auf einmal "lösen" wollen, heißt alles zerstören, und der Zerstörer wird ein Verstörter. Niemand schreitet vorwärts, der beide Füße gleichzeitig hebt. Ein Fuß muß stets auf der Erde ruhen. Weises Rasten bringt schneller zum Ziel als wildes Hasten.

Ich habe diese Bemerkungen nicht unterdrücken können, weil ich von

 

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vornherein bei meinem Kampf gegen Nietzsche den Einwand ablehnen möchte: "Was du da gegen Nietzsche anführst, sagt er ja selbst da und da, Seite so und so." Gewiß: die Rüstkammer Nietzschescher Gedanken bietet reichlich Waffen gegen Nietzsche. Ich wende mich aber gegen den Geist, der über dem Chaos schwebt, den Geist, der schließlich der feste Punkt in all dem Schwanken ist, den Geist, der auf die anderen Geister gewirkt hat.

 

VII.

Nietzsches Lehre ruht auf morschem Grund, durch seine eigene Schuld. Seine erkenntnistheoretischen Anschauungen dienen nicht dazu, wie sonst bei den Denkern, einen festen Untergrund für die ethischen. ästhetischen u. s. w. Lehrsätze zu schaffen. Der vernichtende Hammer des Umwerters trifft nicht zum mindesten das Fundament, den Begriff der Wahrheit.

Was ist Wahrheit? Die alte, schmerzhafte viel und mithin nie beantwortete Frage! Da leistete man Verzicht auf das Finden und begnügte vergnügend sich am Suchen (Lessing), bis man auch des Suchens mißtrauisch müde ward: Nietzsche. Für Nietzsche giebt es keinen Trieb zur Wahrheit; daß er selbst Wahrheiten gefunden zu haben glaubt, ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Einmal vergißt er nie, auch seine liebsten Wahrheiten argwöhnisch zu verdächtigen; und dann spricht er öfters seinen Widerwillen gegen das Suchen von Wahrheiten aus, er ringt sie sich ab, gegen seinen natürlichen Instinkt, der die Unwahrheit will, er "überwindet" sich.

Für Nietzsche ist die Wahrheit ein Weib und er liebt es, wie ein moderner Weiberhasser die Weiber liebt. Er schilt es falsch, kokett, lügenhaft, begehrlich, heuchlerisch, dämonisch - unbegreiflich, grausig-problematisch - letztere beiden Attribute besonders modern! - und dennoch liebt er es, nicht ohne skeptisch zu fragen, ob es die Liebe verdient, und ob das überhaupt Liebe ist, was man empfindet. Nun wohl, sie ist ein Weib, die Wahrheit. Jedenfalls ist sie dann etwas, und nichts Geringes, Wesenloses, etwas, was man begehrt mit dürstenden Sinnen, unwiderstehlich begehrt - doch ich sehe, daß diese Folgerung falsch ist, das unwiderstehliche Begehren wird ja in Frage gestellt. Gehen wir einen anderen Weg. Suchen wir festzustellen, wie stark dieses Begehren nach Wahrheit war; ist die Stärke zweifellos, dann wird man mit weniger Geringschätzung um ihre Quellen. sich bemühen und sie nicht als Wahngespenst betrachten, über das man sich lustig macht, nach dessen Ursachen man aber nicht fragt.

Ich meine nun, daß der Kampf um die Wahrheit seit jeher eine verzweifelt ernste Sache gewesen ist, nicht nur ein blutloses Schmachten blasser

 

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Gelehrsamkeit und Fachdenkerei. Die Wahrheit hat Völker gebannt und Völker vernichtet, Krieg und Frieden hat sie entschieden und Glück und Unglück aus ihrem Schoße geboren. In der Religion, im Glauben finden wir das Wahrheitsstreben in heilig wilder Form. In der Religion finden wir auch schon die bodenlose Verzweiflung an der Wahrheit. Im jenseitigen Monotheismus wird Verzicht geleistet, im Wirrsal des Diesseits die Wahrheit zu entdecken. Begnügt man sich einfach mit diesem Verzicht? O, nein! Man kann nicht leben ohne Wahrheit, und so thut man das Unglaubliche: man macht einen Strich durch das ganze Diesseits und baut eine neue Welt, welche die Wahrheit ist, die wir erstreben, die feste, sonnenhafte Wahrheit: das Jenseits. Man sieht, wie nahe diese religiöse Anschauung dem Kantschen Idealismus steht. Das "Ding an sich" ist auch nur ein Erzeugnis der Sehnsucht nach fester Wahrheit, ein vernüchtertes Paradies. Der Trieb nach Wahrheit war in den Anfangsepochen der Menschheit leidenschaftlicher, roher als alle anderen Triebe. Er glühte stärker in den Afterwissenschaften als in den Wissenschaften, stärker in der Astrologie als in der Astronomie, die übrigens in gleichem Verhältnis zu einander stehen, wie Theologie und Philosophie.

Und hier können wir nun der Wahrheit ins Auge ihres Wesens sehen. Die Wahrheit ist einfach etwas, das man besitzen muß, um leben zu können. Mit zahllosen Fasern ist sie verwebt mit der Lebensmöglichkeit. Wir müssen sie haben, um zu sein. Darum trat das Streben nach Wahrheit so gewaltthätig auf, im Anfang, als wir noch gar keine Wahrheiten hatten und sie uns Stück für Stück erringen mußten. Nun haben wir die Wahrheiten, die unmittelbar in unsere Existenzen einschneiden, darum können wir nach Luxuswahrheiten spähen, mit einiger Behaglichkeit und Ruhe, so daß man wohl berechtigt ist, an der elementaren Gewalt dieses Wahrheitstriebes zu zweifeln.

Der Wahrheitstrieb wurzelt tiefer, als Nietzsche glauben machen möchte, dessen flachwurzelnde Wahrheitsvorstellung freilich von dem geringsten Winde umgeweht wird. Um einen Trieb handelt es sich, der Nahrung und Weg der Selbsterhaltung ist. Selbst wenn ich Nietzsches Ethik annehme, bleibt der Wahrheit diese fundamentale Stellung. Wie kann man ohne Wahrheit den Nietzscheschen Willen erfüllen, den Willen zur Macht? Wer nicht weiß, was ist, was zu fürchten und was zu verachten, der kann nicht herrschen ...

Das Unwahre ist furchtbar, gefährlich, elementar-überraschend, trüglich. Darum ist es zu fürchten und zu überwinden durch das Wahre, das ein gezähmtes Raubtier, d. h. Haustier ist,. verläßlich, treu, berechenbar,

 

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segenspendend. Ein Irrtum ist es, die Wahrheit für vernichtend zu halten. Nur der Akt der Zähmung, der jähe Übergang vom Unwahren zum Wahren, von der Bestie zum Schoß- und Schirmtier ist gefährlich, lebensgefährlich. Der Wille zur Wahrheit ist ein unbewußter oder bewußter Wille der Selbsterhaltung. Das ist die einfache Lösung der von Nietzsche zu nachtbanger und nachtdunkler Mystik ausgezauberten Frage. "Es ist nicht immer nötig, daß die Wahrheit nützlich sei," sagt Taine. Setzt man statt "sei" "scheine", so kommt dieses schäkernde Scherzwort über die Wahrheit der Wahrheit näher.

Der "Willen zur Täuschung", von dem Nietzsche spricht, ist entweder in objektivem Sinne eine Gemeinheit zur Erreichung irgend welcher Zwecke, also überhaupt kein "Willen", oder subjektiv gefaßt Folge des psychischen Trägheitsgesetzes, das eine entartete Form der Selbsterhaltung darstellt.

Nietzsche nennt die Unwahrheit eine Lebensbedingung. Die Unwahrheit ist dies in der That so weit, als sie Erhaltung der gewohnten Lebensbedingung ist. In Wirklichkeit handelt es sich um Pseudolebensbedingungen, an deren Wertlosigkeit darum nichts geändert wird, weil ihre Unterbindung, Abbrechung die Lebenskraft zu erschüttern, vielleicht zu vernichten geeignet ist. Niemand wird darüber im Zweifel sein, daß ein Leben in gut gelüfteten Räumen eben so lebensfördernd ist, wie das Wohnen in schlechter heißer Lust lebensschwächend. Dennoch geschieht das Unglaubliche: Ein Mensch, der aus schlechter Gewohnheit sein Leben lang in solch dumpfiger Stickluft zugebracht, wird durch einen Zufall genötigt in frischer, derber Luft zu weilen. Was ist die Folge? Husten, Lungenentzündung, Tod. Das Lebensfördernde war also hier das Tötende. Wer wird nun deshalb anstatt die gesunde, kräftige Luft den miasmenvollen Stubendunst Lebensbedingung nennen? An sich Lebensförderndes wirkt lebenshemmend, wenn die Gegensätze zu schroff, die Temperatur zu jäh wechselt. Der Tod aus Freude, der heilkräftigsten Arzenei, ist ähnlich dem "Tode", aus plötzlicher Wahrheit, die an sich die Basis des Daseins ist.

Eine angebliche Wahrheit, mit deren Erkenntnis das Leben vernichtet wird, beweist gerade dadurch, daß sie ein Irrtum ist. Wollen wir überhaupt irgend wie die Rätsel der Welt zu lösen unternehmen oder wollen wir uns auch nur um sie kümmern, so muß das als unerschütterliches Dogma feststehen, was ja auch der gesunde Instinkt selbstverständlich macht: Das Leben ist eine Notwendigkeit. - Der Dichter, der aus Stimmungen und Gefühlen heraus Weltbetrachtungen produziert, darf mit Recht klagen über die schmerzhaften Wehen bei der Geburt neuer Wahr-

 

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heiten; der Denker, der über die Launen des Tages erhaben mit kühler, hochstehender Freiheit zu urteilen hat, wird über dem Geborenen, dem Wesentlichen die Wehen vergessen, die bei dem Dichter das alles färbende Zentralmittel sind.

Wenn ich mich so entschieden gegen die pikante Behandlungsart des Wahrheitstriebes, die Nietzsche liebt, gewendet, so will ich andererseits den Begriff "Wahrheit" durchaus nicht überschätzen.

Die Haupteigenschaft der Wahrheit wird gemeiniglich nicht beachtet: Die Wahrheit braucht nicht wahr zu sein - wahr in dem Sinne des Ewigen, Unumstößlichen.

Wahrheiten werden geboren, sie leben, wachsen und sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist. In einzelnen erleuchteten Köpfen fließt die Summe aller Weltbetrachtungen, der ererbten und erworbenen, zu einem neuen Element zusammen, zu einem neuen, eigenartigen, einheitlichen Wesen. Das neue Element ist eine neue Wahrheit, die unter die Menschen geht, sie erschreckt, ängstigt, gegen sich aufhetzt und schließlich siegt, bis es dann einem späteren Geiste gelingt, das Element in seine Bestandteile zu zerlegen und es somit als ein Nicht-Element, als eine Nicht-Wahrheit zu erweisen. Aber gerade dieses Lebendig-Vergängliche der Wahrheiten macht es uns zur Lust, Wahrheiten zu suchen, zu erkämpfen und in die Massen hineinzusiegen, indem wir die Irrtümer verfolgen und vernichten.

Wahrheiten leben längere oder kürzere Zeit, je nachdem sie sich ihrem abstrakten Begriff mehr oder minder annähern. Einige scheinen in der That ewig zu sein: Das sind die großen, ewigen Ahnungen der Menschheit.

Diese großen, ewigen Ahnungen, die von einzelnen Hirnen ausgehend sich allmählich zum festen Gemeingut, zur bildenden Form und zum Ur-Inhalt des Menschheitshirns entwickelt haben, werden nun von Nietzsche scharf geprüft - eine schwere Prüfung für diese Ahnungen. Nietzsche naht als Versucher dem Weibe Wahrheit. Ist der Versucher, wie meistens, auch zugleich der Zerstörer? Ich glaube, die Wahrheit hat mit dem Versucher nur gespielt, siegreich geht sie aus den verwirrenden Anfechtungen hervor...

Was treibt Nietzsche gegen die ewigen Ahnungen in den Kampf: Launen, die Launen des Tages, der Stunde, des Augenblicks.

Die Linien des Menschenwesens formen sich nicht scharf und klar auf dunklem, inhaltlosem Hintergrunde zu Gebilden; eine unendliche Menge feiner, schattenhafter Linien umkreisen, umfließen die Konturen, verwischen sie fast bis zur Unkenntlichkeit. Wenn man schärfer sieht, so erscheinen diese Neben- und Nebelgebilde als zahllos verschiedenartige Karrikaturen des

 

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Hauptgebildes, wie eine gewaltige Fülle von Brechungen Einer Gestaltung in mannigfach geschliffenen Spiegeln. Die dogmatischen Denker nun verachteten, ignorierten diese Nebenerscheinungen, sie beachteten nur die großen Wahrheiten. Nietzsche aber senkte gerade aus dieses Schattengewirr den forschenden Blick, und plötzlich schien ihm alles nur ein krauses, verringeltes Labyrinth; er sah überhaupt nicht mehr die großen Formen und Wahrheiten, der Kosmos wandelte sich ihm wieder ins Chaos; der Kosmos war überhaupt nur Lügenwahn enghirniger Dogmatiker, das Chaos war vorläufig das einzig Wahre, aus dem erst eine neue geordnete Welt geschaffen werden mußte. Jede aufblitzende Regung der Psyche, Erscheinungen, die vielleicht kaum bisher bewußt, beobachtet waren, galten ihm genau so wertvoll, wie jene ewigen Ahnungen und wertvoller und wahrer, wenn sie den bisher geltenden Dogmen widersprachen.

Denn das dürfen wir nicht vergessen: für Nietzsche ist die Wahrheit ein Weib. Eigentlich hat er nicht so sehr Abneigung und Mißtrauen gegen die Wahrheit im Allgemeinen, als gegen alte Wahrheiten, er kann alte Weiber nicht leiden.

Alte Wahrheiten machen, weil sie zu oft ausgesprochen werden, selber den Eindruck des Geschwätzigen; und dann haben sie eine für Neudenker unverzeihliche Eigenschaft: sie sind trivial. Dennoch wachsen gerade auf dem Felde der Trivialität die festesten Wahrheiten, wie die ewigsten Schönheiten: das triviale Einmaleins und der triviale Frühling. Man darf das Streben nach Wahrheit nicht zu einer Sache prickelnder Nervenreizung machen. Das Langweilige weilt lange und wird durch die Dauer nicht falsch, wenn es vorher wahr gewesen. Die "Interessanten" aber wollen nur die Nerven mit neuen Einfällen kitzeln und das Alte, Langweilige, Triviale schelten sie Lügen. - Um keinen Preis in der Welt möchte ich das Recht auf das Paradoxe bestreiten, den Wagemut des kühnen, kecken Behauptens verkümmern - aber, wenn ich bitten darf, nicht nur Pfeffer, nicht ausschließlich Sport, nicht stets Sensation. Gebt uns auch ein wenig Schwarzbrot, schwerfällige Arbeit und zähe Langeweile!

Nietzsche giebt nichts aus die Wahrheit, drum giebt er auch nichts für sie aus; nackt und bloß läßt er sie in die Welt ziehen. Seine Wahrheiten brauchen sich nicht auszuweisen, sie sind - und damit Basta! Da sie einen so großen Papa haben, brauchen sie den Leuten nicht erst lang und breit auseinanderzusetzen, was sie sind; ihr Berechtigungsschein liegt in ihrem Dasein und ihrer Abstammung. Wenn Nietzsche sagt, die Grundwahrheiten lassen sich nicht beweisen, so kann man damit wohl einverstanden sein, wenigstens für den gegenwärtigen Entwickelungsgrad des Menschenhirns.

 

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Nicht jede beliebige Behauptung aber ist eine Grundwahrheit, auch dann nicht, wenn sie von einem noch so erlauchten Gesetzgeber - siehe oben! - dekretiert wird. Und dann scheint Nietzsche zu sagen: Das läßt sich nicht beweisen, folglich ist es wahr - ein Schluß, der denn doch allzu sehr nach dem Hammer schmeckt, dessen Schläge zertrümmern, aber nicht bekehren. Nietzsche spricht in seinem Wagner-Pamphlet die abscheuliche, unausdenkbare Vermutung aus, Wagner habe das, was er nicht gekonnt, den Leuten als seine eigentliche Force aufgeschwatzt, aus der Not seiner Melodienarmut habe er die Tugend seiner ewigen Melodien gemacht. Sollte Nietzsche nicht einen ähnlichen Täuschungsversuch mit seinen beweislosen Wahrheiten unternommen haben?

Nietzsches späte Selbstkritik über sein Erstlingswerk trifft auch auf seine letzten Bücher zu: "ohne Willen zur logischen Saubergkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend, mißtrauisch selbst gegen die Schicklichkeit des Beweisens, als Buch für Eingeweihte, als 'Musik' für solche, die auf Musik getauft ..."

Da Nietzsche den Begriff der Wahrheit mit unbarmherziger Grausamkeit auflöst, so haben wir das tröstliche Recht, nicht zu glauben, wenn er nun diese Auflösungsthätigkeit auch auf die ganze Kultur anwendet, wenn er die Zeit in rapidem Kräfte- und Säfteverfall befindlich, wenn er die Welt sterbenskrank sein läßt und wenn er mit triumphierender Bosheit auszurufen scheint: Die Gesundheit ist tot, es lebe die Decadence!

 

VIII.

"Niemals darf ein Volk wähnen, das Ende sei gekommen," sagt Joh. von Müller. Die Modernen aber rufen vergnüglich: "Juchhe! Wir sind am Ende!" indem sie das Ende ihres Witzes fälschlich in liebenswürdiger Unbescheidenheit dem Ende der Welt gleichwerten. In der Wollust des Decadencegefühls findet sich Nietzsche zusammen mit seiner ganzen, gläubigen Gefolgschaft, "Rembrandt als Erzieher" inbegriffen. Es giebt ordentliche Decadencejünger, Verfallsschnüffler, Fäulnispiraten. Sie haben indessen gleich ihrem großen Vorbild Nietzsche, sämtlich, trotzdem der Fall so verzweifelt erscheint, ihre Heilmittel in der Hosentasche und empfehlen mit quacksalberischer Unfehlbarkeit ihre Einspritzungen und Tränklein. Die Leute prahlen, um ihre Erkenntnisschärfe zu erweisen, mit der Decadence, wie Menschen, die sich, um ihre Mannheit zu dokumentieren, mit der -Syphilis brüsten. - Die ursächlichen Zusammenhänge mit verwandten französischen Erscheinungen zu verfolgen, zu untersuchen, wie weit das ganze Decadencegeheul nur "litterarisch" ist, das bleibe hier außer Acht.

 

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"Rembrandt als Erzieher" scheint darin das Hauptsymptom der Decadence zu erblicken, daß es Professoren giebt, die Geld und Geltung haben. Ich habe weder solchen Generalhaß gegen diesen sich und mitunter auch anderen nützlichen Stand, noch lege ich ihm eine so zentrale Bedeutung bei, daß ich aus der einen kranken Zelle die Erkrankung des ganzen Körpers folgere. Nietzsche sticht unendlich viel tiefer und er besticht deshalb auch mehr.

Seit dem Sündenfall, wo die psychophysische Decadence mit einer unangenehmen lokalen "Decadence" verbunden war, sind die Menschen nicht müde geworden, über die wachsende Entartung zu jammern. Nestor that es zu jener Zeit, da Achillens blühte, Cato klagte just, als die Geschichte erst losgehen sollte, ich meine die Geschichte der römischen Weltherrschaft. Würde man diesen Decadence-Schweißhunden glauben, so hätten wir in der Geschichte das Bild einer ewigen Decadence, die Völker würden in einem endlosen, stets sich neu gebärenden Todeskampfe liegen - jedenfalls ein höchst kräftiger, zeugungstüchtiger Todeskampf, beneidenswert vor manchem Undecadence-Lebenskampfe! Vielfach ist es wohl nur der historische Stoffwechsel, dessen Begleiterscheinungen die Nasen der Moralisten und - neuerdings - Immoralisten widrig reizen. Gehen aber überhaupt die Völker an ihrer Decadence unter? Sofern wir mit Nietzsche unter Decadence die Verrottung und Verkrüppelung der natürlichen Instinkte verstehen, so ist diese Frage durchaus nicht ohne weiteres mit ja zu beantworten. Vielmehr bleibt die Lösung des Problems eine schwierige Aufgabe kundiger Geschichtspsychologen. Wenn die alten Römer, statt in Decadence-Philosophie zu spekulieren, Pulver und Flinte erfunden hätten - nach der neueren naturwissenschaftlichen professoralen Erkenntnis wird das Pulver niemals von Philosophen erfunden! - die degenerierten Herren lebten heute noch und das saftgesunde Germanentum wäre vielleicht nie zum Deutschen Reich entartet, weil es jenen beiden Erfindungen erlegen wäre. Ich bemerke, daß ich diesen Scherz dem festen Stab der Collegwitze entlehne, die für du Bois-Reymondsche Vorlesungen die erfolgreiche Rolle von Anreißern spielen. Im Ernst aber müssen wir uns an den Gedanken gewöhnen, daß die Menschheit selbst nicht an ihrer Decadence, sondern an der Decadence der Erde, d. h. ihrer Vereisung sterben wird. So viel jedenfalls steht fest: Es gehen Völker zu Grunde, deren gesunde Instinkte noch nicht das leiseste Kulturgift gesogen haben: die Indianer; andererseits überdauern Nationen in degeneriertem Zustande gesunde Völker und Zeiten: die Juden. Das Eine also muß als sicher hingestellt werden: Die Decadence braucht nicht tötlich zu sein, und der Tod der Völker braucht nicht die Folge der Decadence zu sein.

 

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Die heutige Decadenceheulerei unterscheidet sich wesentlich von der früherer Zeiten. Sonst war es der grämliche, besorgte und beschränkte Entrüstungs-Pessimismus von Idealisten, etwas Frisches, Geistiges, Beseeltes lag in jenem Wettern über die schlimme Gegenwart. Heute ist es kein Wettern, sondern ein Wimmern, etwas Medizinisches haftet dieser Bewegung an, es riecht nach altem Fleisch, nach der Klinik, es ist die Atmosphäre der Hautkrankheiten. Die Welt hat zu viel Arzte und zu viel Arzneien - sie ist ganz hypochondrisch dadurch geworden. An den Fenstern der Moderne stehen Apothekerflaschen, auf ihren Treppen duftet es nach "Geist" im pharmazeutischen Sinne, auf ihren Tischen liegen allerhand blanke Werkzeuge aus chirurgischen Kramläden. Das giebt der modernen Decadencerichtung den muffigen, unlustigen, unfrischen, verdorbenen Zug. Die Decadents sind keine lungen- und muskelstarken Bußprediger, es sind Spezialisten gegen geheime Krankheiten. Für ein Mitglied der ordentlichen Ärztegilde ist der Titel: Zeitungsarzt d. h. ein Arzt, der in der Presse inseriert, der größte Schimpf. Die Decadents sind Zeitungsärzte, Zeitschriftärzte. Der Dichter des Zarathustra unterscheidet sich in diesem Betracht sehr wesentlich und sehr vorteilhaft von seinen Decadence-Jüngern; es ist Höhenluft in ihm, der Krankendunst liegt unter ihm, der auf den anderen lastet.

Alles schön, gut, richtig finden, das vermag nur ein Lügner, der aus Geschäftsrücksichten zu einer Art von Offiziösenoptimismus verpflichtet ist, oder ein - Schwachkopf. Stets wird es Dinge geben, die zu bekämpfen, und andere, die zu erkämpfen sind. Frisch los auf die Hatz gegen Lüge und Heuchelei, Anmaßung und Feigheit, Unterdrückung und Duldseligkeit, Dummheit und Gemeinheit! Der Wald ist groß und der schädlichen Raubtiere sind viele, und der Lohn ist herrlich! Aber nur nicht jenes schlaffe, schlappe Verzagen, jenes hohlzähnige Benagen der Welt, die denn doch nicht ein fauler Knochen ist, jene lüsterne Krankheitsspähsucht und Auswurfschau! Ihr sprecht der Welt das Todesurteil, und sprecht es euch doch nur selber: "Niemals darf ein Volk wähnen, das Ende sei gekommen!"

Wir werden die Decadencebehauptuug Nietzsches am besten auf ihre Richtigkeit prüfen, wenn wir die einzelnen als beweisend angeführten Symptome und Ursachen der Decadence näher betrachten.

 

IX.

Das untrüglichste Kennzeichen der Decadence ist der Pessimismus. Das war die Ansicht Nietzsches in seiner letzten Zeit, da er

 

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seinen eigenen zähwurzelnden Pessimismus zu überwinden trachtete.*) Nicht lange zuvor aber fragte er: "Ist Pessimismus notwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Mißratenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte? - wie er es bei den Juden war..." Und die Antwort lautete: nein! Es giebt noch einen anderen Pessimismus, der gerade das Zeichen der Gesundheit ist. Das blühende, starke Griechentum war pessimistisch - nach Nietzsche -, als Hellas sank, wurde es optimistisch, eudämonistisch, epikuräisch. Damals gehörte der Pessimismus noch zum Inventar der schönen, griechisch gebildeten Übermenschenseele, wenig später wurde dieser "romantische" Pessimismus überwunden, entlarvt als fauliger Ausfluß der Decadence. So lange Nietzsche an Schopenhauer und Wagner glaubte, schwor er aus den Pessimismus, als er diesen als Krankheit empfand, kehrte er auch den beiden Un-Heilanden den Rücken. Welcher Nietzsche hat Recht? der letzte oder der vorletzte?

Wenn Nietzsche schließlich den ganzen verruchten Pessimismus dem Semitismus zur Last legte, so zeugt das von dem Einfluß der antisemitischen Strömung, mit deren Führerschaft er ja übrigens auch persönliche, sogar verwandtschaftliche Beziehungen hatte: Nietzsches Schwester war, soviel ich weiß, die Gattin des bekannten Arierapostels Dr. Bernhard Förster, der sich in seiner letzten Lebenszeit allerdings - gleich seinem Schwager - von dem "infizierten" Gebiet des praktischen Antisemitismus abgewendet haben soll. Über das Kapitel: "Nietzsche und die Rassenfrage" wird später noch gründlich verhandelt werden müssen. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß Schopenhauer gerade den "ruchlosen Optimismus" des Judentums an den Pranger seines Jammermarktes, will sagen seiner Welt stellt, und daß jüdisch-theologische Forschungen allerneuester Zeit sich bestreben, Israel von diesem fürchterlichen Vorwurf des ruchlosen Optimismus zu erlösen. Aus dem höllischen Zwiespalt dieser Meinungen könnte man wenigstes einige Vorsicht in solchen Beschuldigungen ganzer Völker lernen.

 

*) Aus Nietzsches Werken sein Wesen bestimmen ist nicht ganz leicht. Es scheint ein eigenartiges Gemisch von Selbstenthüllung und Selbstüberwindung in seinen litterarischen Lebensäußerungen. Bald schrieb er, wie er sich sah, bald wie er sich sehnte. Selbstenthüllung dünkt mich jene mitleidlose Härte und Kälte, jene Verachtung des Niedrigen, Massenhaften. Verkrüppelten: was er in sich fühlte, wenn er durch die Hülle der konventionell anerzogenen Anschauung durchblickte, erhob er zum Lehrsatz; so verwarf er die allgemeine Mitleidsmoral als widernatürliche Thorheit, wenn nicht als feige Heuchelei. Auf der anderen Seite steht das Ideal der Lebensfreude, der Kultus der starken Leiber und der heiteren Geister. Hier feierte er, was er in sich schmerzvoll vermißte.

 

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Es mag nun dem "letzten Nietzsche" zugestanden werden, daß der thatenlose Mollusken-Pessimismus ein Zeichen der Degeneration ist. Man verwechsele aber nicht die Begriffe: Ich bin Pessimist, folglich bin ich krank - das ist der einzig berechtigte Schluß; nicht aber: Ich bin Pessimist, folglich ist das Leben, das Volk, die Welt krank. Und eben so falsch ist es, die pessimistische Stimmung für alle Menschen in Anspruch zu nehmen, weil das Eine Ich sie empfindet. Möglich, daß in kleineren Kreisen solche epidemischen Geisteskrankheiten herrschen, die häufig weniger aus ernsten Lebenserfahrungen als aus litterarischen Einflüssen und Einflüsterungen hervorgegangen sind. Es gilt hier das Gesetz der leichtfertigen Identifikation. Irgend ein Schriftsteller regt in mir verwandte Gefühle an, einige Seelenschwingungen strömen von ihm zu mir, und nun klingt gleich die ganze Seele mit. Ich empfinde in mich hinein, was bisher auch nicht latent in mir geschlummert, weil nur einige thatsächlich in mir ruhende Gedanken aus ihrer Bewußtlosigkeit geweckt worden sind. Ich identifiziere mich vollends mit dem Anreger, obwohl ursprünglich und in Wahrheit nur eine partielle Gleichheit bestand. Die Majorität meiner Wesensinhalte wird durch eine kleine aber starke Minorität vergewaltigt. Auf diese Weise erklärt sich das Geheimnis der unbedingten, infektiösen Anhängerschaft.

Der Pessimismus einer infizierten, aber isolierten Gemeinde braucht nicht zu einem Volksleiden fortzuwuchern. Die gewaltige Kluft, die zwischen Bildung und Nichtbildung, zwischen dem überfeinerten Geistesleben einzelner Sondermenschen und der robusten Natürlichkeit der Masse gähnt, hat doch etwas Gutes, sie verhindert die Einschleppung geistiger, infektiöser Modekrankheiten. So kann man denn noch erfreulicherweise es aussprechen: Die große Mehrheit der Menschen, die lebt, ohne über den Wert ihres Lehens sonderliche Betrachtungen anzustellen, kommt mit der wohltemperierten Mischung von Sorgen und Freuden ganz gut aus. Ein metaphysischer Pessimismus liegt ihnen ganz fern, höchstens ein Augenblickspessimismus, der auf das Leben in üblen Stunden schimpft, ohne sich doch an das Leben zu wagen; und das Schimpfen ist zugleich die Reflexbewegung, welche den peinigenden Reiz mildernd auslöst. Nur die paar Menschen, die neben, über dem Leben stehen und zuschauen, verfallen jenem abgründigen Pessimismus, aus dem es kein Entrinnen giebt, nicht einmal durch freiwilligen Tod, den der ausgehöhlte Wille nicht mehr fertig bringt. "Was liegt an uns!", so mögen diese sich mit Nietzsche bescheiden.

Nein, es ist nichts mit dem Pessimismus, er existiert garnicht als Volkskrankheit, er kann also füglich auch kein Symptom der Volksentartung sein.

 

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Glückt es mit den Symptomen nicht, so vielleicht doch mit den Ursachen. Hier finden wir vielleicht einzelne Erscheinungen, welche die Decadence erklärend erweisen. Wir wollen sehen!

 

X.

Für Nietzsche giebt es eigentlich keine Ursachen, sondern nur Symptome. In Verkehrung der populären Anschauung sagt Nietzsche nicht: "Diese und diese Erscheinungen haben die Degeneration erzeugt" - sondern umgekehrt: Sie sind ihre Folge. Nietzsche verwirrt sich mit dieser Anschauung in ähnliche Widersprüche, wie Schopenhauer, der einerseits versichert, er wolle in seiner Ethik nur zeigen, nicht lehren, weil ethische Belehrung auf die Charakterbildung des Menschen ohne Einfluß sei, andererseits aber in jeder Zeile ein leidenschaftlicher Sittenprediger ist. So nennt Nietzsche zwar jene Erscheinungen Ausflüsse der Degenerationskrankheit, unternimmt es aber zugleich, die angeblichen Symptome zu vernichten und durch Ursachen neuer Erstarkung, Genesung zu ersetzen. Ich werde mir deshalb gestatten, bei der herkömmlichen Ausfassung stehen zu bleiben, ohne auf diese erkenntnistheoretische Frage weiter einzugehen.

Woher die Decadence kommt, das ist leicht erzählt, wenn man Nietzsche gelesen hat: sie kommt, wie man das auch aus der "Antisemitischen Korrespondenz", aus Stöckers "Volk", Dührings Schriften und anderswoher weiß, von den Juden. Dieses heillose Volk litt nämlich an der Heilandskrankheit, an einer Art moralischer Krätze, die dann durch allerhand ungünstige Umstände von dem Krankheitsherd verschleppt, disseminiert die Welt verseuchte. Die Moralkrätze äußert sich in dem Erscheinen eines höchst bösartigen Ausschlages auf der Haut des Menschenkörpers, schlimmer Bodensatz kommt an das Tageslicht, der "Grund" steigt an die Oberfläche, so daß der Weltleib "grindig" wird. Dieser Aussatz wird von Nietzsche "Der Sklavenaufstand in der Moral" genannt. Alles was grindig ist, nennt sich gut, alles, was verschont geblieben ist und sich in sein Inneres still zurückgezogen hat, heißt fortan böse. Man erfindet zum Schutz des Grindigen das Mitleid, das Gewissen, die Askese, den Geist, den Altruismus, das Christentum. Das ist natürlich ein höchst trauriger Zustand, der auf keinen Fall über zweitausend Jahre dauern darf und den zu beseitigen, folglich jetzt die allerhöchste Zeit ist. Die Heilung kommt, wie das in dem, Zeitalter der Chirurgie selbstverständlich ist, durch eine kühne Operation zustande. Man exstirpiert den Grund, d. h. man schickt jene teuflischen Erfindungen, das Mitleid, das Gewissen, die Askese, den Geist, den Altru-

 

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ismus, das Christentum dorthin, wo sie hingehören, zum Teufel also, dafür lebt man fortan "Jenseits von Gut und Böse" in eitel Wollust, Herrschsucht und Selbstsucht, man zähmt sich nicht mehr, sondern man züchtet sich, man wird immer härter und härter, bis man eines Morgens als versteinerter Übermensch auswacht, womit dann das Paradies, eine groß-artige Menschengebirgslandschaft, erreicht ist. Finis! Amen!

Goethe wünschte, daß die Deutschen am Homer statt an der Bibel das Lesen gelernt hätten. Das war ein bescheidener, ein weiser Wunsch, der alles Wahre enthält, was in den furchtbaren, blindschwärmenden Übertreibungen Nietzsches zu finden ist.

Daß das Germanentum durch die aufgezwungene neue Lehre in seiner Entwickelung gehemmt, gebrochen wurde, das weiß jeder, der die germanische Urgeschichte vorurteilslos studiert. Die Ursache lag eben in dem Zwang, der eine künstliche Zusammenbeugung widerstrebender Elemente statt eine all-mähliche Amalgamierung zur Folge hatte. Auch den verwüstenden Einfluß engstirniger Pfaffenherrschaft wird niemand leugnen können. Das jedoch darf nicht der semitischen Moral, sondern den Moralauslegungen zur Last gelegt werden. Am Homer hätte sich eben so gut ein Pfaffentum bilden können - neuerdings ist dies ja geschehen - wie an der Bibel.

Andererseits aber ist es gewiß, daß jene angeblich degenerierenden semitischen Morallehren teils niemals rein in die Erscheinung getreten, teils längst überwunden sind, so daß man in beiden Fällen von ihnen nicht als von Ursachen der gegenwärtigen Decadence reden kann.

Dies soll in dem Folgenden gezeigt werden, nachdem zunächst an Nietzsches und seiner Anhänger gefährlichstes Kampfmittel, seine Anschauung von Rasse und Menschenzüchtung, die Sonde gelegt worden ist.

 

XI.

Alle, die über die Dinge dieser Welt möglichst eilig klar zu werden oder wenigstens - das ist die eigentliche causa movens! - mitzureden sich verpflichtet fühlen, sind seelenfroh, wenn sie einen noch so rostigen und wackligen Nagel gesunden haben, an dem sie ihren schäbigen Gedankenplunder anhängen können. Der Rassenbegriff ist so ein Nagel, der allerdings sofort zu Boden fällt, wenn man ihn wissenschaftlich antastet. Man weiß, daß z. B. die Schädelstatistik in Europa für scharfe Rassenscheidungen nichts ergeben hat. Die individuellen Unterschiede erwiesen sich als mindestens ebenso groß wie die sogenannten Rassenunterschiede.

 

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Wo die Wissenschaft im Stiche läßt, hilft die mehr oder minder böswillige Absicht aus. Die Rasse ist ein zu bequemer Anknüpfungspunkt für allerlei Folgerungen als daß man dieses Dogma ohne Weiteres fahren ließe.

Nietzsche giebt diesem Gespenst wenigstens kraft seines schöpferischen Geniereichtums eine Art von Scheinleben, so daß man dem Hexenmeister wohl gerne glauben mag.

Wundertiefsinnig und geistblendend ist Nietzsches Scheidung von Ariertum und Semitismus, die an der Verschiedenheit des arischen und semitischen Sündenfalls aufgezeigt wird. Er kontrastiert die Prometheus-Sage mit dem biblischen Sündenfall: "Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit teilhaftig werden kann [das Feuer], erringt sie durch einen Frevel und muß nun wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganze Flut von Leiden und Kümmernissen, mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen müssen: ein herber Gedanke, der durch die Würde, die er dem Frevel erteilt, seltsam gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht, in welchem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vornehmlich weiblicher Affektionen als der Ursprung des Übels angesehen wurde. Das, was die arische Vorstellung auszeichnet, ist die erhabene Ansicht von der aktiven Sünde als der eigentlich prometheischen Tugend ..." (Geb. d. Tragödie p. 49.)

Hier sehen wir den letzten Nietzsche, den Immoralisten, den Todfeind der semitischen Entartungstugend, den glühenden Künder und Lehrer der arischen Herrenmoral keimen. Was er damals passiv feminin nannte, hieß er später degeneriert.

Ich mag nicht nochmals auf die indische "Sklavenmoral" hinweisen, welche die ganze Scheidung zwischen semitischer und arischer Moralveranlagung als Schwindel entlarvt; ich will vielmehr ein wenig gegen jene Sündenfallantithese plänkeln, weil hier die schönste, feinste, vornehmste und bestechendste Anwendung des Rassenprinzips vorliegt, die ich kenne. Gelingt es, die Richtigkeit dieses am festesten gegründeten Beispiels fraglich zu machen, so kann man getrost alle die kleinen, wenn nicht harmlosen, so doch hirnlosen Beweise und Dokumente des Rassendogmas ungeschoren laufen lassen. - Die beiden Mythen vom Sturz des Prometheus und der Austreibung aus dem Paradiese sind durchaus nicht zu vergleichen. In der Bibel handelt es sich um eine rechtfertigende Erklärung religiöser Lehre und ein stützendes Glaubensdogma; der Glaube aber verlangt seiner Natur nach Unterwerfung und Unterwürfigkeit. Die Griechen hatten gar keine Religion, keinen Glauben, nur spielende Mythologie. Nicht Unterwerfung unter die

 

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Götter wird erheischt; die Menschen stehen eigentlich über den Göttern, die nur Sündenböcke sind für das, was in der Welt nach menschlichem Gefühl versehen ist. Wie will man aber aus einem vielleicht aufgezwungenen, möglicher Weise gar nicht durchgedrungenen Glauben Rassenveranlagung erschließen? Ich weiß nicht, wie weit die historische Bibelforschung die durchschimmernden heidnischen Elemente in den mosaischen Urkunden ausgelöst hat. Mich dünkt, man könnte auch da recht viele Spuren der mit Recht so beliebten aktiven Sündenhaftigkeit finden, für die leider das aus modernen degenerierten Instinkten hervorgegangenem Strafgesetzbuch so verzweifelt wenig Verständnis zeigt. Der Teufel darf jedenfalls mit besseren Gründen dem Halbgott Prometheus verglichen werden, als der Mensch Adam mit dem göttlichen, griechischen Menschenschöpfer. Vielleicht darf ich mir sogar die etwas nietzschelisch leichtfüßige Vermutung erlauben, die mir die wissenden Mythologen verzeihen und berichtigen mögen, daß der Teufel und Prometheus sogar verwandt, identisch find: Luzifer, der Stern, das Licht, die Flamme, die vom Himmel zur Hölle sinkt, ist vielleicht auch nur eine mythische Vermummung der Herabkunft des Feuers. Auch die heidnischen Semiten mögen ihren heidnischen, aktiv frevelnden Prometheus verehrt haben. Priester verfolgen nur das, was geliebt wird; ein Teufel ohne Anhänger setzt keinen Glaubenskünder in Harnisch. Wenn unser historisches Wissen mit dem christlichen Germanentum begönne, so würden die Herren Rassenklopffechter sofort dem Ariertum ein Talent für feminine, passive Sündenhaftigkeit anhängen. Man wirft ein: Das ist es ja gerade. Den Germanen wurde der Semitismus widernatürlich aufgezwungen. Nun, ich beanspruche für die vorjavethistischen Semiten dieselbe Annahme, und ich glaube mindestens eben so viel oder so wenig Berechtigung zu dieser Annahme zu haben, wie diejenigen, welche das Germanentum wegen der semitischen, monströsen Verhunzung bejammern. Ich fürchte überhaupt, Nietzsche hat sich den alten Juden etwas gar zu sehr nach dem Bilde des modernen verkümmerten, gedrückten Kleiderjuden vorgestellt, der stets zum Herzzerbrechen wimmert, wenn man sein Angebot für alte Hosen zu niedrig findet. Es giebt ja auch Leute, die sich den biblischen Juden nicht anders als einen vom Schachergeist durchseuchten Händler denken können, obgleich bekannter- oder unbekanntermaßen kein Volk der alten Welt weniger Handel trieb als eben die Juden.

Nebenbei sei noch bemerkt, daß die jüngste Forschung - ich weiß nicht, ob mit sicheren und festen Erfolgen - nachzuweisen sucht, daß die hellenische Kultur von den Phöniziern, also von Semiten empfangen worden sei. Sollte diese sehr wahrscheinliche Hypothese Thatsache sein, so würde das ein prächtiges Abführmittel sein für die begriffsverstopften Herren, die ihrer-

 

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seits die Völker an einer unglaublichen Rassenverstopfung leiden und deren Eingeweide mit unlöslichen teils arischen, teils semitischen Stoffen gefüllt sein lassen. Weg mit diesem Popanz von der erblichen Verstopfung. Glauben wir an die Macht der Lebenssonne, die ändert und wandelt. Dieser Rassenfatalismus wäre selbst zu verwerfen, wenn er der Wahrheit entspräche. Fatalistisch dürfen wir nicht denken, wenn wir leben d. h. handeln wollen. Das wäre die einzige metaphysische Wahrheit, vor der wir uns mit dem Kantschen Verlegenheitssprung in die Welt der praktischen Vernunft retten müßten. Auf Fatalismus aber laufen jene Anschauungen geradenwegs hinaus Noch einmal also: Weg mit diesem Popanz von der erblichen Verstopfung.

Das mag sich auch das vernietzschelte erziehende Gespenst gesagt sein lassen, das gegenwärtig mit mißbräuchlicher Benutzung der Garderobe eines großen Künstlers am hellen, lichten Tage umgeht und die kleinen Kinder der Zeit schreckt und bannt.

Doch es wäre fast schade, wenn "Rembrandt als Erzieher" diese Mahnung vorausahnend beherzigt hätte: Der Humor wäre um eine Blüte ärmer. Denn "Rembrandt als Erzieher" bietet die heiteren Konsequenzen der geoethnographischen Betrachtungsweise in einer Zerrbild-Vollendung, wie sie der boshafteste, phantasiereichste Gegner der Rassenphilosophaster nicht ersinnen könnte. Der Rembrandtmann kennt eine ganze Menge von kleinen, niedlichen Rassen, die zu scheiden und auseinander zu halten, schon Kenntnisse in den intimeren Einzelheiten der Geographie gehören: "Die Erdgeister behaupten immer und überall ihr Recht; in der Politik nicht weniger wie im Geistesleben; in beiderlei Hinsicht bildet die Elbe die entscheidende Grenze oder, wenn man will, den Rubikon für das Deutschtum ... Sie scheidet den kühlen von dem warmen Politiker, den Preußen von dem Deutschen; den kühlen von dem warmen Dichter, Lessing von Goethe; den kühlen von dem warmen Geschichtsschreiber, Ranke von Schlosser; ja noch heute den kühlen von dem warmen Maler, Menzel von Böcklin..." Diese Gegenüberstellung von warm und kalt könnte man noch um einiges fortsetzen: Die Elbe scheidet die warmen von den kalten Badeanstalten, nur daß die kalten gerade umgekehrt in Dresden und die warmen in Berlin überwiegen. Der Grund für diese auffällige Thatsache wird wohl in einer geheimnisvollen Blutmischung liegen. Der Berliner gravitiert mehr zum warmen Wasser, weil er von Natur kalt ist; der Dresdner mehr zum kalten, weil er warm verrasset ist. Der Mops ist gesund, wenn er eine kalte Nase hat, der Mensch, wenn er eine warme hat. So hängt alles in der Welt zusammen...

Mit derselben scherzhaften Würde erscheint auf dem Langbehnschen Parodietheater die helldunkle Lehre von der Erhaltung der Art, des Blutes,

 

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die merkwürdiger Weise einerseits eine wissenschaftliche Rassenthatsache, also eine Notwendigkeit ist, andererseits aber wieder als Ausgabe der Erziehung zur Vornehmheit in das willkürliche Belieben vornehmheitslüsterner Individualmenschen gestellt wird. In der österreichischen Armee ist es eine oft zu beobachtende Erscheinung, daß die galizischen Juden anfänglich sich durchaus. ihre Schläfenlöcklein nicht abschneiden lassen wollen und sich gegen jede ritualwidrige Speise mit jammernder Zähigkeit sträuben. Dieser pietätvolle Zustand dauert indessen unter der Zucht des Zwanges nicht lange. Bald sind sie ebenso eitel aus die mangelnden Löckchen wie vordem auf die vorhandenen und die antisemitischsten Speisen genießen sie mit Behagen. Die Entwickelung geht so schnell vor sich, daß der galizische Exjude eines schönen Tages eine christlich-germanische, man denke, eine arische. Köchin zum Tanze führt. Bisher habe ich diese Entwickelung immer für einen Kulturfortschritt gehalten, für eine wertvolle erzieherische Wirkung .des Heerdienstes. Nun aber belehrt uns Rembrandt, daß die galizischen Juden in Wahrheit durch die Anpassung entartet sind, daß sie mit dem Haarschmuck auch die Vornehmheit des konservativen Blutes verloren haben, gleich wie die verruchten entjüdelten Preßjuden, die Preßhefeerzeuger, die Herr Bewer mit einem sonderbaren Talent für - semitischen Wortwitz recht hübsch "Blattläuse" benennt. Der wahre Adel liegt in den Löckchen; wer nicht mehr koscher ist, ist nicht mehr vornehm.

Wischiwaschi: Das "Blut" bleibt nicht, noch soll es bleiben. Man soll nicht die Vergangenheit erhalten, sondern die Zeit, das Heute und das Morgen enthalten. Der Reaktionär paßt sich der Vergangenheit an, der Verständige der Gegenwart, der Geniale der Zukunft!

Der ganze Rassenunsinn verlohnte nicht der Widerlegung, wenn er sich nicht in die Handlungen der Menschen eingefressen hätte. Der begriffliche Unfug wird eine frevelhafte Fahrlässigkeit und strafwürdige Gewissenlosigkeit, wenn man auf dieses mystische Ungefähr und Nichtweiter praktische Folgerungen baut: Antisemitismus.

Wenn ein Arzt durch leichtfertige Behandlung den Tod eines Kranken herbeiführt, wenn ein Apotheker fahrlässig die Mittel verwechselt oder gar in gewinnsüchtiger Absicht gefälschte Mittel verkauft, so entrüstet sich alle Welt, und der Strafrichter bekommt zu thun. Weit schlimmer als solche Verbrechen aber scheint mir die niederträchtige Anwendung angeblich wissenschaftlicher Lehrsätze auf praktisches Handeln, wenn die Anwendung Millionen von Menschen den moralischen oder materiellen Tod bringt. Man wäre fürwahr versucht, einen neuen Strafgesetzbuchparagraphen zu verlangen, der da besagt: "Wer Handlungen begeht oder empfiehlt auf Grund unwahrer oder unreifer, vorgeblich wissenschaftlicher Behauptungen, wird mit Gefängnis

 

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nicht unter fünf Jahren bestraft." Die Gefahr ist nur, daß dieser Paragraph just auf die - Wahrheiten angewendet würde.*)

Die ganze ethnographische, ethnopsychische Forschung liegt. noch so sehr in den Windeln, daß es, abgesehen von der Gewissenlosigkeit auch unendlich lächerlich ist, aus dieser Windelweisheit oder Windelgrünheit praktische Schlüsse zu ziehen. Wenn die neuesten Forschungen eines Carus Sterne gerade die verhältnismäßig noch sicherste Hypothese einer indogermanischen Urheimat in Asien über den Haufen wirft und Skandinavien zum Stammfitz macht, wenn er kurzweg alle Folgerungen aus der Sprache, die bisher als Stab und Stütze der Völkerkunde galt, als etwas Zufälliges, Sekundäres ablehnt, so beweist dies hinlänglich, welche Unordnung und Unsicherheit noch in der ethnographischen Wissenschaft selbst herrscht. Es ist wirklich für jeden ehrlichen Menschen eine unabweisbare Pflicht, nicht mutwillig die Thore zu den chaotischen Laboratorien der Forschung zu sprengen und Zündstoff zu stehlen für den Markt und die Straße. Möge erst drinnen Ruhe und Klärung herrschen, dann wird die Zeit gekommen sein für die Anwendung auf das Draußen.

Es wäre einfältig, blind und verderblich, gänzlich leugnen zu wollen, daß starke, dunkle Fäden uns mit der Vergangenheit verknüpfen. Auf dem engeren Gebiet der Vererbung liegen uns im Gegenteil scharfe Erwägungen und grausame Pflichten ob. Wollen wir selbst Vergangenheit spielen und eine neue Zukunft zeugen, so haben wir uns sorgsam zu prüfen, ob

*) Der grimme Antisemit, der vor einiger Zeit ein klapperndes Dispositionsgerippe in der toten Abteilung der "Gesellschaft" ausstellte, dürfte vielleicht aus den obigen Betrachtungen etliche Stillung seiner Beweisgier ziehen. Ich will dabei nicht verschweigen, daß ich den judenfresserischen Aufsatz mit offenem Munde angestaunt habe, teils wegen der gähnenden Langeweile, teils und zumeist, weil er das glänzendste Zeugnis für die Vorurteilslosigkeit des Herausgebers dieser Zeitschrift ist, der selbst eine so komisch-naive Unbehilflichkeit zu Worte kommen läßt, nur um andere noch so monströse und impotente Überzeugungen nicht zu unterdrücken. Neugierig bin ich übrigens, ob der wohldisponierende Herr l 1 Aα es sich gefallen lassen wird, daß ich anstatt in Nebensachen leicht zu findende Gegenbeweise zu liefern, ihm geradezu den Stuhl unter dem geistigen Gesäß wegziehe. Ich bin nicht so optimistisch, zu glauben, daß Herr I 1 Aα nach diesem Fall bekehrt wieder aufstehen und nach einem anderen Stuhl schauen wird. Er wird sich mit zerschundenem Gesäß wieder auf denselben Stuhl zu setzen suchen. Gott sei es geklagt, daß die Menschen ihre Urteile nicht aus den Beweisen zimmern, sondern für die apriorischen Urteile hernach ihre Beweise zusammentreiben. Weltanschauungen entstehen nie induktiv, sondern immer deduktiv oder genauer: Aus mikroskopisch winzigen Erfahrungen springt die Weltanschauung heraus, die dann das ganze Gebiet der Erfahrungen gefräßig zu ihrer Kräftigung auszusaugen sich bemüht. - Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich weder mit dieser Anmerkung noch mit den textlichen Ausführungen die Existenz einer Judenfrage leugnen wollte: nur als Rassenfrage ist sie indiskutabel.

 

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wir auch die rechte Vergangenheit sind für eine gesunde Zukunft; eine Fülle von harten Konflikten und bangen Problemen quillt aus diesem Punkte. Bei der Vererbungsfrage handelt es sich aber um Prinzipien aktiven Handelns, das präventiv zu wirken fähig ist, nicht, wie bei den Abstammungsfanatikern, um nachherige, willkürliche Anforderungen an passives Gewordensein, die nichts ändern, sondern höchstens richten, hinrichten können. Und vor allem ist von diesem "infizierten Gebiet" jegliche Mystik streng zu verbannen, insbesondere die praktische Anwendung mystischer Verschwommenheiten die Glaubenssätze, nicht Wissenssätze, nicht einmal Wahrscheinlichkeitssätze sind, als unsittlich, unnützlich zu verwerfen, jene praktische Anwendung, die in dem eben angedeuteten Sinne passiv ist. Schließlich hat man sich - und das ist vielleicht die wichtigste Warnung und Weisung - vor jeder Überschätzung, Übertreibung dieser Anschauungen ängstlich zu hüten, sowohl bei der mystischen Abstammung, wie bei der realen Vererbung. Aus dieser ängstlichen Vorsicht würde ja die allerfreudigste Angstfreiheit strömen.

Das grausige Lallen Oswalds am Schlusse der "Gespenster": "Die Sonne, die Sonne!" mag für uns sich wandeln aus einer wahnsinnigen Sehnsucht in einen schönen, sinnvollen Glauben: Die Sonne des Tages, der Gegenwart und der Zukunft, herrscht über uns, nicht die Nacht der Vergangenheit! Und diese Sonne können wir uns in aller strahlenden Erhabenheit und reinen Schöne selber schaffen und wandeln. Was kann es Tröstlicheres geben, als diese Einsicht: Wir sind in der Macht unserer Sonne, weise Eltern, die in dem Glanz ihres Kindes leben, das sie selbst so glanzvoll geschaffen, erzogen. Nein, wir sind nicht der fremden Macht unterthan, wir sind unserer Sonne!

Was ich eben Sonne nannte, heißt man seit Taine: Milieu. Es ist nur konsequent, wenn Nietzsche das "Milieu" seiner Macht zu berauben sucht. Die Anerkennung einer solchen menschenbildenden Kraft würde ja seine ganze Theorie über den Haufen werfen, seine Rassenanschauung, seinen Antialtruismus und Antisozialismus. Schade nur, daß er nicht auch andere für seine Weltanschauung tötlichen Gifte mit einem einfachen dogmatischen: "Es existiert nicht" wegzudekretieren imstande war. Nietzsche zu Gefallen, müßte jedes Individuum aus dem Wege einer jedesmaligen Urschöpfung zustande kommen, statt durch den schmerzlich-süßen Altruismus, der nun einmal selbst von dem kühnsten Umwerter aller Werte nicht geleugnet werden kann.

Wenn Nietzsche einmal an seine Prinzipien nicht denkt und unbefangen beobachtet, so sucht er den Einfluß des Milieu gerade in mancherlei Absonderlichkeiten aufzuweisen. Nietzsche, der Milieuleugner, legt der Ernährung eine unverhältnismäßige Wichtigkeit für die Charakterbildung bei.

 

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Nietzsche und seine Schule scheinen den Höhepunkt des Rassenfanatismus zu bilden. Die Wissenschaft ist gegenwärtig auf dem absteigenden Wege inbezug auf die Vererbungsfrage; sie rüstet ab, um von dem blutigen Fatalismus der Veranlagung zu der menschlicheren Milieu-Anschauung zu gelangen. Seitdem man die Schwindsucht für nicht erblich erklärte, wuchs die Hoffnungsfreudigkeit und die Pflichtstrenge. Der Übergang von der Medizin zur Hygieine bezeichnet gleichzeitig den Weg von der Vererbung zum Milieu. Wenn ich zur sozialen Frage gelange, werde ich für dieses Problem noch etliches nachzutragen haben. Hier möchte ich nur noch die Umrisse einer Rassenlehre der Zukunft, die das Milieu mit der Abstammung vertauscht, leise andeuten:

Lebens- und Interessengemeinschaften, gleiches Milieu, bilden Rassen; Zeit-, Berufs- und Standesgenossen stellen Nationen dar. Der Pariser von heute steht dem Berliner von heute näher, als der Berliner seinem deutschen Bruder in Kuhschnappel: Milieu der Großstadt. Der 1891 er Franzose gleicht dem heutigen Deutschen mehr als dieser seinem Landsmann von anno 1500: Milieu der Zeit. Der gallische Professor ist mit dem germanischen Kollegen enger verwandt als mit einem gallischen Sauhirten: Milieu des Berufs. Nur wo das Milieu konstant bleibt, kann man von Rassenkonstanz reden: China, russische Landbevölkerung, Ghettojuden. Die neuen Milieurassen treten an die Stelle der durch unübersehbare Kreuzungen und Mischungen innerhalb der Kulturvölker schon physiologisch verwischten Blutrassen. Jedenfalls lasse man dieses vorläufig haltlose und gefährliche Rassengeschwätz - die Mahnung kann gar nicht dick genug unterstrichen und oft genug wiederholt werden! - so lange, bis wissenschaftliche Beweise erbracht werden, etwa auf Grund einer sorgfältigen, gewissenhaft graduierten und systematisierten Charakteristik. An den historisch bekannten Persönlichkeiten die angeblichen Rasseneigentümlichkeiten zu demonstrieren - ich brauche das Wort Rasse auch in dem Sinne von Stamm und ähnlichen Begriffen, die mir alle hinsichtlich ihrer Vagheit identisch erscheinen, - scheint mir übrigens ein völlig aussichtsloses Unternehmen. Mindestens aber gehe ich die Wette ein: Wenn jemand sich den Spaß machen würde, Übersetzungen irgendwelcher Litteraturwerke als Originale herauszugeben, die Rassenweisen würden gewiß die Eigenschaften derjenigen Rasse herauswittern, denen der - Übersetzer angehört. -

Als Anhänger der Rassenvererbung dürfte Nietzsche eigentlich kein Individualist sein. Es ist in der That sonderbar, daß gerade die krassen Individualisten mit erstaunlicher Übertreibung generalisieren, anstatt zu differenzieren. Erst lösen sie die Menschheit in Atome auf, und dann ballen sie

 

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die Teile wieder zusammen in willkürliche Haufen, in Raffen und Nationalitäten, in Männer und Weiber. Indessen erklärt sich der Widerspruch leicht: Aus dem Rassendogma läßt sich Vererbung des edlen Blutes als Kulturbedingung, mithin die aristokratische, antidemokratische Weltanschauung gewinnen. Da nun andererseits die Demokratie zum Sozialismus neigt, so wird unter Vernachlässigung des Rassenstandpunktes der Individualismus, eben als ein antisozialistisches Prinzip, gleichzeitig gepredigt. Daß Individualismus und Sozialismus keine Gegensätze, sondern umgekehrt sich gegenseitig bedingende und ermöglichende Ergänzungen sind, wird weiter unten nachgewiesen werden. Für Nietzsche sind Individualismus und Sozialismus Gegensätze höchster Potenz: Rassengegensätze. Individualismus ist arisch, Sozialismus semitisch. Letzterer ist die Konsequenz der semitischen Sklavenmoral, deren Wesen Nietzsche durch die Sklavenunmoral charakterisiert: "Wollust, Herrschsucht, Selbstsucht: Diese drei wurden bisher am besten verflucht und am schlimmsten beleu- und belügenmundet." (Zarathustra III, 53.)

Die Sklavenunmoral ist die Herrenmoral, die wahre Moral der Zukunft, der genesenden Welt, der Übermenschenzeit.

 

XII.

"Gute Beispiele verderben böse Sitten", so etwa könnte man Nietzsches Kulturauffassung am kürzesten wiedergeben.

Nietzsche schwebte die Ausgabe vor, das menschliche Hirn aus der durch vieltausendjährige Arbeit gefestigten Struktur zu reißen und ihm eine neue Form zu geben.

Eine verzweifelte Aufgabe, die zunächst das eigene Hirn des überkühnen Unternehmers aus der Struktur brachte! Zunächst mußte alles entwertet werden, das ganze Gebiet der geistigen Instinkte, Selbstverständlichkeiten, Erkenntnisse, Überzeugungen verwüstet werden, um von Grund auf nach neuen Rissen und Plänen aufzubauen und zu kolonisieren.

Aber schon in der Vorarbeit der Entwertung liegt für den verwegenen "Neuland-Ansiedler eine unüberwindliche Schwierigkeit.

Wer ohne Wertbestimmungen reden will, muß sich eine neue Sprache schaffen, denn die Werte der alten Sprache sind Niederschläge alter Werte. Derjenige, welcher alle Werte auslöst, wird gegen den einen gefaßten Wert ein Dutzend von Werten ins Feld schicken, die sich bei näherer Betrachtung auch als Phantome entpuppen. Das heißt denn Schatten gegen Schatten schicken, Nebel durch Nebel zertrümmern, schließlich bleibt alles, wie es war,

 

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Nebel. - Nietzsche weist die praktische Vernunft aus der Philosophie, er wendet den Kantschen Idealismus auf die Moral an, aber es graut ihm in diesem unbegreiflichen, furchtbaren Chaos und er siedelt in diesem wirbelnden Trümmermeer wieder feste, greifbare, neuartige Eilande an. Im absoluten Idealismus kann es eben niemand aushalten, man schafft sich schwindelnd wieder Realitäten. Wie der Zauberkünstler Uhren in kleine Stücke zerstampft und dann sie zum Staunen der Gaffer unversehrt wieder zeigt, so zertrümmert der Entwertende scheinbar Begriffe wie die Moral, die dann fröhlich wieder zum Vorschein kommen, mit einigen kleinen Abänderungen gleich den Blumensträußlein an den wiedergezauberten Uhren. Die Moral bekommt einen anderen Inhalt. Die Moral ist tot, es lebe die Moral. Der Name wechselt, der Begriff bleibt. Ob der neue Inhalt besser ist? Schließlich ist auch Nietzsche die alte Geschichte passiert, die den unglücklichen Liebhabern der schönen Cousine Philosophie das Herz entzwei bricht, worauf sie aus Arger die erste, beste Wahrheit heiraten, die ihnen in den Weg gelaufen. (Bei Heine trägt sich die verzwickte Komödie zwar etwas anders zu, aber der pathologisch -anatomische Effekt ist der gleiche): Wir wissen nichts, darum erfinden wir Wissen. Laßt uns doch wenigstens Wahrheiten suchen, mit denen wir leben können! Niemand zweifelt ja, daß diese Wahrheiten Notwahrheiten sind, umzuwehen von einem Windhauch. Aber wenn alle unsere Instinkte nach diesen Wahrheiten lechzen, warum sollen wir sie nicht behalten. Vielleicht sind es doch Wahrheiten. Daß unsere armselige, begriffsstutzige Vernunft allerhand Weisheits-und Niederträchtiges dagegen vorbringt, ist am Ende doch noch kein Grund, der Wahrheit den Lauspaß zu geben. So ein schwächliches Gedankenmännchen gegen ein so löwenstarkes Gefühlsweib! Ich meinerseits halte zum Weib! Mag es bisher auch kein Wahrheitsjunges geboren haben. Was kann es dafür. Mag doch das Geistmännchen erst zum Geistmann sich auswachsen. Im Schoße des Weibes schlummert schon das Ei der Wahrheit, es wartet nur noch auf den starken Lebenserwecker.

Nietzsche ist der große Anatom der Sittlichkeit. Mit blutigem Messer wühlt er in ihrem Leibe und fördert einen schönen, umfänglichen Krankheitsbefund zu Tage. Mitleidlos sägt und sticht und schneidet er, glaubt er doch nur einen Leichnam vor sich liegen zu haben. Mir aber will es scheinen, als ob die Sektion eine Vivisektion sei, und zuversichtlich hege ich die Hoffnung, daß das arme Objekt aller dieser Experimente die verheerenden Messerschnitte überdauere. Vielleicht hat Nietzsche un-bewußt Operationen vollzogen, die Leben und Kraft der Sittlichkeit verjüngen und gesunden.

 

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XIII.

In bewußtem Gegensatz zu Schopenhauer verjagt Nietzsche die "Vorstellung" vom Thron und setzt den "Willen" an ihre Stelle. *) Die Vorstellung erlöst nicht von dem tierischen, widrigen, ekelhaften Willen, sie durchseucht, schwächt, beschmutzt das Schöne, Edle, Starke, das Krönende und Steigende im Menschen, den Willen. "Wahrlich, eine große Narrheit wohnt in unserem Willen; und zum Fluche wurde es allem Menschlichen, daß diese Narrheit Geist lernte". (Zar. II, 89.) Aus dieser Anschauung ergiebt sich der Kultus des Leibes. Der geistigste aller Denker nimmt den Kampf um die Emanzipation des Fleisches wieder aus, wohl ein Versuch der Selbstüberwindung.

Man sagt besser Emanzipation der Muskeln als Emanzipation des Fleisches. Es ist nichts von dem Weichen, Weibischen, Schwülen, das die Vorgänger Nietzsches und seine Nachfahren in diesen Bestrebungen haben. Männlich, hart, eisig, - geistig erscheint der Herold des Leibes und der Sinnlichkeit, Nietzsche. Nicht der Sommermond, sondern die Wintersonne bescheint diesen feierlichen Kultus des Leibes. Nicht umschleierte Schwüle, sondern grell klares Licht, nicht Brautnachtstimmung, sondern Brauttagstimmung atmet die befreite Liebe Nietzsches. Brauttagstimmung! In diesem Widersinn liegt das Widerwirkliche dieses zusammengeschwärmten Ideals, das Sommer und Winter verschmilzt, Flammen im Wesen und Frost in der Form ist. Nietzsches Liebende dürfen sich nicht -echauffieren. Es muß eine reinliche Leidenschaft sein "und immer gebadet", wie Fontane einst die "Frau vom Meere" neckisch bewundernd charakterisierte. Mit zwei Worten: platonische Brunst. - Wenn Nietzsches Jünger das platonische Element in ihren Fleischlobpreisungen vergessen, so haben sie eben nur seine Worte, nicht ihren Geist begriffen, sie haben übersehen, daß ihres Lehrers Theorie eben nur - theoretisch ist.

Anscheinend allerdings macht Nietzsches Freifleischlehre ein höchst ernstes, natürliches Gesicht, bildet sie doch einen Grundstein seiner Herrenmoral.

*) In der Vereinigung der zwei Prinzipien Schopenhauers zu einem Weltprinzip trifft Nietzsche mit Wundt zusammen. Nur die Färbung dieses Einen .Prinzips, das bei Nietzsche gleichsam eine kranke Auswucherung, den Geist hat, ist bei beiden Denkern grundverschieden, ein Beweis, daß das Zolasche Sehen durch ein Temperament nicht nur den Dichter, sondern auch den Philosophen macht. Man kann den Unterschied nicht besser wiedergeben als wiederum durch die Schopenhauersche Antithese von Wille und Vorstellung. Bei Nietzsche erscheint das Willensprinzip wild, dämonisch, riesenhaft, es flutet aus dem Willen, bei Wundt ist es kühle, nüchterne Abstraktion, ein Kind der Vorstellung. Man sieht, daß die Zweischeidung Schopenhauers vielleicht objektiv falsch, jedenfalls aber subjektiv ein Bedürfnis klärender Kenntnis und Verdeutlichung ist.

 

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Die Sklavenmoral des Christentums entwertete den Leib, weil die Leiber des Elends unwert sind, und pries dafür den Geist, - eine Erscheinung, die man etwa mit dem Stolz der alten Jungfern auf ihre un-kontrollierbar schönen Seelen gegenüber ihren kontrollierbar dürftigen Reizen vergleichen könnte. Die Begierden des Leibes wurden demzufolge Sünden, die des Geistes Tugenden. Die Wollust ward zum Höllenwerk, während die Askese Gott wohlgefällig duftete. Durch die Askese entstand dann die Decadence, was ganz über allem Zweifel erhaben ist, da es jedes Buch über den "Menschen und sein Geschlecht" klipp und klar beweist.

Die Möglichkeit, daß die Askese eine zufällige Zeiterscheinung, eine Unart, Laune, eine widernatürliche Krankheit verrückter Geister und Epochen sei - diese Möglichkeit muß zugestanden werden; es giebt solche tausendjährigen "Zufälle". Dennoch glaube ich, der klare Blick, der tiefer dringt, bemerkt die Wurzeln, welche die Askese mit dem innersten Triebleben der Menschen verbinden.

Mir will es scheinen, als ob die Askese kein zufälliges Decadence-symptom sei, sondern dem asketischen Trieb, dem Gegentrieb der Sinnlichkeit entspringt. Ich vermute, daß die Wissenschaft dereinst in der Psychophysik das Wort: "Gegentrieb" aufnehmen wird, wie die Sprachphilosophie den "Gegensinn". Eine Mechanik der psychophysischen Werte wird das gesamte Triebleben unter dem Bilde des Gleichgewichts apperzipieren müssen. Jeder Trieb enthält zwei gegen einander ringende, mit einander balancierende Elemente. Jeder Trieb hat zur Seite seinen. Gegentrieb, wie z. B. die Sinnlichkeit die Askese. So entsteht eine selbstthätige Regulierung des Trieblebens zur Verhütung der Decadence, des Zubodensinkens.

Ich will mich mit diesen Andeutungen bescheiden, die vielleicht etwas zu teleologisch schmecken. Die Anschauung Nietzsches braucht nicht durch solche zweifelhaften Hypothesen gerichtet zu werden, sie wird schon hinlänglich durch die eine Thatsache gerichtet, daß die Erscheinung, welcher Nietzsche die Entartung zur Last legt, gar nicht in der Gegenwart existiert: Es giebt keine Askese in der modernen Welt. Die Askese führt nur noch ein offizielles Dasein in der kaum noch irgendwo befolgten Pfaffenmoral. Sie kann also nicht die Decadence verschulden, noch kann sie als Symptom dieser Decadence betrachtet werden.

Nietzsche kämpft gegen Gespenster, die längst gebannt. Was er als christlich -semitische Moral und Antinatur geißelt, ist in Wahrheit der Geist der Askese, der ebenso Instinkt ist, wie sein Antipode. Die unverkrüppelten Germanen besaßen ihn, aber weise und maßvoll (späte Heiraten, Reinheitsfanatismus). Dann kam die große "Verjüdelung", die Askese wurde

 

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toll und tyrannisch. Damals wäre, wie die jetzigen Antisemiten, auch Nietzsche am Platze gewesen; unter den Humanisten der Renaissance - er hat ja auch nach der Renaissancezeit eine empfindsame Sehnsucht! - hätte er eine Mission erfüllt. Heute ist die Askese in ihr Gegenteil umgeschlagen; sie herrscht nur in kleinbürgerlichen Kreisen, im weiblichen Philistertum, das vor dem Philinentum immer mehr zurücktritt, sie herrscht in den Kreisen, die Arne Garborgs "Bei Mama!" so naturfrisch schildert. Das männliche Geschlecht hat längst die Askese überwunden und dafür (offenbar ein Zeichen der beginnenden Rassengenesung und Menschheitserstarkung!), die wohl-klingende - Syphilis erworben. Nietzsche ist ein posthumer Geist, nicht in dem Sinne, in welchem er sich selbst so nennt, sondern insofern, als sein befruchtender Erzeuger, den er zugleich als "neue Generation" zu überwinden trachtet, längst tot ist: das mittelalterliche Christentum.

Die asketische Sittlichkeit ist tot! Ja, wir sind so weit auf dem Wege zum "Übermenschen" "untergegangen", daß sich Böotier, die von Nietzsche nicht einmal den Namen kennen, ganz nietzschelisch mit der offiziellen Moral abfinden. Ein Philologe, der in der ganzen Weltlitteratur nur die pikanten Stellen sah und höchlichst bedauerte, daß diese nicht gesammelt herausgegeben würden, damit man sich nicht durch die anständigen Bücher und Stellen durchzuwürgen braucht, was den Beruf eines Litteraturforschers einigermaßen zu verleiden geeignet ist - gekennzeichneter Herr also äußerte mir gegenüber einmal sein Erstaunen über den Zwiespalt zwischen der aus dem Konfirmanden-Unterricht her behaltenen Sittenlehre und den thatsächlichen "Verhältnissen"; als denkender Deutscher suchte er natürlich nach der Lösung des Problems. und er formte sie in Erinnerung an seine ebenso zahl- wie erfolgreichen Liebesfeldzüge also: "Moral ist von Leuten erfunden, die nicht 'konnten'" - scil. unmoralisch sein. Damals hatte Nietzsche noch nicht meine Bahnen gekreuzt und ich konnte mit überlegener Verachtung erwidern, indem ich den Sprachforscher zu ärgern bestrebt war: "Mit der Moral ist es eben ähnlich wie mit der Sprache, die auch nur von alten Weibern erfunden ist, die das Maul nicht halten konnten". Heute aber muß ich ernsthaft mit jener Weisheit mich herumschlagen: "Moral ist von Leuten erfunden, die nicht 'konnten'!"...

Wie es in Wahrheit mit der angeblichen Askese steht, zeigt die Aufnahme, welche zwei Asketen in unserem geistigen Leben, ein Gesunder und ein Kranker, neuerdings gefunden haben. Der Gesunde ist Björnson ("Handschuh"). Wie empfing man ihn? Man höhnte und schmähte ihn, schalt ihn pfäffisch, borniert, platt, senil-impotent. Warum? Björnson fordert als Gesunder etwas ebenso Wünschenswertes als - und das war

 

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das Erbitternde! - Mögliches. Da hatten die Leute doch an dem kranken Asketen mehr Freude. Tolstoi forderte in seiner "Kreutzersonate" paradox-hypochondrische Utopien, die niemanden zur geneigten Nachachtung verpflichteten, weil es eben Unmöglichkeiten sind; so konnte man - nur das Mögliche ist unbequem! - mit vollster Seelenruhe die Paradoxen des großen, edlen Russen genießen, welche für alle geistigen Feinschmecker den kostbarsten Wildgeschmack bedeuten.

Nietzsche mag wohl der Vater der lauten Herren sein, welche ungestüm ihr retournons àð la nature auf geschlechtlichem Gebiete anstimmen, ich weiß nicht, ob sie sich damit entschuldigen, oder ob sie die paar übrig gebliebenen asketischen jungen Damen durch ihre Tiraden aus Gründen der "Billigkeit" bekehren wollen. Daß die thörichte Askese, zu der eine Minorität des weiblichen Geschlechts verpflichtet ist, thatsächlich ein ernster Faktor der sozialen Frauenfrage ist, wird mir nicht einfallen zu leugnen. Es herrscht aber jetzt vielfach die verhängnisvolle Neigung, unter dem Vorwande der Natur das menschliche Triebleben zu bestialisieren, die Unnatur durch Widernatur oder Entartung auszutreiben. Diesen Wahrheitssuchern, die lügen, weil übertriebene Wahrheit eben Lüge ist, empfehle ich angelegentlich die von dem schwedischen Arzte Dr. Seved Ribbing *) veröffentlichten Vorlesungen über "die sexuelle Hygiene und ihre ethischen Konsequenzen". Die Herren werden da finden, daß es mit ihrer Wissenschaftlichkeit in Sachen der Liebe übel bestellt ist trotz ihrem Reichtum an Erfahrungen. - Ich empfehle Ribbings Buch, nicht aber den in diesen .Fragen völlig hilflosen Mantegazza dessen galante Compendia nur das Eine beweisen, daß der freigeistige und freileibige Italiener von dem qualvollen Ernst, der sozialen und individualen Bedeutung dieses Problems keine Ahnung hat. Überhaupt halte ich die Popularität Mantegazzas gerade wegen des Mangels an energischer Entschlossenheit und rücksichtsloser Bestimmtheit, wegen seiner liebenswürdigen Laisser-faire-Anschauungen - die .

*) Deutsch von Oskar Reyher. Leipzig, Peter Hobbing. - Ribbing sagt z.B.: "Wenn man über Polygamie und die polygamische Veranlagung des Mannes soviel Worte verliert, sollte man doch auch einmal an die Wünsche der Frau in dieser Richtung denken, ...ob sie sich an Stelle eines ganzen mit dem Bruchteil eines Mannes zufrieden geben will." - Es ist in der That weiter nichts als ein beliebtes Vorurteil der Männer, daß Björnsons Svava eine kranke Ausnahmeerscheinung ist, die vermutlich an Blutarmut und Menstruationsstörungen leidet. Wie Svava, fühlt iedes gesunde Mädchen so lange, bis man ihr es einzureden verstanden hat, daß ein derartiger Idealismus nicht für diese unvollkommene Welt paßt, wenn anders man es nicht vorgezogen hat, ihr - gerade mit Rücksicht auf jenen weiblichen Instinkt - vorzulügen, daß die Männer keusch ins Ehebett zu kommen pflegen.

 

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zürnenden Strafpredigten sind wohl nur aus ästhetischen Stilerwägungen hervorgegangen und stark theatralisch! -, wegen seiner humanen Versöhnlichkeit in Sachen der Venus, für eine Gefahr. Besonders widerwärtig erscheint mir die joviale, schalkhafte Art, mit der Mantegazza gegenüber der wachsenden Syphilisation der Gesellschaft einige probate Mittelchen empfiehlt, und sehr bedenklich und unbegreiflich bei der humanen Grundanschauung des Florentiner Professors ist es, daß er dem Laster bitterlich zürnt und über das Verbrechen mitleidig lächelt, daß er gewisse jugendliche Sünden, welche ohne soziale Bedeutung, weil nur auf Eine Person beschränkt sind, mit fürchterlichen Worten geißelt und die Verseuchung der Völker mit dem Hinweis auf die Apotheke geschehen läßt. Gerade Mantegazza ist ein Beweis für die soziale Gewissenlosigkeit und Beschränktheit, die bei den Verfechtern der Emanzipation des Fleisches häufig wahrnehmbar ist. Und doch redet die Natur selbst eine gewaltige Sprache und straft die verrotteten Instinkte, welche die Gesamtheit den eigenen Lüsten zu Gefallen opfern. Ich verstehe nicht jene Ehrfurcht vor dem angeblich "Natürlichen", wo gerade durch diesen nur allzu bequemen und angenehmen Respekt vor dem "Natürlichen" alles so unnatürlich, so krank und widerlich geworden ist. Mögen andere Genialität da sehen, wo ich nur Frechheit, Verworfenheit und - aus sozialer Erkenntnis - Verbrechen sehe...

Nietzsche, der Geistige, ist begeistert für das Leibliche, Nietzsche, der Fanatiker des Fleisches, haßt das Weib. Sind das Widersprüche oder - Ergänzungen?

Was Nietzsche über die Weiber sagt - die Misogynen suchen seltsamerweise von allen Synonymen stets das Wort Weib im Plural heraus -, ist, gleichwie bei Schopenhauer, boshafte Verallgemeinerung begrenzter persönlicher Erfahrungen. Bei Schopenhauer ist der Nachweis geführt, woher seine Ansichten vom Frauenwesen stammten, man kann fast die Modelle zu seinen ebenso geistreichen wie unwahren Typisierungen namhaft machen. Auch bei Nietzsche dürfte der genauere Kenner seines Lebens solche Modelle ausfindig machen. Es ist hier wieder der sonderbare Widerspruch festzustellen, den ich in dem Kapitel über die Rasse-Anschauungen hervorgehoben habe, daß gerade so ein Individualist wie Nietzsche mit der Oberflächlichkeit eines impotent gewordenen Roués oder eines durch mancherlei Erfahrungen auf dem Felde des internationalen Dirnentums geärgerten commis voyageur das Weib einfach als Massenbegriff abthut. Bequem ist dieses Verfahren, es klingt immer geistreich und witzig, wenn man dergestalt boshafte Sprüchlein über die größere Hälfte des Menschengeschlechts dreht und drechselt, ohne unterscheidende Rücksicht auf Alter, Zeit,

 

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Nationalität u. s. w., geschweige denn auf Eigenart des Einzelnen. Es ist das rächende Schicksal, daß gerade bei solchen Typisierungen die tiefsinnigsten Leute am oberflächlichsten werden, daß man ihnen hier am leichtesten und am respektlosesten auf die Finger klopfen kann.

"Das schwache Geschlecht ist in keinem Zeitalter mit solcher Achtung von seiten der Männer behandelt worden, als in unserem Zeitalter" (Jenseits von Gut und Böse, S. 188). Furchtbar! Das muß "überwunden" werden: "Ein Mann... kann über das Weib immer nur orientalisch denken: er muß das Weib als Besitz, als verschließbares Eigentum, als etwas zur Dienstbarkeit Vorbestimmtes und in ihr sich Vollendendes fassen, - er muß sich hierin auf die ungeheure Vernunft Asiens, auf Asiens Instinkt-Überlegenheit stellen: wie dies ehemals die Griechen gethan haben, diese besten Erben und Schüler Asiens, welche, wie bekannt, von Homer bis zu den Zeiten des Perikles, mit zunehmender Kultur und Umfänglichkeit an Kraft Schritt für Schritt auch strenger gegen das Weib, kurz orientalischer geworden sind" (ebenda). Wer mit ein paar Worten so die ganze Weltgeschichte aufbietet, um seinen ungeheuerlichen Weiberhaß wissenschaftlich, "psychologisch" zu machen, der sollte doch wenigstens wirklich die Geschichte des Weibes studiert haben, die da lehrt, daß das Weib durchaus nicht immer nur Besitz gewesen, sondern daß es im Gegenteil an den Grenzen der historischen Zeit eine Epoche gegeben hat, da das Weib herrschte: das Zeitalter des Mutterrechts. Jedenfalls hat es also schon in prähistorischer Zeit verkrüppelte Instinkte gegeben.

Vom "Ewig "-Weiblichen zu reden, ist unsinnig und oberflächlich - es giebt nichts Ewiges, Unwandelbares. Wie weit überragt doch auf diesem Gebiete der Plebejer und Sozialdemokrat Bebel mit seiner Studie über "Die Frau" - der sagt nicht "Weib" - den Aristokraten und Ichmenschen Nietzsche mit seinen witzelnden Sprüchen über die Weiber. Ich habe den mißratenen Instinkt, als ob Bebel ebenso vornehm und aristokratisch in seiner Betrachtungsweise sei, wie Nietzsche gemein und plebejisch: es riecht nach der Kneipe, dem Pferdestall, über die Weiber zu witzeln. Indessen braucht man sich vielleicht nicht über eine Anschauungsweise im Ernst zu erregen, die im Grunde vielleicht nur - medizinisch zu erklären ist.

Das Vorbild Nietzsches hat auf die junge Generation geradezu verheerend gewirkt. Man geberdet sich toll vor lauter Männlichkeit und verdient doch höchstens das Attribut männisch. Man ist stets misogyn und immer psychologisch oder psychophysisch. Die romantisch-mystische Naturphilosophie wird heute von den Sternen und Steinen auf den Menschen, namentlich auf das Weib übertragen. Die Hysterie bietet einen unergründ-

 

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lichen Born von unheimlichen Problemen, die durch die naturwissenschaftlichen Dogmen von Atavismus und ähnlichen darwinistischen Theorien eine grausend blutige Färbung erhalten, ein schauriges Helldunkel von Sinnenkrampf, Gehirnvisionen, Bestialität, Himmelbettdunst und Patchoulimusik - ich will mit diesen Bildern nicht logische Vorstellungen erwecken, sondern in der modernen Art Stimmungen suggerieren. Der Denker sieht in allen Erscheinungen etwas, das einer Erklärung bedarf, nicht aber bemüht er sich, neue Sphinxrätsel auszuhecken und sich an der Wollust des Geheimnisentdeckens zu ver- und begnügen, ohne sich mit der Entwirrung abzuquälen. Es handelt sich ja eben auch nur zumeist um geträumte Phantome und geschaute Erscheinungen, und es ist nicht nötig, daß mau stets als Quelle Krafft-Ebings Psychopathia sexualis annimmt, obgleich jüngst einer allen Ernstes dieses Buch als Gradus ad Parnassum allen Weibsdichtern empfohlen und das Studium des Werkes als absolute Notwendigkeit hingestellt. In der Vorrede zu seinem neuesten Werk: "Alltagsfrauen. Ein Stück moderner Liebesphysiologie" giebt Ola Hansson als seine Anregungsquelle geradezu Krafft-Ebings Psychopathia an - ein unschätzbares Geständnis für jeden Beurteiler des Gegenwartgeistes. Jungen Lyrikern, die etwa zu "Psychophysischen Liedern der Liebe" Lust und Eignung haben, empfehle ich als "produktiv" machendes Werk Casper-Liman's Handbuch der gerichtlichen Medizin, namentlich die darin enthaltene sexual-psychiatrische Kasuistik.

Ein Teil der modernen Litteratur, und gerade leider ein Teil, der in Wahrheit litterarisch ist, liegt im Banne femininer hysterischer Mystik. Jeder, der einmal vor einer Sphinx brünstig gekniet und das von ihr aufgegebene "niederländische" Rätsel gelöst, zwingt sie zugleich, daß sie sich schaudernd hinabstürzt in den Abgrund eines modernen Romans. Wir haben heute keine geraden, reinen Linien mehr. Alles verzwickt, verschoben, verfault, launen- und sprunghaft, wirr und wund, nervös und unzurechnungsfähig - jedes Ding angeschaut unter dem Nachtglanz der Brunst, man vergeschlechtlicht die ganze Welt. Es wimmelt von rokokomäßig verschnörkelten Seelen. Woher diese Erscheinung? Ich möchte mir darüber eine schüchterne Vermutung erlauben, über die ich die Physiologen zu lachen bitte. Unsere Jugend kennt fast ausschließlich nur die Kategorie von Weib, die ebenso Liebesgier als Kinderscheu hat, welche die Ursachen liebt und die Wirkungen haßt und, weil sie das Gesetz der Natur zu umgehen trachtet, unter der Rache der zürnenden Natur leidet. Diese Weiber leben in einer Art ewiger latenter Schwangerschaft mit all den Launen und schwankenden Unbegreiflichkeiten, die in der natürlichen Schwangerschaft periodisch und selten sich einstellen. Aus der Beobachtung dieser gestörten Uterusstimmung, die durch die

 

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Unnatur verewigt und damit das Urwesen des Weibes scheint, entstehen dann jene psycho-physo-pathologischen Seelenzustandsromane, die so viel kranke Genialität und geniale Krankheit und ebensoviel kranke Genitalität mitschwemmen, und die alle die Schatten der weiblichen Unterwelt heraufbeschwören. Die latente Schwangerschaft der Dirne - das ist die Lösung des Rätsels, warum das Weib so ein dämonisches, furchtbares - wie die Dichterinnen der Gartenlaube so hübsch sagen - undefinierbares Etwas geworden ist.

Mit der krankhaften Vergeschlechtlichung geht eine unnatürliche Verleidenschaftlichung des Lebens Hand in Hand. Die höfliche, zahme Zuchtwahl Darwins verwandelte sich unter der Feder des Modernen in wilden, brutalen Zuchtraub, der manchmal - vergl. Strindbergs un-begreiflicher Weise als Wunderwerk angestaunten "Vater" - zum Zuchts-Mord sich modernisiert.

Der Zug zum Großen zeugt den Zug ins Grobe. Die elementaren Leidenschaften bekommen von den modernen Kraftmeiern ein ausschließliches Monopol auf Wert, alles andere sind elementare Dummheiten. Das Feine, Vielfältige, Zartgetönte ist Lüge und Unnatur, man schätzt die Seele des Menschen nach psychischen Dezimalwagen und Kraftmessern, wie es die Leute physisch auf den Jahrmärkten behufs Abschätzung der Persönlichkeiten thun. Und um jenes Monopol zu rechtfertigen, übertreibt man die Wucht und die Macht der menschlichen Grundtriebe ins Maßlose und unterschlägt, schwächt, verdächtigt, was nicht "elementar", d. h. zügellos, roh, brutal ist. Die Modernen machen sich lustig über die altbackenen Theaterstücke, in denen man nichts weiter zu thun zu haben scheint, als sich zu verlieben und zu verloben und wo der Vorhangsfall im letzten Akt gnädiglich das drohende Brautbett verhüllt. Machen es unsere Modernen viel anders? Sie sind nicht mehr zärtlich, sondern leidenschaftlich, nicht mehr naiv, sondern natürlich, nicht mehr philisterhaft, sondern frei, nicht schwächlich, sondern stark, im übrigen aber dieselbe Ausschließlichkeit: nichts anderes als Leidenschaft, kein Augenblick ohne Leidenschaft, ohne elementaren Ausbruch von Natur, Freiheit, Kraft. Eine ins Ewige und Pausenlose gelogene Leidenschaftlichkeit, ein Vulkan, der stets Eruptionen zur Verfügung hat, ohne eine Sekunde der Unterbrechung, keine Ruhe bei Tag und Nacht, keine Sonntags- und Feiertagsruhe, keine Ruhe der Abspannung, Ermüdung, Krankheit, keine Ruhe durch Arbeit, Thätigkeit, Erwerb, eine künstliche Erhitzung bestimmter menschlicher Eigenschaften auf Kosten aller übrigen - das ist die große, verlogene Unnatur, die man den Dummen als Natur aufschwatzen will, als Muster und Vorbild zur Nacheiferung, als Weg zu dem großen Menschenglück, das

 

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ist jene willkürliche, unwahre Auslese weniger Menschentriebe, welche die Köpfe verwirrt, welche schlimmer Schrankenlosigkeit und gemeiner Unzucht die Gloriole der Wahrheit und Natur umgaukelt, bis die Menschen, von all dem Blechdonner betäubt, nicht mehr zu hören vermögen auf die leisen, innigen Rufe der wahren Menschennatur, auf die feinen Instinkte und die leisen Triebe, die weichen Töne und die zartem Hauche. - Man schimpft die Sucht und die Lüsternheit des Pöbels nach dem "Sensationellen" und berauscht sich selbst an dem gleichen Getränk in anderer Flasche, dem "Elementaren"...

Das sind Früchte von Nietzsches Acker. Man will zeigen, daß das Christentum nicht aller Leib und Liebe geschwächt habe. .

Das Christentum hat die Liebe nicht nur geschwächt, es hat sie nach Nietzsche, auch besudelt. Ein andermal meint Nietzsche, das Christentum habe die Liebe sublimiert, es habe eigentlich das, was wir Liebe nennen, erst geschaffen, die sentimentale Liebe mit dem tausendfach verästelten Gefühlsgeäder, mit ihren seelischen Kämpfen und nervösen Krämpfen, ihrem Gegensatz von himmelblauer Geistigkeit und kotfarbener Viehheit, jenen Gegensatz, den Bleibtreu so treffend als einen Grundzug moderner Tragik zum Hauptthema naturalistischen Schaffens proklamiert hat, die romantische Liebe, die sich bis zu den tiefsten Gründen und Abgründen ausfühlt und auskostet, und die in ihrer raffinierten Bewußtheit den Gegensatz bildet zu der naiven, weniger fühlenden als handelnden, weniger begreifenden als zugreifenden unbewußten Liebe. - Ich halte die Bemerkung von dem sublimirenden Einfluß des Christentums für ebenso fein, wie die von der Schändung der Liebe durch das Christentum für fraglich, obwohl wir auch nicht vergessen dürfen, daß erst mit Rousseaus "Neuer Heloise" die moderne Liebe in ihrer vollkommenen Ausbildung beginnt. Wie verhält es sich nun aber mit jener Besudelung der Liebe?

Ein Verächter des Leiblichen könnte nicht ohne Grund sagen: das geschlechtliche Leben ist überall mit dem Geruch des Gemeinen behaftet gewesen. Lauter und rein dachten hierüber auch die Hellenen nicht, denn auch ihnen ist eine frivole Betrachtungsweise dieser Verhältnisse nicht fremd. Und warum sollte es auch anders sein? Es ist eben nicht alles im Menschen rein. Der Weg zur Selbsterhaltung ist mit Dung geschwängert. Wollt ihr etwa den individuellen Stoffwechsel mit dem Nimbus des Schönen und Erhabenen umkleiden? Warum verlangt ihr also solches für den generellen Stoffwechsel, den wir Liebe nennen, welcher der Selbsterhaltung der Art dient, wie jener der Selbsterhaltung des Individuums. Das Volk macht in der frivolen Auffassung auch gar keinen Unterschied zwischen den Ge-

 

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bieten des Bordells und des Aborts; es wühlt mit demselben lüsternen Behagen in den hinter- und vorderweltlichen Zoten. Auch die Sprache macht ja die Liebe zum Verbrechen. Ein Mann, der nicht gemordet, und ein Mädchen, das nicht die Liebe gekostet, heißen gleichermaßen unschuldig!

So könnte ein temperamentvoller Verächter des Leiblichen sprechen. Ich verachte den Leib nicht und suche nach anderen Ursachen jener Besudelung und zugleich nach dem Heilmittel. Der asketische Trieb findet seinen Niederschlag in einem Gesetz, und Gesetze sind immer täppisch und grob im Verhältnis zu den Bedürfnissen, denen sie entsprungen. Aus natürlicher Mahnung wird künstliches Verbot, gegen das der Gegentrieb sich wiederum wehrt. Daher denn dieses lüsterne, gemeine Schielen nach verbotenen Früchten, diese begehrliche Ekelanschauung von der Liebe, wie sie die kleinen Dirnen beiderlei Geschlechts noch vor der Geschlechtsreife sich des Abends einander in den dunkeln Winkeln der Großstädte handgreiflich demonstrieren und wie sie die großen Dirnen in Hosen und Röcken noch nicht vergessen haben. Es ist klar, daß das Christentum mit der Übertreibung des asketischen Triebes auch jene frivole Reaktion zwar nicht geschaffen, aber doch gestärkt hat.

Und hier haben wir eine wahre, erstrebenswerte und erfüllbare Umwertungsaufgabe vor uns. Nicht um die Ausbreitung der Askese, nicht um die Emanzipation des Fleisches handelt es sich, sondern um die Vernichtung jener frivolen Fäulnis.

Die Reinigung des Natürlichen, Entschamung alles Menschlichen - das ist das Ziel, das die Asketen eigentlich wollen. "Dem Reinen ist alles rein", das ist eine Trivialität, die weit tiefsinniger ist, als die unverständlichsten und unverständigsten Paradoxa. Rein und groß (ich würde sagen wissenschaftlich, wenn die Herren von der Wissenschaft nicht häufig selbst diese reine Betrachtungsweise vermissen ließen), rein und groß und ernst sollen wir alles Irdische fühlen und fassen.

In Heines "Vermischten Einfällen" findet sich der folgende: "Wenn das Laster so großartig, wird es minder empörend. Die Engländerin, die sonst eine Scheu vor nackten Statuen hatte, war beim Anblick eines ungeheuern Herkules minder chokiert: 'Bei solchen Dimensionen scheint mir die Sache nicht mehr so unanständig.'" Man kann diesen Scherz im Ernste anwenden in einer Psychologie der "Liebe", des Heineschen "Lasters". Die dunklen Winkel und die kleinen, undeutlichen Linien, die verstohlenen Eckchen .und die heimlichen Gäßchen, die machen die Liebesanschauung frivol, unrein und erwecken die Scham der Schamlosigkeit

 

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die Prüderie. Bei den großen, hellen, klaren Formen schwindet das Schlüpfrige, Gemeine, Lüsterne. Man sieht ohne Mühe und braucht nicht mehr mit angestrengter Gier zu blinzeln. Rein und groß und ernst sollen wir alles Irdische fühlen und fassen.

Ich suchte die frivole Anschauungsweise in geschlechtlichen Dingen aus der Reaktion gegen den asketischen Trieb in der Form des Verbotenen abzuleiten. Die Schändung des geschlechtlichen Wesens hat außerdem wohl noch eine andere Ursache. Die Liebe erscheint als etwas Verbotenes, weil ihre Folgen voll weittragender Gefahren sind für die Gesellschaft. Das Gefährliche erscheint als eine Art von Verbrechen. Die Scham ist das böse Gewissen der sozialen Verantwortlichkeit. So läßt sich die rätselhafte Erscheinung sowohl individual als sozial erklären. Und damit sind wir zu einer zweiten Art der Besudelung der Liebe gelangt, die wesentlich aus sozialen Ursachen hervorgegangen, auch vornehmlich und radikal nur durch soziale Umgestaltung beseitigt werden kann. Das ist wohl das Schlimmere, was mit der Liebe geschehen ist, und an diesem Schlimmen ist das Christentum jedenfalls unschuldig.

Wir sind sehr aufgeklärt, und gegen alle Konvention haben wir eine fast schon wieder konventionelle Verachtung. Wir scheren uns nicht darum, ob unsere Gefühle erlaubt, sittlich sind, aber wir haben eine heillose Angst, ob wir denn wirklich besagte Gefühle haben. Wir haben keine Angst vor dem lieben Gott der Religion, aber fürchten uns heidenmäßig vor dem Allah der Medizin. Wir lieben in der einen Hand diskrete Schutzartikel und in der anderen Mantegazzas Physiologie und Hygieine der Liebe. Wir schlagen unsere Empfindungen in den Lehrbüchern nach, und wir freien Geister sind Sklaven jeder neuen Medizinmode. Unsere Liebe ist feig, hypochondrisch, nervös... "quecksilbern". Man hat die Liebe zum Homunculus gemacht. Wissenschaft und - "Industrie" (in vielfachem Sinne) haben sie in ihre Behausungen gelockt und genotzüchtigt. Es giebt keine jungfräuliche Liebe mehr, den Schmetterlingsstaub hat man ihr mit plumpen, karbolstinkenden Fingern abgestreift und den Blütenduft ihr mit vielen sinnreichen Apparaten ausgezogen. Wohl hat der Schmetterlingsstaub und der Blütenduft ein Asyl gefunden bei wenigen echten Dichtern und echten Asketen (und ihre gefälschte Nachahmung bei den meisten Dichterlügnern und heuchelnden Jägern höherer Gänse), aber die große Welt hat die jungfräuliche Liebe verloren. Die Not des Lebens hat auch die Liebe entweiht. Erst wenn wir die wahre asketische Reinheit gewonnen und die sozialen Teufel gebannt haben, werden wir die lauterstarke Liebe haben.

 

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Bei all dem Gerede über Askese und Liebesfreiheit und -Frechheit dürfen wir unter allen Umständen eines nicht vergessen: die Liebe ist ein sozialer, kein individueller Trieb. - Zweierlei Eigenschaften scheinen den sozialen Trieben beizuwohnen: erstlich klingen die Gefühle des Edlen, Schönen, Erhabenen als Obertöne mit, was bei dem individuellen Nahrungstrieb z. B. nicht der Fall ist. Sodann haben sie etwas Schwankendes, Schillerndes, Wogendes an sich. Über ihr Wesen ist man sich nicht klar; die größten Widersprüche und die ärgsten Verwirrungen finden hier Raum. Selbst über die Notwendigkeit oder Nicht-Notwendigkeit herrscht keine Einmütigkeit. Es ist ja natürlich, sobald man das Gebiet des Verhältnisses von Mensch zu Mensch betritt, so fangen auch die zahllosen, verwirrenden Permutationen an. Eines ist jedoch bei der Liebe als fest und maßgebend anzunehmen, daß sie eben ein sozialer Trieb ist. Und damit gewinnt man als Sittengesetz: diejenigen Formen und Äußerungen der Liebe sind unsittlich, welche der Allgemeinheit, zunächst also einem Teil des Ehepaars, der Familie und weiter einem Geschlecht, einem Volke schaden. Und damit gewinnt man als Aufgabe: Beseitigung derjenigen Ursachen, welche die Verletzung jenes Sittengesetzes zur Notwendigkeit machen, also Seelenreform und Sozialrevolution.

Ach was! schreit der Individualist nach Nietzsches Herzen. Sittengesetz hin, Sittengesetz her! Das liegt jenseits von Gut und Böse. Wir wollen uns entwickeln, indem wir - - "lieben", schrankenlos lieben, und alle Hindernisse, Schwierigkeiten, Bedenklichkeiten im Sturme nehmen. Werdet hart! Werdet hart! Nur keine Zaghaftigkeit, wo es gilt, das herrliche Ich zur Entfaltung zu bringen. Und vor allem wollen wir keine Askese, nur keine Askese, aus keinen Fall Askese ....... So beruhigt euch doch, werte Individualisten! Niemand will euch die Askese aufzwingen vor der - Impotenz. Macht, was ihr wollt und könnt! Nur das Eine sage ich euch: Verwechselt nicht faunisch mit faustisch! Und das andere sage ich euch: Brecht ihr das Gesetz, das ich aufstellte, und verlacht ihr die Aufgabe, die ich hinstellte, so werdet ihr sterben an dem, was ihr gesündigt. Ihr werdet nicht hart sein, sondern zerfließen in schmutzigen Erweichungen. Ihr werdet in Wirklichkeit kosten, was Entartung ist, während ihr jetzt nur mit dem Worte lüstern spielt. Und das dritte sage ich euch: Wollet nicht, daß um eurer willen alljährlich Tausende von Frauen in den Spitälern faulen. Verschmäht ihr das Mitleid, so möge euch die Furcht die neue Losung einätzen:

Werdet weich!

 

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XIV.

Werdet weich! Mitleid! Da wäre ich ja mitten in der Revolution der Werte. Ach ja, es genügt nicht mehr, euch das Wort Mitleid zu nennen, um euch zu bekehren, ihr habt sie jetzt durchschaut, diese verschrumpelte, verlogene christliche Erfindung. Ich muß euch auch hier Beweise geben. Aber ich bin warm geworden, mich packte der Zorn über die verbrecherische Leichtfertigkeit der Immoralisten. Ich mag nicht gleich hinabsteigen zu nüchterner Argumentation über Egoismus und Altruismus, und will euch lieber ein Märchen erzählen zum Übergange und zur - Verführung.

Kennt ihr das Märchen vom genialen Haupt und vom geschnittenen Hühnerauge? Nein? So hört, aber schnell; denn es ist gleich wieder zu Ende. Es war einmal ein geniales Haupt. Das hatte einen Wahlspruch, der hieß: Der Löwe geht einsam, die Schafe halten zusammen. Danach handelte das geniale Haupt und kümmerte sich weder um den Rumpf, noch um die Extremitäten, noch um die Eingeweide. Da geschah es, daß der kleine Zeh des linken Fußes ehrgeizig wurde und sich wandelte in einen hürnenen Siegfried, und der kleine hürnene Siegfried richtete große härmende Schädigungen im Lande an. Boten kamen auf Boten -Schmerzen nannte man sie - zum genialen Haupt und jammerten: Weh, hilf uns, wir leiden grausam. Das geniale Haupt aber ließ sich nichts merken, obwohl ihm gar unbehaglich war; denn es dachte an seinen Wahlspruch: Der Löwe geht einsam, nur die Schafe halten zusammen. Wie aber schließlich Schweißtropfen als freche Zeugen seines Übelbefindens auf der Stirn erschienen, wendete das geniale Haupt seinen Wahlspruch um und um, und siehe da, es ergab sich eine nachgiebige Erlaubnis: Der Löwe darf sich zum Befehlen herablassen. Und das geniale Haupt befahl: Schneidet doch dem hürnenen Siegfried die Hornhaut ab, ihr Schafsgesindel! Die also Geschmeichelten ließen sich das Wort nicht zweimal sagen, sondern beauftragten die rechte Hand unverzüglich mit dem Werk, und diese schnitt alsbald dem hürnenen Siegfried die Hornhaut ab. Eine Weile schien es, als ob alles gut ginge, und das geniale Haupt sonnte sich in seinem Wahlspruch: Der Löwe geht einsam, die Schafe halten zusammen. Aber bald zeigte es sich, daß die rechte Hand in ihrem Werke wohl etwas versehen hatte. Eine Seuche entstand im ganzen Lande, Blutvergiftung genannt. Und wieder kamen eilige Boten zum genialen Haupt: Hilf uns, wir sterben. Diesmal war das geniale Haupt schon schneller bei der Hand mit dem Befehlen, denn es war ihm recht sonderbar und schien ihm die Sache an den Kragen zu gehn. Also befahl es: Sägt doch das Bein ab, ihr Schafsgesindel! Die Boten waren schon vor dem bösen Vokativ längst fort

 

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und holten aus fremden Landen eine kunstverständige, professorliche Hand; die sägte wacker das Bein ab. Aber es half nichts, Rumpf und Eingeweide und Extremitäten wurden von der Seuche gefällt, und endlich kam sie zum genialen Haupte. Das war über die Maßen zornig ob der Gemeinsamkeit mit den andern, und der Zorn war noch größer als der Schmerz: wenn es noch wenigstens eine andere Seuche gewesen wäre, eine feine, vornehme, geniale Spezialseuche, aber nun dieser ekelhafte Kommunismus! Und so brüllte das Haupt: Was willst du von mir, du Dirne des Gemeinen, von mir, dem Einsamen, dem Löwen? Bleib bei den Schafen und wag dich nicht zu meiner einsamen Höhe. Der Löwe geht ..... Da konnte es nicht. weiter reden, das geniale Haupt, und starb mit einer Verfluchung des Schafsgesindels. - Das ist das Märchen von dem genialen Haupt und dem geschnittenen Hühnerauge. Und die Moral? Es hat eine Moral, sogar eine Sklavenmoral! Ratet sie nur! ......

"Das ist mein Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rate ihr würdet meinen Übermenschen - Teufel heißen! (Zarath. II, 95)." Denn der Übermensch ist hart, er kennt kein Mitleid, er hat sich befreit von jenem christlichen Mitleid, das die Welt geschwächt und krank gemacht hat, das den gesunden Egoismus verwandelt in siechen Altruismus, das die Welt voll, übervoll behäufte mit den Vielzuvielen, den Mißratenen und Schwächlingen, den Viertelmenschen und Wrackmenschen, dem kleinen ekelhaften Geschmeiß, das sich reckt und räkelt in seiner dunstig feuchten Wärme auf Moder und Lumpen und Schimmel.

Wohl mancher hat in schwarzen Stunden einen ätzenden, verzehrenden Haß gegen alles Sieche, Kranke, Verkrüppelte empfunden, das sich so widerwärtig breit auf der Erde macht. Aber aus dieser Empfindung kann man keine Weltanschauung bauen, ebenso wenig wie aus Weiberhaß oder Antisemitismus, das sind keine zentralen Gedanken, sondern solche, die höchstens in einem finsteren Winkel unter dem Giebel Platz finden sollten, da, wo die Spinnen auf Beute lauern und die Fledermäuse hausen. Noch weniger aber dürfen wir für das Dasein des Elends das Mitleid verantwortlich machen! Eine Krankheit sehen und dann aufs Geratewohl irgend eine Ursache hervorzerren und an den Pranger schleppen, das heißt Köhler- und Hexenglauben. Die Kühe der Frau Nachbarin Welt sind krank. Wo steckt die Hexe, die sie bezauberte? Ha! man hat die Hexe schon, die blasse, schöne, schüchterne Dirne mit dem weichen Haar und den weichen Augen. Und doch hatte sie den Kühen nichts zu Leide gethan, sie ging überhaupt selten unter die Menschen, ihr Treiben war zu roh und laut, nur selten erschien sie und leise, sonder Gewalt und prunkender Macht. Aber man

 

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hatte sie schleichen sehen zu den Ställen mit den kranken Kühen, etwas Verdächtiges in der Hand. Da griff man sie und verhörte sie und folterte sie, und schließlich warf man sie in das Wasser, die stumme, verstockte Dirne, die ihre Schuld nicht eingestehen wollte. O du grausamer, thörichter Hexenrichter Nietzsche! Warum prüftest du nicht das Verdächtige in der Hand der Hexe. Heilkräuter wollte sie bringen, die nur sie allein kannte. Und du verschüttetest grausam und thöricht den einzigen Heilsweg!

Ja, bin ich denn blind? Ich vermag nicht zu sehen, wo das Mitleid weilt, wo es herrscht. In den Religionsstunden wurde es gelehrt, dann vergaß man es, wie die griechischen unregelmäßigen Verba, die Römerzüge der Hohenstaufen und die Stereometrie. Wir sind mitleidig aus denselben Gründen, wie wir gerecht sind. Wir sperren die Verbrecher in das Gefängnis, die Krüppel in die Zuchthäuser der Wohlthätigkeit. Unschädlich wollen wir Verbrecher und Krüppel machen, unschädlich für unseren Leib und unsere Seele. Egoismus ist unser Rechtsgefühl wie unser Mitleid. Und wie? Wagt man es wirklich, von krankhafter Mitleiderei zu sprechen in unserer Zeit, der Zeit umbarmherziger Interessenvertretung und Interessenzertretung, der Zeit des industriellen Massengiftmordes, der finanziellen Plünderungszüge, der junkerlich-agrarischen Jagdfreiheit, des rauchlosen Pulvers, des Melinits und der Millionenheere, Millionenherden von Schlachtvieh! Wagt man es wirklich? Und niemand lacht in zornigem Hohn und ballt hohnlachend die Faust?......

Nietzsche setzt die unerfüllten Ideale einzelner, erlesener Menschen einfach als erfüllt und legt nun dieser gewähnten Erfüllung seine liebe Decadence zur Last. Durch diese optische Täuschung, die ihn auf leerer Fläche die Bilder wiedersehen ließ, die er eben in der grellen, scharfen Beleuchtung verbesserungssüchtiger Apostel geschaut hatte, gelangt er zu seinen verhängnisvollen Folgerungen. Der Johannes in der Wüste wandelte sich ihm in einen Weltherrscher, der sich nicht von Heuschrecken kümmerlich nährt, sondern sich von den Seelen der eingefangenen Menschen mästet. So fließt Nietzsches Lehre aus einem Spuk, einer gespenstischen Verblendung und Verkehrung. Und wenn wir nun zugeben, daß Nietzsches Kritik der bestehenden Zustände richtig ist, so müssen wir gerade umgekehrt folgern, daß nicht jene Decadence-Moral die Schuld trägt, sondern der Mangel dieser Moral, der Egoismus, nicht der Altruismus.

Egoismus und Altruismus ist eine Antithese, die wie Gut und Böse, Schön und Häßlich und wie alle diese menschlichen Begriffsantithesen

 

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Maximalwerte gegenüberstellt. Von den zahllosen Abstufungen des psychischen Spektrums greift die Sprache meist nur die Pole, das Violett und das Rot auf. Ein Irrtum ist es aber, aus dieser sprachlichen vergröbernden Auslese anzunehmen, daß diese Antithesen brückenlos neben einander klaffen, und dann die ganzen Begriffe als Phantome zu verwerfen weil sie in dieser krassen Scheidung der tieferen Erkenntnis nicht entsprechen. Deswegen, weil Egoismus und Altruismus (oder Gut und Böse etc.) in Wahrheit nicht hart und scharf getrennt aneinanderstoßen, darf man nicht die beiden Begriffe entwerten. Sie sind abstrahierte Maximalwerte, die für eine unendliche Summe von fließenden Werten sprachsymbolisch stehen, sie sind zwei Arme Eines Hebels. Mag man die Unvollkommenheit der Sprache schelten, aber nicht die zu Grunde liegenden Wahrheiten anzweifeln.

In der That ergiebt jede genauere Analyse derartiger Antithesen, daß die beiden Begriffe sich durchaus nicht reinlich scheiden lassen, daß sie in einander überfließen, daß sie eine Einheit des Wesens bilden; der begrifflichen Einheit müßte dann eine Vereinheitlichung in der praktischen Ethik entsprechen.

Der Egoismus strebt nach der Icherhaltung und der Ichentfaltung, der Ichlust; letzteres Element tritt namentlich bei den modernen Individualisten hervor. Der künstlerisch-philosophische Ichgeist will sich nicht nur erhalten, er will sich auch schön erhalten, er will sich seiner Pracht freuen. Wie in dem Egoismus die Ichlust nur ein Element ist, so ist in dem Altruismus das Mitleid nur ein, nicht das einzige Element. Schon in dem Mitleid steckt ein Gutteil unbewußten Icherhaltungstriebes, der aber auch bewußt im Altruismus austritt. Daneben strebt der Altruismus nach der Arterhaltung, beruhend auf dem allmählich zum Sozialtrieb erwachenden Herdentrieb. Es wäre eine Zeit denkbar, wo das Mitleid nicht mehr notwendig und rudimentär würde und an seine Stelle die Mitlust träte. Man will dann, daß die Welt nicht nur erhalten, daß sie schön erhalten werde. Die nahe Verwandtschaft von Egoismus und Altruismus, die Einheitlichkeit beider Wesensinhalte würde alsdann noch mehr hervortreten, man würde gar nicht mehr diese jetzt schroff aneinander prallenden Gegensätze scheiden.

Ich verhehle mir nicht, daß meine dialektischen Zergliederungen der Begriffe Egoismus und Altruismus durchaus nicht einwandsfrei sind. Solche begrifflichen Auseinandersetzungen scheitern ja stets an gewissen Denkhindernissen. Nur das Eine glaube ich klar gemacht zu haben, daß Egoismus und Altruismus nicht Gegensätze in dem vollen Sinne dieses Wortes sind. Gemeinsame Elemente haben sie von Haus aus, nur das Ziel der Entwickelung scheint mir die wachsende Annäherung, Anähnlichung,

 

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Angleichung beider Begriffe und zwar in der Richtung nach dem Altruismus, der alle Elemente des Egoismus in sich verschmilzt.

Damit glaube ich zugleich gezeigt zu haben, daß der Begriff: egoistische Moral ein Nonsens ist, es ist ein Wort ohne Inhalt, Quecksilber in Blei gegossen, eine Mischung, die sich selbst zersetzt.

Noch klarer wird diese Wahrheit, wenn wir uns ihr auf empirischem Wege nähern. Kein Mensch steht allein. Hat er nicht Kinder, so ist er doch Kind. Das Verhältnis der Gatten zu einander, das der Eltern .zu ihren Kindern bietet eine Fülle von altruistischen Selbstentäußerungen. Ein egoistischer Wille würde sich gar nicht bethätigen können. Selbst der egoistische Hagestolz, der sich um niemanden in der Welt kümmert, er hat doch einmal wenigstens den Altruismus gelitten; ohne die Selbstentäußerung seiner Mutter wäre er nicht. Es ist klar, daß die Menschheit noch schneller auf dem Wege des Egoismus in der abstrakten Vollbedeutung dieses Begriffs zu Grunde gehen würde als durch die Askese. Der Gedanke des absoluten Egoismus ist überhaupt undenkbar, er ist eine Abstraktion, der nichts Reales entspricht, noch entsprechen kann. Von Anfang an weben sich Tausende von Fäden zwischen dem Ich und dem Ummich; man kann sie leugnen, aber nicht beseitigen.

Mit diesen primitiven Andeutungen mag es sein Bewenden haben. Die ganze Argumentation ist ja eigentlich so selbstverständlich, daß man sich fast scheut, sie anzuwenden. Und doch mußte es geschehen, um die Luftspiegelung des absoluten Egoismus als eine Denkhallucination zu beweisen.

Es wird sich also jetzt nur noch um die Frage handeln, ob die egoistischen oder die altruistischen Elemente in uns überwiegen sollen, nicht ob der Egoismus oder Altruismus ausschließlich herrschen soll. Das metaphysische Sittlichkeitsproblem steigt auf die Erde herab und erscheint als rein praktische Zuständigkeitsfrage: Wenn Konflikte zwischen meinem Willen und dem der anderen ausbrechen, wenn meine Entwickelung, Entfaltung Hindernisse findet an den Interessen der anderen, was ist zu thun? Egoismus oder Altruismus, Selbstverkümmerung oder Unterdrückung der anderen?

Um die Entscheidung in einem großen Teil der hierher gehörigen Konflikte brauchen wir uns nicht die Köpfe zu zerbrechen, da sie uns gebrochen werden, falls wir nicht das Ich altruistisch zügeln. Das Strafgesetzbuch kündet in seiner kettenklirrenden, blutigen Sprache die Lehre des Altruismus. Es ist doch nicht so leicht, das Strafgesetzbuch als christliche Erfindung abzuthun, sintemalen im Buch der menschlichen "Erfindungen" das Strafsystem nach Alter und Ausbildung wohl den ersten Rang einnimmt.

 

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Wenn Nietzsche folgerichtig den Verbrecher als eine Art Übermensch auffaßt, so erinnert das an einen älteren Ichphilosophen. Fichte zog, um des Prinzips der Aktivität willen, den Verbrecher dem Trägen vor. So huldigt Nietzsche dem Verbrecher seiner Egoismuslehre zuliebe. In beiden Fällen sind es karrikierte Musterbeispiele, Beweisstücke, die nicht die Erfahrung, sondern der verbissene Ingrimm logisch-abstrakter Konsequenz ausspielt. Der Verbrecher aber ist gerade ein Beweis gegen den Egoismus. Dächten wir uns die Welt mit lauter Egoismus-Verbrechern bevölkert, was müßte geschehen. Sie würden sich entweder altruistisch verbrüdern, d. h. selbstentäußern, oder Menschenfresser werden müssen. Im ersten Fall gelangt man also zum Altruismus, im zweiten zur Komik, zu der schönen Geschichte vor den zwei Löwen, die sich gegenseitig "aufgezohren".

Es bleiben nunmehr diejenigen Konflikte übrig, die nicht in die Machtsphäre des öffentlichen Rechts fallen. Und hier waltet das Strafgesetzbuch des Gewissens. Der Niederschlag der Sittlichkeit und der Sitte im Ich, ein in Trieb verwandeltes Strafgesetzbuch, das ist das Gewissen. Überlieferung, Erziehung sind seine Erzeuger. Der Inhalt, die Art des Gewissens ist in ewigem Fluß. Es giebt kein starres Gewissen. Weil es aber. eben aus dem Milieu geboren, darum ist es notwendig. Der metaphysische Gottbegriff des Gewissens dürfte vor einer schärferen Analyse nicht bestehen. Vielfach ist das, was uns übersinnlich eingegeben, eingeboren scheint, nichts als Furcht vor Strafe. Auch der Verbrecher, der durch sein "Gewissen" bedrängt, sich selber ausliefert, widerlegt nicht, sondern bestätigt diese Ansicht. Furcht vor Strafe ist es, kein himmlisches Mysterium. Weil die Furcht vor der Strafe tiefer frißt als die Vollziehung der Strafe - Hunde erzieht man viel besser mit drohenden ausgehobenen Händen, als mit niederhagelnden! - stürzt er sich in das Ende, vor dem er schwindelt, ähnlich wie feige Soldaten, die ihr Leben allzulieb haben, sich in der Schlacht selbst - erschießen.

Ich habe den Begriff des Gewissens gleich wieder ausgelöst, um mich nicht dem Vorwurf auszusetzen: Du willst die altruistische Moral beweisen und beweisest sie durch das Gewissen, das doch selbst wieder auf der altruistischen Moral beruht, und du suchst diese Tautologie zu maskieren, indem du gleich den Daseingottesbeweislern übersinnliche Mächte zu Hilfe nimmst.

Ich meine nicht, daß man sich dem, etwa vom Himmel gefallenen Strafgesetzbuch des Gewissens als dogmatisch letzter-unbeugsamer Instanz unterwirft, sondern daß man sich selbst Gesetze aufstellt und nach ihnen urteilt. Wir sollen uns ein Gewissen schaffen, dem wir alsdann folgen. So lange die ungeschriebenen

 

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Gesetze, die wir ererbt haben, genügen, so lange das alte Gewissen ausreicht, brauchen wir nicht zu ändern. Fühlen wir Lücken und Unzulänglichkeiten, so müssen wir neue Gesetze, ein neues Gewissen zu schaffen suchen.

Nietzsches Kampf gegen die Moral scheint mir ein Symptom dafür zu sein, daß solche Lücken und Unzulänglichkeiten gegenwärtig hervorgetreten sind. Eigentlich meinte Nietzsche nicht die Moral überhaupt, sondern einzelne Moralinhalte. Das Verhängnis war nur, daß er in seltsamer Verblendung gerade die Stützen der Moral durchzusägen bemüht war.

Unsere alte Moral ist thatsächlich in Auflösung begriffen. Die Sitte ist heute "konventionelle Lüge", die Sittlichkeit Heuchelei oder Irrsinn. Jeder muß sich seine eigene Moral suchen, ohne daß er je Gewißheit erlangt, ob sie die richtige ist. Unsere alten Gewißheiten und unser altes Gewissen versagen*), wir brauchen neue Gewißheiten, ein neues Gewissen; ein neues Gewissen, das den gegenwärtigen Stand der Dinge in sittlichen Forderungen in der Seele allgemein giltig niederschlägt. Suchen wir nach solchen neuen, allgemein giltigen Forderungen, nach einem neuen Gesetzbuch des Gewissens, nach bindenden Handelnsverträgen. Dann

*.) Ein Beispiel für die Versagung des alten Gewissens bietet Hauptmanns Sonnenaufgangs-Problem. So sagt ein Beurteiler allerneuester Zeit: "... gerade der Vorwurf trifft Hauptmanns Helden Loth mit vollstem Rechte, daß er wie ein sozialer Revolutionär schwatzt und wie ein sozialer Reaktionär handelt. Loth verläßt ein braves und reines Mädchen in feigem Wortbruche und in vollem Bewußtsein, sie dadurch dem verderben zu überliefern, weil in ihrer Familie Alkoholismus verbreitet ist." Wenn man in Berlin über das Problem sprach, so gab es eine große Mehrheit, die sich überhaupt nicht in Loths Seele hineindenken konnte und mit Schimpfworten gegen den widrigen Vererbungsfexen und Mädchenbetrüger allzu freigebig hauste, während eine Minderheit in dem Helden ein leuchtendes Vorbild einer neuen, moralstarken, gesunden Generation sah und jeden für einen Schuft und Verbrecher erklärte, der aus persönlicher Geilheit unsägliches Unheil zu schaffen den traurigen Mut hätte. - Ich habe einmal privatim erfahren, ich weiß nicht, ob die Mitteilung verbürgt ist, Hauptmann hätte auf kritische Einwände hin einen Augenblick daran gedacht, den Schluß zu ändern: Loth sollte, seiner Liebe nachgebend, von seiner hastigen Flucht nach wenigen Sekunden zurückehren, etwa also mit einem.. "Ich kann nicht!" Das Stück hätte durch solche Änderung an Natürlichkeit oder besser Gewöhnlichkeit gewonnen, an der straffen, einheitlichen Gebundenheit des Gedankens verloren. Daß auch die Wirkung durch den veränderten Schluß abgeschwächt worden wäre, ist wohl zweifellos. Extreme Theoretiker des Naturalismus mögen aus diesem Beitrag zu einer künftigen "Psychologie der dramatischen Wirkung" entnehmen, daß die Forderung der sogenannten Lebenswahrheit nicht selten vor anderen ideellen Forderungen zurücktreten muß. - Jener Änderungsgedanke Hauptmanns ist ein Beweis dafür, daß der Dichter selbst über die Stärke jener Forderung des neuen Gewissens sich noch nicht im klaren war.

 

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erst werden wir uns aus der zerrissenen Zeit herausretten, wo alles klafft und nichts klappt, wo jeder eine ungeheure Kraft vergeudet, um für sich einige zur Not die ärgste Blöße umhüllende Moralfetzen zu gewinnen.

Aus dem Gesagten ergiebt sich die verzweifelte Schwierigkeit, feste Regeln für die Konflikte zwischen egoistischen und altruistischen Interessen aufzustellen. Das Leichteste ist noch immer, einen von beiden, entweder mit Nietzsche den Altruismus oder mit dem Idealchristen den Egoismus aus dem Bereich des Menschen zu verweisen. Das Unglück will nur, daß eine solche Ausweisung zwar mit Worten verlangt, aber weder in ihrem Wesen noch in ihrer Ausführung vorgestellt werden kann. Es bleibt demnach nur übrig ein Abwägen von Fall zu Fall, das Niedere dem Höheren zu opfern, und nach einer endlichen Versöhnung zwischen den beiden untrennbaren und doch feindlichen Zwillingsmächten zu trachten, das Ich in paralleler Harmonie mit den Interessen der anderen Iche auszugestalten. Als bequemstes, handlichstes Moralhausmittel in schwierigen Fällen wäre im allgemeinen der Satz zu empfehlen: Mag jeder nach seiner Facon selig werden, aber nach keiner Facon einen anderen unselig machen. Wenn altruistische Interessen untereinander widerstreben, so dürfte die Entscheidung leichter sein, da man in diesem Fall mit größerer Unbefangenheit und Sicherheit das Höhere, Wertvollere festzustellen imstande ist.

Ich weiß, daß die vorstehenden Betrachtungen den Paradoxisten und Neubegierigen nach ausgewärmter Küchenweisheit riechen werden, daß sie die nüchternen Wahrheiten allzu trivial finden werden, doppelt trivial und schal, da sie soeben an der herrlichen Prunktafel Nietzsches Urneuheiten gespeist haben oder gespeist zu haben sich einbilden. Drachenzungen stand auf der Speisekarte, und sie aßen das Gericht mit prickelndem Behagen. Aber, meine Herren, Drachen giebt es nicht, und Sie müssen sich wohl in einer Art von hypnotischem Zustand befunden haben, daß Sie mythologische Träumereien - nahrhaft gefunden haben. Sie haben nichts gegessen, rein garnichts, als den pompösen Namen "Drachenzunge".

Wenn ich Euch nicht ermüdet habe mit meinen trivialen Wahrheiten, so will ich noch ein Wort über den Egoismus und das geniale Ich sagen. Mein Märchen hat ja bereits die Thorheit des Gedankens gezeigt, daß das geniale Ich in vollkommener Isoliertheit sich ausleben könne. Hat das geniale Ich keine Luft, sich den Interessen der Allgemeinheit anzupassen, so mag es versuchen, die Allgemeinheit sich anzupassen; auch so entstünde Harmonie. Es ist nun kein Zweifel darüber, daß das geniale Ich bei jenen Interessenkonflikten häufiger die egoistischen Rücksichten walten lassen muß und darf, als der Durchschnitts-

 

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mensch. Es wäre aber ein verhängnisvoller Irrtum, anzunehmen, daß gerade in diesem peinlich notwendigen Egoismus die Größe des genialen Ichs bestehe. Überwuchert der Egoismus in maßloser Weise, so wird das geniale Ich dadurch nicht zum Vollmenschen, sondern im Gegenteil zum Bruchstückmenschen. Männer, die man noch mit einigem Rechte als vom Altruismus nicht angekränkelte Egoisten bezeichnen darf (Bonaparte z. B.), brachten es in Wahrheit nicht zu einer runden, vollen Entwickelung. Auch sie waren Krüppel. Eine hypertrophische Ausbildung einzelner Gaben auf der einen Seite, eine Verkümmerung auf der anderen Seite!

"Gemütlosigkeit und gänzlicher Mangel an moralischem Gefühl kommt bei dem genialen Menschen ebenso häufig vor wie bei Geisteskranken," schreibt Lombroso in seinem "Genialen Menschen". Auch Epilepsie und andere Krankheitserscheinungen finden sich bei den Genies in erschreckender Zahl. Mit demselben Rechte, wie man also die "Moral" (die ja meistens gleichbedeutend mit ihrem wesentlichen Bestandteil, dem Altruismus, gesetzt wird) als Krankheitserscheinung, Decadencesymptom verächtlich macht, weil sie bei den Genies häufig fehlt, mit gleichem Rechte könnte man etwa auch den Mangel an epileptischen Zufällen unter die verabscheuenswerten Degenerationserscheinungen rechnen. Nietzsche preist demnach die Gesundheit als Krankheit und umgekehrt, und begabte Männer glauben an diese Teufelei, dieses Exempel aus dem Hexeneinmaleins...

Der Egoismus ist nicht die Größe, sondern die Schwäche des genialen Ichs, er ist nicht seine Macht, sondern seine Machtlosigkeit. Bonapartes Egoismus zerschellte an dem herrlichen Altruismus, der die Freiheitskriege gebar!

Und endlich noch einen flüchtigen Blick auf das Verhältnis des Egoismus zum Massenelend! Daß der Vorwurf, der Altruismus habe das Elend, die Krüppelhaftigkeit gezüchtet, aufgepäppelt, zum mindesten eine ungeheuerliche Übertreibung ist, habe ich gezeigt; die angebliche Nährmutter ist selbst noch so schwach und schmächtig, daß sie jenen Liebesdienst gar nicht versehen kann. Aber selbst angenommen, der Altruismus trüge die Schuld, was sollte geschehen? Auch hier erweist sich der mitleidlose Egoismus als machtlos. Mit der rücksichtsfreien Unterdrückung oder der kalten, harten Sichselbstüberlassung ist es nicht gethan. Der Zarismus des Ichs ist trotz aller seiner äußerlichen, dröhnenden Gewalt ohnmächtiger als der Altruismus der Kleinen, Siechen, Vielzuvielen.

Der Unterdrückte ist zugleich der Unterdrücker. Der Schwache ist stärker als der Starke, der Kranke als der Gesunde. Das Schlechte rächt sich an dem Starken, vernichtet ihn. Im neunten Kapitel

 

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der "Kreutzersonate" läßt Tolstoj seine zweite Seele, Posdnyschew, über die Ursachen der Frauen- und Judenherrschaft sprechen: "'Sie kennen', fiel er plötzlich ein, 'die Herrschaft der Frauen, unter welcher die Welt leidet, - all dies hat darin seinen Grund.' - 'Wie? Herrschaft der Frauen?' sagte ich; 'sie klagen alle darüber, daß sie keine Rechte habe, daß sie unterdrückt werden., - 'Eben das ist es', sprach er hastig. 'Eben das ist es, was ich sagen will, das erklärt auch die ungewöhnliche Erscheinung, daß von den Einen mit vollem Recht behauptet wird, daß die Frau bis zum äußersten Grade der Erniedrigung herabgedrückt ist, von anderen - daß sie herrscht. Ganz wie die Juden. Wie diese mit ihrer Geldmacht uns ihre Unterdrückung entgelten lassen, so auch die Frauen. 'Ihr wollt, wir sollen nur Handel treiben? Gut, wir treiben Handel und werden Eure Herren,' sagen die Juden. 'Ihr wollt, wir sollen nur ein Gegenstand der Lust sein? Gut, wir sind ein Gegenstand der Lust und machen Euch so zu Leibeigenen', sagen die Frauen."

Das ist die Macht und die Rache des Unterdrückten! Ebenso wenig genügt es, die mit dem Krankheitsstoff "Degeneration" Behafteten einfach mitleidlos verenden zu lassen. Der Stoff selbst muß ausgerottet werden und seine Erregungsursachen. Sonst streut der Kranke den giftigen Samen rächend aus, daß auch der Große, Starke und "Leichtfüßige" entartet. Die sozialen verkrüppelnden Erscheinungen müssen aus der Welt geschafft werden, nicht die Verkrüppelten. Erst wenn man des Cholerabacillus Herr geworden, hat man etwas errungen. Das winzige Lebewesen ist ein Raubtier, das verschlingt, wen es anfällt. Von den Opfern bleibt nichts übrig. Wer aber wird sich mit dieser "befreienden" Thatsache zufrieden geben? Nein mit der Mitleidlosigkeit ist nichts erreicht. Fühlt Ihr es nicht, so begreift es doch wenigstens; rät Euch das Herz nicht, so mag Euch der Verstand raten! Vielleicht versucht Ihr es einmal mit dem wirklichen, echten Mitleid. Und wenn Ihr das Mitleid nicht leiden könnt, die Armeleut-Tugend, so macht es so schnell, wie möglich, entbehrlich, überflüssig daß Euer Altruismus nur noch - Mitlust zu sein braucht.

Zwei Jahrtausende herrscht nun das Mitleid. Aber die sanfte Königin hat böse, mächtige Minister, die ihre Herrin nicht herrschen lassen. Mit gebundenem Szepter sitzt die Fürstin auf dem Thron der Welt, ein nutzloses Prunkstück. Nur einmal alljährlich gestatten ihr die Minister, wahrhaft zu regieren. Das ist, wenn die Weihnachtsglocken läuten, wenn selbst in den öden Steingräbern der Riesenstädte der Wald seinen Einzug hält und das strahlende Licht. Dann überkommt die Menschen auf einmal ein seliger

 

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Taumel, es ist ihnen, als ob sie nach langer Irrfahrt in ihre Heimat zurückgekehrt wären. O, für dieses Heimatgefühl gebe ich Euch alles hin, und die Bände des unbändigen Nietzsche werfe ich in das Feuer, den - Weihnachtskarpfen zu kochen.

Höret das Wort, das nach Tannen duftet und nach Kinderfreude, das Wort des Weihnachtspriesters:

Werdet weich!

 

XV.

"Aber der Kampf ums Dasein? - Die darwinistische Auslese? - Der naturwissenschaftlich begründete Fortschritt der Menschheit?..." So schallt es mir entgegen von allen Seiten. Ich sah es längst an Euren vorgereckten Hälsen, wie Pulver lag der Einwurf auf Euren glühenden Lippen, jeden Augenblick drohend, gegen mich loszuspringen. Nur gemach! gemach! Ich will mich nicht totstellen, wenn ein dräuender Gegner kommt. Ich fürchte mich nicht vor dem schwarzen Mann der Naturwissenschaft.

Falsche Analogien können ganze Generationen verdrehen. Aus dem Kampf um das Dasein geht nicht notwendig das Vollkommene hervor. Wir übersehen in diesem naturwissenschaftlichen Theorem das Grausame, Furchtbare, weil es uns zugleich einen herrlichen Optimismus, den Glauben an den Sieg des Schönen, Edlen und Starken vorblendet. Nirgends aber sehen wir, daß das Bessere im Ringkampf mit den Gewalten Herr bleiben muß. Unzählige kreuzende "Zufälle" drängen sich dazwischen. Ein gewaltiger Eichbaum wird neben einem kümmerlichen vom Blitze zerschmettert: das Kümmerliche siegt im Kampfe mit den Elementen. Weite Gefilde sind bedeckt mit Obstbäumen, die blütenschimmernd starren: ein Hagelschlag vernichtet die duftende Hoffnung. Beim Gärtner unter dem schützenden Glasdach treibt spärlich ein kleines Bäumlein ein paar Blüten. Der Hagelschauer konnte ihm nichts anhaben. - Wir schmeicheln uns jetzt mit der Vorstellung, als ob die Welt sich vorwärts zum Höheren entwickelt - übrigens auch nur eine anthropomorphische Vorstellung! -, indem der Kampf ums Dasein langsam und allmählich das Gute stärkt und das Schlechte ausmerzt. Ja, wie in aller Welt ist man denn berechtigt, den Kampf etwa unter dem Bilde einer sorgsamen Baumschule sich vorzustellen? Der Kampf arbeitet mit Katastrophen, mit gewaltigen, blinden, vernunftlosen Katastrophen. Es ist seltsam, daß man das katastrophische Element als weltbildenden Faktor völlig vergißt über dem schönen Glauben an eine stufenweise Entwickelung, während in Wahrheit die Welt in ruckweisen Katastrophen sich "umgestaltet", um den wertenden Anthropomorphismus "vorwärts geschleudert wird," zu vermeiden. Wohl stählt der Kampf,

 

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es muß aber ein rechter, ordnungsmäßiger Kampf sein, keine Balgerei mit Schlichen und hinterhaltigen Waffen. Frei kämpfen unter gleichen Bedingungen - das erst gebiert die kraftvolle Auslese. Im Menschendasein nun giebt es nicht diesen Kampf, sondern nur jene heimtückische Balgerei. Das ist der verhängnisvolle, verblendende Irrwahn, daß wir den Kampf ums Dasein immer unter dem Bilde des geordneten Ringkampfes sehen, in dem der geistig und leiblich Stärkere obsiegt. Nur so können wir es wagen, auch den Völkerkrieg zu verteidigen, obwohl es doch klar ist, daß z. B. die Franzosen 1870 gesiegt hätten, wenn sie allein damals schon die technische Vollendung der Mordkunst gehabt hätten, die heute das gemeinsame fluchbeladene Erbteil Europas ist.

Geht man so dem Begriff "Kampf" auf den Grund, so wird man mit dieser Erkenntnis erleuchtet ebenso die Nichtigkeit der liberalistischen Freikonkurrenz-Theorie einsehen, wie die Unmöglichkeit, daß man durch Nietzschesche Härte und egoistischen Kampf zum Übermenschen gelangt. Der Menschheit ist es gegeben, durch Zusammenschließen aller für alle einen Kampfplatz zu schaffen, auf dem nur die Kraft das Entscheidende ist, nicht der "Zufall". Ist der Mensch selbst imstande, durch die Solidarität elementare Ereignisse in ihren Wirkungen fast aufzuheben (ich denke z. B. an das Gebiet der "Versicherungen"), wie sollte er es nicht vermögen, auch die von Menschen-thorheit erzeugten Zufälle zu beseitigen und dem fessellosen Streben jedes einzelnen Menschen freie Bahn zu gewähren.

Die dunkle Mystik der Kampf-ums-Dasein-Anschauung ist geradezu eine tötliche Gefahr für die Entwickelung der Menschheit. So kann denn nicht eindringlich genug betont werden: Noch haben wir den Kampf ums Dasein nicht, wir müssen uns ihn erst erwerben. Was wir jetzt mit jenem Schmeichelnamen bedauernd preisen, ist nichts als hinterhaltiger Überfall, gemeiner Meuchelmord, schlauer Diebstahl, blind-rohe Gewalt.

"Wir haben den Kampf ums Dasein nicht!" Nietzsche würde mit diesem Satz in anderem Sinne sich einverstanden erklären: Wir haben ihn nicht mehr, wir haben ihn verloren und sind gegenwärtig daran, auch die letzte Spur zu tilgen. Mit dem Kampf um's Dasein aber hört zugleich das . Dasein, d. h. das starke, aufsteigende Dasein auf, und es beginnt das schwache, absteigende Scheindasein: die Decadence.

Glaubte ich an die Decadence, so würde ich sie, umgekehrt wie Nietzsche,. gerade dem Kampf und nicht der Kampflosigkeit zuschreiben. Der Kampf ums Dasein trifft, wie jeder Krieg, gerade die Stärksten ins Mark. Die Schwachen wissen sich zu schützen. Das Elend ist zeugungskräftiger als der Reichtum. Die Familien der Genies sterben ab, während Trunkenbolde.

 

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und Schwindsüchtige sich üppig vermehren. Der Sturm entwurzelt nur die hohen Bäume, die Gräser bleiben heil - so schwindet das Hohe, und das Zwerghafte bleibt, gerade wegen des Kampfes ums Dasein. - Diese Beweisführung hätte eben so viel für sich, wie die Nietzsches. Aber ich glaube nicht an die Decadence, und damit zerfällt diese Argumentation, die aber trotzdem einen Kern von Wahrheit in sich birgt.

Der Darwinismus ist als wissenschaftlicher Glaube, als gelehrte Hypothese ein Markstein für den Fortschritt der Erkenntnis, ein Rasthaus, in dem man sich erquicken mag auf dem Wege zur fernen, fernen Wahrheit. Wird der Darwinismus aber zum religiösen Dogma, so wird das Rasthaus zur verderblichen Branntweinschenke, in der wir uns bezechen, bis wir, anstatt weiter zu marschieren, taumelnd liegen bleiben und Wahnsinn lallen. Die "Kampf-ums-Dasein"-Theorie ist, auf das Menschliche als Dogma angewandt, eine furchtbare Gefahr, weil sie keine bewiesene Wahrheit ist -wäre sie dies, so würde die Frage nach der Gefährlichkeit allerdings sofort verstummen müssen.*)

Der Kamp ums Dasein spielt eine bedeutsame Rolle in den Schwadronaden des "genialen Ichs" mit seinem Egoismussport.

"Sich durchringen im Lebenskampf, siegreich bestehen alle Nöte und Gefahren, nichts scheuen, was bedrohlich ist, die Drachen des Daseins nicht fliehen, sondern aufsuchen in ihren Höhlen: das ist das Leben! Nicht aber die ersehnte, glückwiederkäuende Behaglichkeit, wie sie die Sozialdemokraten vorgaukeln! Nur das heldische, ewig-umbrandete Leben ist Leben. Im Sturme wächst das große Feuer; das rauchige Ölflämmchen freilich wird

*) Es gilt also hier wieder jene dringliche Warnung vor der "Bethätigung" wissenschaftlicher Hypothesen, mag man diese auch, um sie stattlicher auszustaffieren, Gesetze nennen. Man redet heute ausschließlich von Gesetzen, von historischen und von Naturgesetzen, während man von den Gesetzesvorspiegelungen des Herrn v. Treitschke und des Herrn du Bois-Reymond sprechen sollte. In jedem kleinen Studiosus glimmt heute ein großer Gesetzmacher. Und wer in dem Wissenschaftskrieg doppelt gepanzerte Wahrheiten liebt, der orakelt gar von historischen Naturgesetzen. Es gebührt Rudolf Kleinpaul das Verdienst, auf einem Gebiet, auf dem der historischen Grammatik, den "Gesetzen" des Lautwandels gründlich heimgeleuchtet zu haben. Kleinpaul gehört, so viel ich weiß, nicht zu den Universitätsprofessoren, und darum konnte er in glücklicher Freiheit ohne Verpflichtungen gegen die pietätvolle universitätliche "Schülerhaftigkeit" - Professoren sind bekanntlich stets Schüler und bilden deshalb auch Schulen - den Herren Germanisten, deren größter Ehrgeiz es ist, irgend ein selbstgebackenes mageres Gesetzchen in dicken unheimlich heimlichen Bänden (heimlichen, denn es liest sie niemand) auszuposaunen, einen lustigen Kehraus spielen. Möge der treffliche Verfasser der "Rätsel der Sprache" Nachfolger auf anderen Gebieten finden!

 

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von dem Sturme ausgeblasen. Aber der Mensch soll kein rauchendes Ölflämmchen sein, sondern ein großes Feuer." So spricht der Nietzscheling, phrasen- und bildergedunsen. Denn Phrasen sind es und Bilder, nichts als Phrasen und Bilder. Zunächst will ich mit dem letzten "beweisenden" Bilde aufräumen, grausam gegen die Freude meiner eigenen, glücklichen Erfindung. Im Sturme wächst das große Feuer, aber der große Baum -verkrüppelt. Wem steht der Mensch näher, dem Feuer oder dem Baume, dem Wachsenden, Lebenden oder dem Verheerenden, dem in der Verheerung sich selbst Zerstörenden, dem Diebe, der ein Bettler ist, wenn er alles gestohlen, dem Mörder, der tot niedersinkt, wenn er alles gemordet? Holla! es ist nützlich, wenn man solche Bilder zu Ende denkt. Da haben wir ein Bild, das erstens gar nicht paßt und zweitens das Gegenteil von dem bebeweist, was es beweisen soll. Der Mensch ein großes Feuer, d. h. ein Dieb, der sich um alles bringt, wenn er die Welt um alles gebracht hat. Eine herrliche Widerlegung des Egoisten in diesem Bilde, das ihn zu beweisen erfunden war!...

Max Nordau besprach unlängst in einem Feuilleton den Pariser jungen Mann von heute und verspottete bei dieser Gelegenheit den Typus der kalten Streber Bourgets und seiner Geistesverwandten, jener edlen Jünglinge, die man wohl am treffendsten als hysterische Raubtiere bezeichnen kann. Mit Recht, dünkt mich, behauptet Nordau, daß dieser wahnsinnige Typus von "Übermenschen" àð la mode nur der Litteratur, nicht dem Leben zur Last fällt, daß er ein Erzeugnis mißverstandenen Darwinismus ist, den die Herren Poeten in den feuilletonistisch zurechtgekauten Kampf-ums-Dasein-Tiraden der Boulevardblätter unverfälscht wiedergegeben wähnen. Nordau zitierte bei dieser Gelegenheit den Ausspruch eines Mannes, der Darwin nicht als einen Schutzheiligen allerhand Schön- und Unschöngeister gelten lassen wollte. Der Mann schrieb: "Vor allen Dingen muß Darwin streng aus der Bücherei der Menge verbannt werden. In seinen Werken haben alle Idioten beider Welten scheinbare Gründe für ihre eselhaften Einbildungen gesucht und natürlich gefunden." Das ist grob und gar nicht modern, d. h. genialisch - aber es ist wahr.

Aber auch der von den darwinistisch-egoistischen "Eseleien" freie Kampfstürmer und Feuergeist, der Vertreter nicht der Selbstsucht, sondern der Selbsthilfe sollte sich fragen: Das Ich kämpft sich durch! Was bedeutet das heute? Ein Ringen mit den geistigen Dämonen, eine Titanenschlacht zwischen Wollen und Können, zwischen meiner Weisheit und der Dummheit der anderen? Auch wohl, doch ist das nicht der entscheidende, blutige Kampf. Wir wollen leben, mancher sogar hat den nicht üblen Ein-

 

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fall, gut leben zu wollen. Aber auch der Bescheidenste will sein Futter, sein Täubchen und seinen Taubenschlag. Und die Erfüllung dieses Willens saugt all unsere Kraft auf. Auch das ist wieder zwar ordinär, aber dafür um so wahrer. Hinter jedem Büchermacher steht der Verleger, und hinter jedem Verleger der - Geldschrank, sofern nicht hinter dem Büchermacher selbst der Geldschrank steht. Heute ist alles Aktiengesellschaft, und unser Schicksal heißt Bilanz. Das ist der Dämon, gegen den wir uns durchringen müssen, ein gemeiner, doch gewaltiger Feind. Es ist keine Ehre zu siegen, und Niederlage bedeutet den Tod, und wer die schmutzigen Hände und die groben Ellbogen nicht scheut, und wem nicht Herz und Hirn in dicken Fellen verwahrt sind, der unterliegt und stirbt. Nietzsche ohne materiellen Hinterhalt hätte vielleicht von Vorträgen mühselig sein Leben gefristet und weniger und geringere Bücher in müden Mußestunden geliefert, da hätte ihm all sein stolzes Ichtum nichts genützt. Er wäre meinetwegen eine Art Konzertphilosoph geworden: "Meine Herrschaften, in fünf Minuten stelle ich Ihnen eine Weltanschauung fix und fertig her! Tausend Mark demjenigen, der mirs nachmacht! ! Preisgekrönt in Timbuktu und Meseritz!!! Unübertroffen!!!!"...

Wozu sollen wir lügen, wozu verteidigen wir, um diesem armseligen Dasein die Poesie des Großen, Erhabenen, Grausenhaften zu verleihen, den "Kampf ums Dasein", obwohl sich doch hinter dem dämonischen Visir ein ganz gewöhnliches, aber furchtbar verderbliches Lumpengesicht verbirgt: Geld! Das ist der wahre Gegner, und den müssen wir niederwerfen, damit der edle, ruhmwürdige Wettkampf der Geister erst beginnen kann. Fürwahr, es giebt noch genug zu ringen, auch wenn die grimmen Magenfüllungsfehden nicht mehr von nöten sind!

Der "Kampf ums Dasein" ist keine Rechtfertigung für die Unterdrückung der Kranken und Schwachen, noch ist er ein Weg zum Übermenschen. Der Kampf, oder vielmehr die Katzbalgerei ums Dasein, ist die wahre Ursache der Degenerationserscheinungen, nicht das Mitleid, der Altruismus, die Askese, auch nicht der Einfluß der Rasse. Es werden Krüppel, Degenerierte geboren. Das ist schlimm, aber wir können nichts dagegen thun, als nach Kräften zu ihrer Gesundung beizutragen. Doch weit schlimmer ist es, daß das Leben durch unsere Schuld weit mehr die Menschen verkrüppelt und degeneriert. Wir haben zu enge Schuhe, und nicht nur an den Füßen. Nicht zu viel Menschen werden geboren, wie Zarathustra-Nietzsche lehrt, es sterben zu viele, sterben als Vollmenschen an dem kalten, mitleidlosen, giftigen Leben. Das Leben scheltet, nicht die Geburt! Ein Volkswesen, das auf Eigennutz, Unter-

 

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drückung, Ausbeutung beruht, wird stets das Gespenst: Übervölkerung grausend umgehen sehen, gleichviel, ob 100, 1000 oder 100000 Menschen auf der Quadratmeile wohnen. Herrscht dagegen Recht und Gerechtigkeit und Liebe, so werdet Ihr Euch, die Augen reiben und mit freier, jubelnder, ausatmender Verwunderung fragen: Wo blieb nur die unheimliche fahle Frau mit den taufend welken Brüsten und dem wüsten, schwangeren Leib? Eine schaurige Blendung wars, weiter nichts, die Geburt eures bösen Gewissens! Das Elend ist immer zu viel, und ihr hingt und klammertet euch an die Empfindung "zu viel" und spracht: Das Elend ist da, weil ihrer zu viel sind, anstatt zu sprechen: Laßt uns das Elend heilen; der Gesunden sind nie zu viel! Die Statistik lehrt: Je reicher eine Gegend, desto geringer die Sterblichkeit und. zugleich die Anzahl der Geburten. Die Armut ist also nicht, wie weise Verteidiger unserer jetzigen Ordnung behaupten, das einzige Mittel gegen die drohende Übervölkerung, sondern kraft ihrer unheimlichen, doch wohlbegreiflichen Zeugungskraft die Hauptschuld an ihr. Der Reichtum einer Gegend ist umgekehrt proportional der Sterblichkeit (d. h. proportional der Gesundheit) und umgekehrt proportional der Zahl der Geburten.

Sorgt Euch um das "Milieu", nicht um die Abstammung. Wiege, Schule, Beruf, nicht Brautbett und Mutterschoß bergen die Entscheidung. Nicht Rassenzucht treibt, sondern Menschheitszucht! Dann werdet ihr ein goldenes Zeitalter heraufführen voll Gesundheit und hoher Seelenfreudigkeit! Und vor allem liebet die Kinder! Laßt sie nicht entarten in den stinkenden Kasernengräbern der Armut und des Schmutzes. Aus den Kindern könnt ihr alles machen und nichts. Alle Laster und Verbrechen, alle Leiden und Krankheiten lauern dem Kinde, dem wehrlosen Opfer auf. Sperrt die Türen und laßt die Unholde nicht ein! Gerade in den ersten Lebensjahren empfängt der Mensch Form und Gestaltung, und jeder rauhe Windzug gräbt Furchen in die seeflutende Seele. Ich sah einmal ein Kind, ein frisches, lachendes, gesundes Kind, mit runden Armchen und roten Wangen, in den blauen Augen heiter sinnende Klugheit. Ein paar Wochen daraus erblickte ich es wieder: gelb sah es aus, mürrisch, und es weinte verdrießlich und hatte einen Hang zur Tücke, in den Augen glimmte etwas Müdes und etwas Unedles und Unreines! Ich erschrak ob der jähen Verwandlung. Was war vor sich gegangen? Die Eltern hatten plötzlich ihr Vermögen verloren. Die Mutter war krank und nervös geworden, schalt und zankte und prügelte ihren Gram an dem Kinde aus. Der Vater war völlig gebrochen, bar jedes Lebensmutes. Das Lachen hatte ausgehört, die Sonne war untergegangen. Eine nasse Dämmerung brütete,

 

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üble Launen sickerten an den Wänden wie schmutziges Wasser. So verwehte die zarte Blüte. - Ich habe seit jenem Tage meinen finsteren Vererbungsglauben verloren. Das Kind bringt wenig oder nichts mit auf die Welt; und alles kommt, wie in den alten Märchen, auf die Patengeschenke an, die an die Wiege gelegt werden. - Auch das ist ein ernster, trüber Glauben, aber ein Glauben, in dem Hoffnungen und Thatforderungen schlummern.

Und schließlich, wie könnt ihr die elende Masse schmähen und unterdrücken, wenn ihr an eine Weiterbildung der Menschenart glaubt? Ihr werdet annehmen müssen, daß eine kleine Auslese der Menschen zunächst die neue Übermenschenart darstellen wird. Wie kann sich aber diese Auslese bilden, ohne daß die Kräfte des ganzen Menschentums zu voller Entfaltung gelangen? Der Heros kann im unscheinbarsten Keime schlummern, aus den Verkrüppelten, den "Vielzuvielen" kann er entstehen. Natur wandelt geheimnisvolle Pfade, viel Blut läßt sie zu einander kommen, ehe das große Wunder geboren wird. Der Übermensch läßt sich nicht züchten, er springt empor aus der unendlichen Fülle der Gattung. - So müßtet ihr Zukunftsgläubigen denken und sorgen, daß diese Fülle nicht verdorrt. Auch der magische Künder des Übermenschen spricht: Werdet weich!

 

XVI.

Dem Egoismus und Altruismus entsprechen die Weltanschauungen des Individualismus und Sozialismus, sowie die politischen Theoreme der Aristokratie und Demokratie. Wie bei dem ersten Antithesenpaar. so läßt es sich auch bei den beiden letzten mühelos zeigen, daß es sich auch hier nicht um Gegensätze handelt. Saubere Grenzscheidungen sind auch hier nur in der Einbildung, nicht in der Vorstellung oder gar in der Wirklichkeit möglich. Fließende Grenzen, Mischung der Elemente, hier wie überall!

Nietzsche ist Egoist, Individualist, Aristokrat - Todfeind der entsprechenden Dreiheit; kein Hauch soll von dem einen zum anderen Lagerdringen, ein Abgrund klafft zwischen beiden, unüberbrückbar; und wagt sich der mißduftige Dunst von dem zweiten Lager hinüber zum ersten, so hält man sich die Nasen zu, verordnet Quarantäne und desinfiziert.

Ich will nicht nochmals den Beweis ausführen, daß diese Zweiheiten Einheiten sind, und daß die gegenteilige Ansicht eine geistige Utopie ist.Das Resultat der Beweisführung wäre, daß sich die Entweder-Oder auflösen in Sowohl - Als auch, und daß ein Mensch zu gleicher Zeit Egoist, Altruist, Individualist, Sozialist, Aristokrat und Demo-

 

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krat sein kann und sein sollte. Einiges zur Begründung dieses Schlußergebnisses, das vielleicht etwas nach Fricassee schmeckt - Fricassee aber ist ein Sonntagsgericht! - sei mir noch gestattet.

Die Entwickelung des Einzelnen zur vollentfalteten Eigenart, zur erschöpfenden Zusammenfassung aller seiner Kräfte und Gaben ist Aufgabe und Ziel des Menschen wie der Menschheit. Es liegt mir fern, gegen diese schöne und fruchtreiche Lebensanschauung, welche der Erde Duft und Farbenpracht und vielgestaltige Größe verleiht, ein Wort zu sagen. Nur gegen zwei Verkehrungen der individualistischen Weltbetrachtung möchte ich mich wenden.

Die geringere, harmlosere Verkehrtheit ist es, wenn das individualistische Selbstbewußtsein zum Dünkel, zum Größenwahnsinn des Egozentralismus auswächst. Diese isolierte Selbstherrlichkeit des Ichs dürfte denn doch Ameisenphilosophie sein. Die egozentrische Anschauung bezüglich der Erde ist überwunden, aber die Menschheit dünkt sich noch immer als Zentrum der Erde. Was will man mir einwenden, wenn ich das Meer für gewaltiger halte; und dabei ist auch das Meer nicht von selbstgewachsener Eigenherrlichkeit und Eigenherrschaft: es ist nichts ohne das Milieu: Sonne und Sturm und Mondglanz. Nietzsche will nun auch das Individuum zum Zentrum der Erde machen. Sozialisierung ist ihm Decadence. Warum sollte man nicht des Spaßes halber auch die Individualisierung Decadence heißen. Nur das kranke Glied wird gefühlt. Nur das kranke Menschheitsglied fühlt sich. Der Herdeninstinkt ist Gesundheit, der Ichinstinkt ist Entartung. Man sieht, .mit einigen Analogien läßt sich alles beweisen. - Mit der isolierten Selbstherrlichkeit des Zentrums Ich sieht es nun thatsächlich recht windig aus. Es ist immer gut, wenn man sich gegenüber solchen größenwahnsinnigen Anwandlungen vorhält, was dem Ich von außen gegeben wird. Das Ich ist ohne die Geschenke von außen nichts. Selbst der angebliche Urtrieb (Ernährung) wird erst im Wesen und Inhalt bestimmt durch die Umwelt. Würden wir von Luft leben, wir würden den Nahrungstrieb nicht empfinden, er wäre ebenso rudimentär, unbewußt, gleichsam nicht vorhanden, wie die verschiedenen Sinne, welche, wie man fast wissenschaftlich feststellen kann, noch unbekannt in uns schlummern. Würden wir ohne Beine geboren sein und mit Flügeln, wir würden vielleicht als den Grundtrieb das Inderluftsicherhalten bezeichnen. Und alles käme dann darauf an, daß Luft vorhanden ist. Wir sind ein Etwas, das Form, Inhalt, Wesen, Leben, kurz sein Selbst erst von außen erhält, und das sich, trotz allem Poetenstolz, mit der Reaktion statt mit der Aktion begnügen muß. - Doch verlassen wir dieses nebelumsponnene Jagdland der Metaphysik, in

 

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dem die regen Geister noch immer diesem edelsten Waidwerk obliegen in luftiger Gedankenlöwenhatz, trotz aller wohlweisen Abmahnungen naturwissenschaftlicher Ignorabimusjös.

Die zweite Verkehrung des Individualismus ist schwerwiegender. Das ist der falsche, beschränkte Individualismus, der Individualismus als Recht des Stärkeren. Man paart den Individualismus mit dem Egoismus anstatt mit dem Altruismus. Es ist ein erfreuliches Element in dem unerfreulichsten aller Bücher, daß "Rembrandt als Erzieher" diese Mißehe nicht vollzieht, weil er überhaupt dem ganzen Problem der sozialen Ethik aus dem Wege geht und all seinen Geist dem eigentlich doch recht peripherischen Problem des Individualismus als Gegensatz zum wissenschaftlichen Spezialismus widmet. So verflacht "Rembrandt als Erzieher" das Menschheitsproblem zum Gelehrtenproblem, er kämpft nicht gegen Zeitentartungen, sondern Modeunarten, gegen Schablonentum und gelehrte Kleinkrämerei -ein recht löblicher Kampf, aber eben kein Weltkrieg. Nietzsche ist auch in dieser Hinsicht der zentralere Geist, der mit dem Weltgeist ringt, nicht mit dem Geist der Universitäten, der stets den dunklen, geheimnisvollen, grauenschweren Urströmungen des Menschenwesens nachgeht, statt sich damit zu begnügen, ein paar Narrheiten des Tages mit feierlichen, steiffaltigen und einfältigen Geberden zum Frühstück zu verspeisen, zur Überwindung übler, "linksfüßiger" Morgenlaune.

Nietzsche nun vollzieht mit kühner Unerschrockenheit jene Mißheirat zwischen Egoismus und Individualismus; aus diesem Bund entspringt das Böcklinsche Fabelwesen der harten Herrschermoral. Dagegen entsteht aus der fruchtbaren, gesunden und liebehellen Paarung von Individualismus und Altruismus der Sozialismus, der also dem Individualismus nicht entgegengesetzt, sondern ihn als Faktor einschließt.

Der egoistische Individualismus ist ein Begriff, der sich selbst entzündet. Die ästhetische Freude an der großen Persönlichkeit wird vergällt, wenn sie das Recht ihrer Individualität und die Macht ihres Einflusses dazu mißbraucht, jede entgegenstehende, hemmende Individualität zu vernichten; und diese Vernichtung aller anderen Individualitäten ist eine notwendige Folge des krassen Ichprinzips.

Das nunmehr abrollende Zeitalter Bismarck - übrigens eine karrikierte Verwirklichung der Goetheschen Beschränkungslehre im Faust II und Wilhelm Meister! - jenes Zeitalter, in dem ein mittelmäßiger Kanzlist höher geschätzt und leider auch "eingeschätzt" wurde als ein großer Dichter, war von vollendeter Langweiligkeit und Plattheit, sofern man für den Reiz politischer und finanzieller Stierkämpfe unempfänglich ist. Daß Bismarck

 

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ein ganzer Mann, eine Herrschernatur ist nach Nietzsches Herzen, wer kann es leugnen? Und gerade unter seiner Herrschaft, seinem entscheidenden Einfluß entstand jene Langweiligkeit allgemeiner nützlicher Kleinheit und Zweckmäßigkeit, über die Nietzsche (wie auch der Bismarckomane Langbehn) nicht genug Worte des Zorns, des Schmerzes und der Verachtung finden kann. Unter Bismarck wuchs Nietzsche die Sehnsucht nach dem Übermenschen, und er merkte nicht, daß alles, was er beklagte, gerade der Herrschernatur eines Übermenschen entsprungen war.*)

Aus dem Prinzip des egoistischen Individualismus ergiebt sich die Notwendigkeit einer streng und grausam aristokratischen politischen Regelung und Regierung der Menschheit. Die Herrschsucht ist der Selbsterhaltungsinstinkt der großen Persönlichkeiten; ohne Herrschsucht, die sich zu politischer Macht und Gewalt krystallisiert, ist das große Ich unmöglich. Es bedarf eines unbeugsamen Willens und stark vergitterter Käfige, damit das feige, verächtliche Raubtier mit den giftigen Demokratenzähnen, die Masse, nicht ausbricht und die großen Iche verzehrt, nachdem sie vom Kote der Masse besudelt, von schmutzigen Krallen zurecht gerichtet für das Leichen-

*) Nietzsche ähnelt darin Bismarck, daß er zuweilen von demselben Kampfmittel Gebrauch macht, wie der "heimliche Kaiser". Bismarck schied nie zwischen Haß und Verachtung; was er haßte, machte er verächtlich. Er vervollkommnete diese Methode noch dadurch - vervollkommnete im Sinne der Zerstörungsmitteltechnik -, daß er das, was er nicht überwinden konnte, als gefährlich denunzierte. So hatten die Armen, die so unglücklich waren, unüberwindlich zu sein, das doppelte Schicksal die moralischen Fußtritte der Offiziösen und der unzähligen talentiert oder absichtlich Dummen, die stets bereit sind, sich offiziös gesinnte Mannesbrüste auszustopfen, und die juristischen Nackengriffe des Ausnahmegesetzes zu dulden. Es ist erfreulich, daß es Nietzsche bei der einfachen Methode bewenden läßt und von der vervollkommneten keinen Gebrauch macht. - Wie nun Nietzsche aber die Sprache als Mittel der Verächtlichung benutzt, dafür will ich ein Beispiel anführen, das zugleich als Mahnung dienen möge zu kritischem Mißtrauen und scharfer Wachsamkeit gegenüber allen Versuchen, sprachlichen Ausdruck unter der Deklaration von logischen Beweisen zu schmuggeln. Nietzsche will den Begriff des Volksführers verächtlich machen. Er wählt folgendes Bild: Zarathustra will nicht sein der "Hirt und Hund" des Volkes. Von dieser alliterierenden Zwillingsformel hat der zweite Teil einen üblen, herabwürdigenden Sinn. Dieses Wort "Hund" wirft seinen Schatten auf den Begriff "Volksführer" (Hirt). Läßt man sich aber nicht durch den augenblicklichen Eindruck bestimmen, so erkennt man, daß der Begriff des herrschenden Hundes der folgsamen Herde gegenüber durchaus nicht die Sklavenbedeutung hat, welche Nietzsche braucht. In einem ganz anderen, hier gar nicht in Betracht kommenden Verhältnis wird der Hund mit Fußtritten traktiert, in unserer Anschauungssphäre ist es der Hund, welcher - man verzeihe das kühne, klärende Bild - Fußtritte austeilt. Nietzsche hintergeht uns also mit dem gewählten Vergleich.

 

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bankett der - Demokratie. Wehe dem Tage, wenn der edle Zorn zerschellt an der gemeinen Zote, wenn der älteste Menschheitsadel wird zum jüngsten "Gericht" für stinkende Gleichheitsmäuler! Darum kehrt zurück zur Tyrannis der Edlen und öffnet eure Augen vor der furchtbaren Gefahr, die in der wachsenden Nachgiebigkeit gegen die Demokratie liegt! So etwa warnt der "letzte" Nietzsche.

Ich muß gestehen, daß ich diesen Gedanken praktisch fühlen, aber nicht vernünftig ausdenken kann. Jedenfalls sehe ich nicht die Notwendigkeit der krassen Gegenüberstellung von Aristokratie und Demokratie und noch weniger die Möglichkeit der Aufrechterhaltung dieser Scheidung ein. Die angebliche Gefahr der unflätigen Masse, glaube ich, könnte auf klarere, weniger gigantische und finstere Weise beseitigt werden. Man aristokratisiere die Masse!

Auch der Aristokratismus verlangt, wie vorhin der Individualismus, eine Verschmelzung nicht mit dem Egoismus, sondern mit dem Altruismus. Wahrhafter Aristokratismus ist erst möglich bei wahrhaftem Altruismus. Erst wenn die Menschheit so weit gediehen, das Große zu begreifen, wird sich das Große voll entfalten können. Der Große wird nicht gegen, sondern mit den Kleinen und durch sie. Die Demokratie muß zur Panaristokratie werden.

Aristokratismus und Altruismus zu versöhnen, das ist eine Aufgabe, eine erhabene und erfüllbare. Sein Ich entwickeln in allen seinen Keimen für das All, das ist der Weg zur wahren Aristokratie. Das stolze Ich mag wohl zu Zeiten mit giftigen Pfeilen von den anderen verwundet werden, unverstanden, verhöhnt, anscheinend ohne Macht und Einfluß. Ein tragischer Konflikt ist es, nichts weiter, wert, daß er von dem großen Ich durchdrungen wird. Kleinmütig dünkts mich und ungroß, wenn das Ich in vornehmer Feigheit dem Gegenkampf aus dem Wege geht oder nach dem - Kerkermeister für seine Gegner ruft. Der Menschenhaß beruht auf derselben heillosen Generalisierung wie der Weiberhaß. Man kann einzelne, vielleicht auch viele, ja alle Menschen seiner Zeit hassen, und dennoch den ewigen Begriff "Menschheit" lieben, inbrünstig lieben. Es ist beschränkt und Krankheitserscheinung eines nervös impressiven Charakters, dem Menschheitsdienste abwendig zu werden, weil so viel verächtliches zweibeiniges Gesindel der großen Individualität in den Gesichtskreis tritt. Jene temperamentvoll-leidenschaftliche Generalisierung verleitete Nietzsche dazu, über die Weiber "orientalisch" zu denken, sie veranlaßt ihn auch, über die Menschen orientalisch, russisch, zaristisch zu denken.

 

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Es ist ein wunderbares Zusammentreffen, daß der Mensch, der seinem Heimatstern kühn und stolz in den Mittelpunkt der Welt rückte, zugleich das demütige Bedürfnis nach möglichst handgreiflichen Mächten empfand, denen er unterworfen wäre. Egozentralismus, Theismus, Sternenaberglaube schlossen eine seltsame Verbrüderung. Die Sterne sind über mir, dachte das naive Menschenzeitalter, welches das Sichtbare für das Wahre und das Ungreifbare, Unbegreifbare für das Mächtige, Herrschende in dem erhabenen Grauen des Nichtwissens hielt. Heute hat uns die Wissenschaft und die nüchterne, poesie- und grauenlose Erfahrung gelehrt, daß die Sterne weder räumlich noch ursächlich über mir sind; nein, sie sind um mich... Das Gefühl des Sklaven löst sich auf in das des Verlorenen. Der Knecht brauchte einen Knechtiger, der Verlorene ist selbstherrlich bei aller einsichtigen Bescheidenheit. Dieser Wandel macht sich nicht nur in der kosmischen, sondern auch in der menschlich-sozialen Anschauung bemerkbar. Die soziale Astrologie, welche das Volk, die Masse unter die Tyrannei einzelner Menschensterne beugt, beginnt zu weichen vor einer sozialen Astronomie, einer demokratischen Atomistik: Jedes Wesen ein Atom, das Einfluß übt und duldet, Herrscher und Diener zugleich, ohne Unterschied des sozialen Wertes.

Will man keinen tieferen Zusammenhang zwischen diesen Veränderungen der makrokosmischen und mikrokosmischen Anschauungen annehmen, so möge uns wenigstens ein Gleichnis liegen in der Erkenntnis: die Sterne sind nicht über mir, sie sind um mich! Kein Unter und Über in der Menschheit, ein Kreisen von Gestirnen um einen fernen, unbekannten Zentralpunkt, verschieden an Größe und Leuchtkraft, aber doch gegenseitig bedingt und notwendig, freudig Licht spendend und Licht empfangend... O, wenn doch der gewaltige kreisende Sternenbau des Alls den winzigen Menschenwesen zum Vorbild dienen würde! Fort mit den falschen, traurigen Gegensätzen von Unter und Über! Das große Schwungrad soll sich nicht brüsten gegenüber dem winzigen Zahnrad; der Lohn und die Pflicht der stärkeren Leuchtkraft ist, daß sie mehr Licht verschwendet. Der Mächtige spende den Unmächtigen, er sauge sie nicht auf. Nicht herrschen, sondern spenden ist des Herrschers Aufgabe. Nicht um Herrschermoral und Sklavenmoral handelt es sich, es giebt nur eine Moral: die Moral des Spenders. Ströme und Nebenströme, Seen und Meere sind die Menschen. Nicht jeder ist Strom, aber kein Strom ohne Quellen und Bäche!

Herrenmoral und Sklavenmoral! Wir messen diese Antithese aus unserem geistigen Wesen ausscheiden, so sehr sie sich auch einschmeichelt. Antithesen sind sichere Gifte für das Denken. Man behält so hübsch leicht der-

 

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artige Scheidungen, man kommt sich so geistesgewaltig vor, wenn man gleich dem lieben Herrgott, der mit einer Handbewegung die Welt in zwei Hälften teilte, in Tag und Nacht, mit ein paar Mundverstellungen den geistigen Kosmos zweiteilt. Wir müssen zur Einheit gelangen, zur Spendermoral. Und ebenso müssen wir die praktischen Umsetzungen jener Moralgegensätze überwinden, Aristokratie und Demokratie. Es ist eben so viel Haß und Ichgier in der Aristokratie, wie Feigheit und Neid in der Demokratie. Wir sollen beide Gesellschaftsformen überwinden. Wie wir metaphysisch nach der Spendermoral streben sollen, so praktisch nach der Ausrottung der Besitzwut aus dem Menschengetriebe, wie wir die Mordgier bereits vernichtet haben. Die Offenherzigkeit eines römischen Zäsaren "Ein toter Feind riecht immer schön", gilt heute als Abgrund von Scheußlichkeit, während der Satz in der entsprechenden Modernisierung lieblich in die Ohren tönt: "Ein toter Konkurrent riecht immer schön!" Trachten wir danach, daß auch diese Anschauung, welche nur die Heuchelei nichts auszusprechen wagt, entbehrlich, überflüssig, überwunden wird. Die Sozialdemokratie will oder soll wenigstens nach diesem Ziele streben. Nietzsches Haß gegen die Sozialdemokratie, seine Massenfurcht, ist im Grunde nichts anderes, als die nervöse Oberflächlichkeit eines unglaublich verfeinerten Dämchens, das jeglich Ding nur mit Handschuhen anfaßt, das stets bereit ist, ein parfümiertes Taschentüchlein an das schlanke, vornehme Näschen zu schmiegen, das in Schönheit gebären und sterben will, das Weinlaub im Haare haben möchte, statt - Schinnen. Friedrich Nietzsche im Unterrock heißt Hedda Gabler! Ich habe Ehrfurcht genug vor Nietzsche, um sofort hinzuzufügen, daß dieser Vergleich nur in einem gewissen äußeren Sinn zutrifft, obwohl ich auch gegen das so grandios unverständige und deshalb den verständigen Leuten so völlig unverständliche Pistolenweib nichts sagen möchte: haben wir doch alle etwas von Heddas Wesen, wie in uns allen ein Tropfen von dem Blute Hjalmars ("Wildente") kreist. Uns allen gelüstet es nach der alten romantischen Artistenmoral. Wir wollen revolutionär jenseits von Gut und Böse leben, um desto reaktionärer an den Gegensätzen Schön und Häßlich zu hängen. Im eigentlichen Betracht hat der große Moralrevoluzer Nietzsche nichts anderes als das altehrwürdige, aus der Romantik genugsam bekannte Tauschgeschäft verrichtet, - er hat die Ethik gegen die Aesthetik verschachert. Die Herren Revoluzer und modernen sind bisweilen auch weiter nichts als Gespenster, Geister von Abgeschiedenen. Den Tag über diese Gespenster! - Wohl in keiner Zeit hat es so viel. Messiasmänner gegeben, wie am Ende dieses erntereichen Jahrhunderts. In wirren Haufen drängen sie sich, um ihre neuen Wahrheiten und aller-

 

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neuesten Heilslehren noch in den Scheunen dieses Jahrhunderts zu bergen. Der Kürschnersche Litteraturkalender ist ein "Buch der Propheten." Grauenhaft wäre es, wenn diese üppig auf den Markt geworfenen Revolutionsgedanken wirklich lebten; es wäre eine furchtbare Vergeudung in dem geistigen Haushalt der Natur. Es ist ein Trost, daß nur Gespenster umgehen. Den Tag über diese Gespenster!

Ein Gespenst ist auch nur der egoistisch-individualistische Aristokratismus als Frucht romantisch-vornehmer Schönheitsseligkeit. Schön wird die Welt erst dann, wenn sie wahrhaft gut ist. Nicht jenseits von Gut und Böse laßt uns leben, um diesseits von Schön und Häßlich zu träumen, sondern diesseits von dem einen wie dem anderen! Noch sind wir zerrissen, noch ringt in uns der Kampf zwischen dem Guten und Bösen. Versöhnen wir die Gegner, statt den einen oder den anderen zu töten! Die Linien der Schönheit sind die Linien der Güte, sie sind weich. Sprecht ihr zur Welt: "Werde schön!", so müßt ihr zuvor zu den Menschen sprechen:

Werdet weich!

 

XVII.

Im Verlaufe dieser streifenden Bemerkungen habe ich mich stets bemüht Nietzsches Poetenträume und Traumgedanken in dem klaren, nüchternen Tageslicht des Lebens zu sehen. Zwei besonders lehrreiche Fälle von "Nietzsche in der Praxis" will ich jetzt, wo ich am Schlusse bin, mit einiger Ausführlichkeit hervorheben. Da ist zunächst das Verhältnis Nietzsches zur Sozialdemokratie, das ich bisher stets nur flüchtig und gelegentlich berührt habe, das aber doch wohl einer angelegentlicheren Behandlung verlohnt. Nietzsche haßte die Sozialdemokratie. Es war ihm ein unerträglicher Gedanke, der widerwärtige Geruch ausdünstenden Elends und seelischer Knechtschaft könnte verpestend bis zu der feinen geistigen Höhenluft raffinierter Ichauskostung dringen. Er schwärmte mystisch von "leichten Füßen", darum mußten ihm die plumpen Füße des Proletariats ein Greuel sein. So sah er die Sozialdemokratie, verblendet, eingesponnen in seine grüblerischen Seelenforschungen, die ihn unfähig machten, etwas anderes zu sehen, als unter der Kategorie seiner Wahngedanken. Nietzsche spricht einmal davon, daß die Menschen alles unter einer jede Vorstellung färbenden bestimmten individuellen Beleuchtung sehen (der Jude denkt ans Geschäft u. s. w.). Nietzsche selbst denkt stets an die Decadence und den idealen Zuchtmenschen. Nietzsche kannte die Ideale der Sozialdemokratie gar nicht; in seiner Seele haftete nur eine abscheuliche Kriegsepisode aus dem Freiheits-

 

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krieg, der da kommen wird, und der vielleicht einmal Szenen erzeugt, wo die Gemeinheit die Paläste der Edlen besudelt. Ich sage vielleicht; aber dieses Vielleicht ist noch kein Sicher, ja selbst kein Wahrscheinlich!

Nietzsche ist aus Menschenhaß Antisozialist. Er nähert sich hier wieder in erschreckender Weise Elementen, mit denen ihn zusammen zu nennen die Ehrfurcht verbieten würde, wenn es nicht die Wahrheit geböte: den Feudalen des Grundbesitzes, des Geldes und der Industrie. "Sozialdemokraten sind nur Arbeiter, die nicht arbeiten wollen", ein Wort, das höchstens ein Minister auszusprechen und ein Freiherr von Stumm nachzusprechen "fähig" ist, kann als .Musterbeispiel für diese Art von Antisozialismus dienen. Die Leute sind selbst so gedankenleer, daß sie sich nicht zu der Einsicht emporzuschwingen vermögen, daß in einer Partei ein Gedanke stecken könnte. Darum trösten sie sich und die Furchtsamen mit allerhand beneidenswert naiven Unverschämtheiten, als da sind: Sozialdemokrat gleich Schnapsbruder; Agitator gleich arbeits- und lichtscheues, bezahltes Gesindel, das sich von ehrlichen Arbeitergroschen mästet; sozialdemokratische Theorien gleich hirnverbrannte Utopien oder unmögliche Irrlehren; radikale Schriftsteller gleich hungernde Gelehrtenproletarier; Arbeiterschulbildung gleich konfuse Halbbildung; Frauenemanzipation gleich zynische Wann-ich-will-Liebe u. s. w. ohne Grazie ins Unendliche.

Nietzsche klammert sich hauptsächlich an die Schnapsbruder-Anschauung. Er ist ganz Temperament, Sensibilität auch in dieser wichtigsten und ernstesten Zeitfrage. Zufällige Begleiterscheinungen sind, wie so oft, auch hier für seine Anschauung bestimmend. Er ist Poet, nicht Führer. Die Menschennatur, nicht die Menschenlaunen der Weltanschauung und der Weltlehre zu Grunde legen, das ist die Pflicht der Schauenden und Lehrenden, die so oft vergessen und so selten geübt wird. Die Nerven, das Temperament, die Augenblicksstimmung sollten da, wo es sich um die Grunde fragen handelt, keine Stätte und keine Wirksamkeit finden; und das gilt in subjektivem wie objektivem Sinne. Der Beobachter darf nicht nervös sein, und er darf nicht an seinem Beobachtungsgegenstand nur die nervösen Zuckungen sehen. Jeder sollte, statt beliebige Ziffern herauszugreifen, die Einigkeitswerte annähernd festzustellen suchen und darauf seine Schlüsse bauen.

Man sollte die Sozialdemokratie nicht nur ohne Nerven betrachten und beurteilen, man sollte auch von der sozialen Grundfrage sorgfältig alle politischen oder gar metaphysischen Elemente trennen. Auch um keine bloße Standesfrage handelt es sich, nicht ausschließlich um die Emanzipation des vierten Standes, obwohl es natürlich ist, daß vorwiegend die Interessen derjenigen vertreten werden, welche die überwiegende Majorität der aus

 

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dem sozialistisch-wirtschaftlichen Gedanken krystallisierten Partei bilden, da sie den größten Gewinn aus der Lebenswerdung jenes Gedankens haben. Es kommt in erster Linie die Erfüllung des Verstaatlichungs-Gedankens in Betracht, der zweckmäßigsten Regelung von Produktion und Konsumtion. Dem Zeitkörper sind die alten Kleider ausgewachsen, Arme und Beine ragen lächerlich hervor, und edle innere Organe werden durch die Einengung in ihrem Wachstum gehemmt und in ihrer Gesundheit zerstört. Nie sind die Dinge der Welt in so wahnsinniger Weise geregelt oder vielmehr nicht geregelt gewesen. Das kapitalistische System ist vor lauter Aufregung und Angst, bald haussejauchzend, bald baissebetrübt, ewig schwankend zwischen Gründungstaumel und Krach, zwischen prassender Fülle und hungerndem Elend, völlig verrückt geworden und geberdet sich in komplizierten Narrheiten, lärmenden Tobsuchtanfällen und gemeingefährlichen Delirien. Statt einer vernünftigen Weltordnung haben wir ein unentwirrbar verzwicktes Kartenspiel, dessen geheime Kniffe und ränkevollen Tücken niemand ergründen kann, und indem sie alle auf gut Glück nach Herzenslust gaunern und mogeln und im Trüben fischen: Börsenschacher, Schutzzölle, indirekte Steuern - das sind solche komplizierten Narrheiten und gemein-gefährlichen Delirien. Auch das höchst entwickelte Finanzgenie ist nicht mehr imstande, alles zu übersehen und mit einiger Sicherheit zu berechnen. Das große Geldschiff schaukelt steuerlos aus dem Ozean, jeden Augenblick in der Gefahr, zu zerschellen. Ein grauenhafter Zufall haust in der wirtschaftlichen Verkettung der Menschen; seine Diener heißen Ausbeutung und Betrug, und seine Kinder Armut und Siechtum. Gegen diesen grauenhaften Zufall kämpft der Sozialismus.

Wenn "kein Mann und kein Groschen" hinter dem Sozialismus ständen, wenn die Führer der sozialdemokratischen Partei Einfaltspinsel und Gauner, wenn die Massen roh, unwissend und gemein wären, der Wahrheit des sozialistischen Gedankens thäte das keinen Abbruch.

Übrigens halte ich es für ziemlich überflüssig, über die Wahrheit oder Nichtwahrheit dieses Gedankens zu streiten. Interessen stehen auf dem Spiel und Interessen leben. Lebendes aber kann man weder beweisen noch widerlegen, sondern man fördert es oder man vernichtet es. Der Sozialismus kann gefördert und vernichtet, aber nicht bewiesen und widerlegt werden. Es verrät eine unglaubliche Herzenseinfalt (oder Herzensangst), wenn der Liberalismus glaubt, durch Irrlehren -Broschüren die Sozialdemokratie aus der Welt hinaus beweisen zu können. Bismarcks Gewaltpolitik beruhte wenigstens auf richtiger Einsicht, daß hier ein grausames Entweder-Oder am Orte sei, nur hatte er eben nicht den unent-

 

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behrlichen Bundesgenossen der Machtgewalt auf seiner Seite, die Machtgewalt der Wahrheit.

Der Weg der Entwickelung braucht darum nicht notwendig durch Gewalttaten bezeichnet zu werden. Es ist möglich, daß die dem Sozialismus entgegenstehenden Interessen sich schließlich selbst auffressen. Der Staat wird nur so lange Einzelinteressen vertreten, so lange auch seine Interessen dadurch gefördert werden; merkt er erst, daß mit der Allgemeinheit auch er zu kurz kommt, so wird den Spezialinteressenten einfach die staatliche Unterstützung und Sanktionierung entzogen.

Der heutige Staat z. B. hält die Zollpolitik aufrecht, weil die Wahrung der Interessen einer Minderheit zusammenfallen mit glücklichen finanziellen Vorteilen für den Staatssäckel. So läßt er sich von dem Schlagwort: Schutz der nationalen Produktion, der nationalen Arbeit blenden. Daß dieses Schlagwort weiter nichts ist, als eine freche, verhängnisvolle Lüge, ist klar. Man wählt die vornehme, pathetische Abstraktion: "Schutz der nationalen Arbeit", während man lieber konkret von dem Schutz der Großgrundbesitzer X, Y, Z (und einer Minderheit von Großbauern) und von dem Schutz der Großindustriellen U, V, W sprechen sollte. Das ist ja das Sonderbare, daß man ohne viele Mühe den nationalen Schutz "namhaft" machen, die Leute auszählen kann, die geschützt werden. Gleichwohl hört der Staat auf diesen durchsichtigen Schwindel. Die Leichtgläubigkeit würde aber mit demselben Augenblicke aufhören, wo der Staat am eigenen Leibe den Unsegen der Zölle verspüren würde. Der Staat ist selber Konsument; muß er Eisenbahnschienen, Kohlen, Getreide und Fleisch für das Heer allzu teuer kaufen, so wird er leicht, namentlich wenn die Volksvertretung mit der Geldbewilligung knausert, ungeduldig werden. Kommen dazu stürmische Forderungen der Beamten um Teuerungszulagen, oder gar Beobachtungen, daß die Wehrkraft unter dem schlechten Ernährungszustande zu leiden beginne, so würde dem Faß vollends der Boden ausgeschlagen werden, wenn sich endlich noch sinkende Zolleinnahmen und Steuereinkünfte herausstellten. Solch ein Fall kann eintreten. Es ist denkbar, daß bei hohen Getreidezöllen schließlich die Konsumtion des Landes so eingeschränkt wird, daß die eigene Produktion den Bedarf annähernd deckt. Damit würde der Import dermaßen verringert werden, daß die Zollerträge dürr und dürftig werden. Andererseits würde die Teuerung wachsende Verarmung und demzufolge steigende Steuerunfähigkeit der contribuens plebs zur Folge haben. Käme es so weit, so würde der Staat mit einem Mal den Schutz der nationalen Produktion vergessen und die Rücksichten auf die Volksernährung in den Vordergrund stellen.

 

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Das wäre ein Beispiel dafür, wie sich Interessen selbst aufzehren. In sich Widersinniges muß in sich zu Grunde gehen. So könnte der Kapitalismus sich selbst zersetzen, und die Sozialdemokratie hätte demnach nur die Aufgabe, den Prozeß zu beschleunigen. Das ist vielleicht Optimismus, aber immerhin ein möglicher Optimismus.

Der Leib des Sozialismus ist der Antikapitalismus. Daneben aber hat die Sozialdemokratie ein ideales Element, eine Religion, eine Seele: den christlichen Liebesgedanken in Verbindung mit einem heidnisch-irdischen Glückseligkeitsglauben. Nietzsche aber kennt weder den Leib noch die Seele des Sozialismus; die Seele sieht er wenigstens nur in einer Form, die er haßt. Umsomehr aber wirken auf ihn einige Muttermale und Leberflecken dergestalt, daß er sich vor Ekel schier erbricht.

Die "sozialistischen Tölpel und Flachköpfe" streben nach Nietzsche (dem gerade die Möglichkeit der Erfüllung dieses Strebens einen schaudernden Widerwillen einflößt) die "Gesamtentartung des Menschen an, die Vertierung des Menschen zum Zwergtiere der gleichen Rechte und Ansprüche". Ich überlasse Nietzsche gern und freudig den guten Geschmack, daß der freie, wahrhafte Riesenmensch die edle Ausgabe hat, an den Goldstücken der Börsenfürsten sich wund zum Wunder von Größe zu reiben, wie ich auch so verstockt bin, nicht einzusehen, daß die Menschheit bei gleichen, freien Entwickelungsbedingungen zu gleicher Krüppelhaftigkeit (statt zu millionenfacher blühender Verschiedenheit) verdorren muß - ich frage aber: Was giebt jener Nietzschesche Menschenretter der umgewerteten Menschheit, was ist seine Ausgabe, wie sieht er aus? Und wie ist jene umgewertete Masse gebildet? Ich sehe Nebel, nichts als Nebel, spukhaft beleuchteten Nebel, zauberisch unfaßbare Bilder, wie sie den Kranken in den Fiebern schlafloser Nächte greifbar in blutheißem Leben und dämonischer Wirklichkeit erscheinen, bis der grauende Tag die lebengaukelnden Gestalten als nichtige, zerrinnende Traumgeister entlarvt. Ich vermag jenes Zukunftsland mit seinen neuen, wahren Werten in wacher Gesundheit nicht zu erkennen! Vermochte es Nietzsche? Oder sah er es nur in den Hallucinationen erregter Phantasie, in denen sich das Genie oder der Irrsinn oder beides zugleich ankündigt? Im Sozialismus sehe ich ein klares, erreichbares Ziel, im Nietzscheanismus nachtwandle ich einer blauen Blume nach, die mir ein Traum in die Seele geweht hat.

Und dennoch hat es die blaue Traumblume den Leuten angethan. Ich glaube in die Strebungen der jüngsten Zeit einen richtigen Einblick gewonnen zu haben, wenn ich annehme, daß wohl mancher begeisterte Sozialist durch Nietzsche zur Fahnenflucht verleitet worden ist. Da sind hauptsächlich

 

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die radikalen Naturen, die stets auf dem äußersten Flügel stehen wollen, die, Schauspieler ihres Ichs, möglichst gefährliche, neue und seltene Ansichten zu haben wünschen. Der bisherige Radikalismus schien ihnen plötzlich trivial neben dem Radikalismus Nietzsches. Es war keine Kunst, keine Originalität mehr darin, Sozialdemokrat zu sein, man hüllte sich in die blendenden Argumente des neuen Messias. Der Sozialismus schlug dann geradewegs in sein Gegenteil um, den Anarchismus. "Und auf einmal der große sozialistische Dusel, als ob gerade die Arbeiter weniger Gesindel wären, als es schon einmal unter den Menschen Brauch und Herkommen ist ... " heißt es in einem "biographischen Capriccio", dessen sich die Leser dieser Zeitschrift eben so erinnern werden, wie jener famosen Virginia-Cigarre, die so kokett aus dem rechten Mundwinkel eines Humoristenkopfes lugte, wie ein zierliches Füßchen aus dem Spitzenunterrock einer "schlanken, blassen Nini."

Der Einfluß Nietzsche's hat nicht nur eine Anzahl litterarischer Anhänger der Sozialdemokratie dieser Fahne abwendig und zu poetischen Anarchisten gemacht, er hat auch, sofern ich recht vermute, jene eigenartige Gruppe der "Jungen" geschaffen, die unter der Führung Bruno Willes den Zorn und die Macht Bebels unlängst zu kosten hatten. Diese Männer suchen offenbar dunkel tastend nach einer neuen Partei, die wirtschaftlichen Sozialismus mit politisch-moralischem Individualismus zu vereinigen sucht, sie sind Sozialindividualisten. Der Gang der Entwickelung der sozialistischen Opposition der "Jungen" zu dem "Verein unabhängiger Sozialisten" bestätigt die obigen Ausführungen, verlangt das Programm des Vereins doch vornehmlich die "Individualisierung des Arbeiters." Wille sprach das Nietzschesche Lieblingswort von der Herde und dem Herdentrieb vor der Herde unklug genug aus, und die Berliner Arbeiter haben dem "jungen Doktor" diese Wahrheit nicht verziehen. Es schimmert in dieser Bewegung schon etwas durch, was über den Sozialismus hinausgeht, was ihn ablösen wird, wenn er seine Mission angetreten und erfüllt hat: der Anarchismus. Der Sozialismus wird durch die Eliminierung. der wirtschaftlichen Hemmnisse aus dem Menschensein Raum schaffen für die Entwickelung des freien, schrankenlosen Individualismus, das niemanden durch seine Schrankenlosigkeit hemmen, vernichten wird, gerade weil der Kampf um das soziale Dasein alsdann ausgekämpft ist. Dem Zukunftsträumer versöhnen sich so die widerstrebenden Elemente des Massenwesens und des Ichtums. - Solche Empfindungen mögen, wie gesagt, unklar in den Köpfen einzelner akademischer Vertreter der "Jungen" gähren. Äußerlich ist natürlich davon keine Rede, es scheint sich in der Opposition der Berliner Sozialdemokraten lediglich der Drang nach einem energischen Radikalismus zu regen, wozu der Haß gegen die bewährten

 

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parlamentarischen Führer der Partei kommt, die sicherlich mancherlei Fehler gemacht haben. Nur wird der Kampf auf beiden Seiten mit zu großer persönlicher Erregung, Starrheit und Unklarheit geführt, und auf der einen Seite auch mit großer Unsicherheit und Ungeschicklichkeit. Die temperamentvolle Behandlungsweise spielt nicht nur bei den Gegnern, sondern auch bei den Anhängern der Sozialdemokratie eine allzu bedeutsame Rolle!

In dem oben angedeuteten Sinne kann Nietzsche, der gefährlichste und verführerischste Gegner der Sozialdemokratie, als ihr - Lehrer gelten, insofern, als er die Notwendigkeit des individualistischen Prinzips als Faktor jeglicher Weltanschauung erweist. Nietzsche geht über den Sozialismus hinweg (der dabei die Tritte der "leichten Füße" schwer genug verspürt), um über ihn hinauszugehen zum Anarchismus. Freilich ist es nur ein Anarchismus der Auserwählten. Die Gesetze staatlicher Ordnung werden zu Ausnahmegesetzen für die breite, trübe Masse, für die der Kommunismus des Satzes: "Gleiches Unrecht für alle!" gerade gut und geeignet ist. Die Auserwählten aber sind frei von den Fesseln der Gesetze, für sie gilt nur das Gesetz ihrer Kraft und Schönheit. - Kaum nötig hinzuzufügen, daß diese Anarcharistrokratie den Siedepunkt des Utopistischen bedeutet, da, wo die utopistischen Gedanken sich im Wahnsinnsgase verflüchtigen! Hätte Nietzsche nicht das Wesen des Sozialismus verkannt, vielleicht hätte er klarere Wege und Ziele erwählt, er wäre nicht zur blendenden tropischen Blüte geworden, die keine Frucht gebiert.

Nietzsche verkannte den Sozialismus. Vielleicht ist es die Nemesis, daß nun auch seine Anschauung verkannt wird, und zwar nicht ohne Ursache und Schuld. Nietzsche, der Todfeind von allem Plebejertum, wird zum Vorkämpfer für das schlimmste Plebejertum, das denkbar ist, erniedrigt; er gilt als Philosoph des - Kapitalismus!

Das ist der zweite lehrreiche Fall von "Nietzsche in der Praxis". Was Nietzsche als Lebensführer uns sein kann, das zeigte sich jüngst in dem zu so widriger Berühmtheit gelangten "Fall Lindau". Damals, als Mehring den Kampf gegen Lindau in der "Volkszeitung" eröffnete, schrieb Otto Brahm in seiner "Freien Bühne" einige Artikel gegen die "Sittliche Entrüstung" und sprach seine Meinung dahin aus, der "Fall Lindau" fiele "Jenseits von Gut und Böse", das angebliche Verbrechen des Berliner Litteratursultans sei in Wahrheit ein Recht und eine Notwendigkeit seiner Individualität, die durch den Zusatz saftiger Thorheit, die in der verklagten Handlungsweise zu Tage getreten, nur menschlich liebenswürdiger geworden sei. Es entspann sich ob dieser Artikel ein heftiger Federkampf zwischen Mehring und Brahm, der manchmal daran gemahnte,

 

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daß Stahl nicht nur zur Herstellung von Schreibfedern, sondern auch zur Fabrikation anderer, zweispitziger Instrumente dient, die im bäuerlichen Leben eine bedeutsame Rolle - "spülen". Namentlich Mehring that so, als wollte er sich den Titel eines Meisterschaftsschimpfers für das nördliche Deutschland erringen, einen Titel, welchen für Süddeutschland der fürtreffliche Herausgeber des Bayrischen "Vaterland" gutem Vernehmen nach sich erflucht hat. Auch einige Prozesse schlossen sich an diesen Kampf um Lindau, der schließlich zu einem Kampf um das "goldene Kalb" und um - Nietzsche geworden ist.

Ich gestatte mir das in dieser Zeit der Dynamitpolemik schwächliche, ja fast sündige Vergnügen, sowohl Herrn Brahm wegen seiner kritischen Einsicht und Fernsicht (sind doch Ibsen und Hauptmann zumeist sein Werk!) als auch Herrn Mehring wegen seines mutigen, fähigen und fruchtbaren Streitens für seine Überzeugungen hochzuschätzen. Brahm ist Ästhetiker, meinetwegen Sozial-Ästhetiker, Mehring Sozialethiker. Das erklärt vieles. Jener besitzt das genießende, allseitig begreifende, hyperintelligente Weltverständnis, das thatenlos macht und leicht etwas Charakterloses mit sich bringt: wer alles versteht, vermag sich nicht mehr recht zu ereifern, er sieht auch die Schwächen seiner Ideale. Dieser dagegen ist ganz von dem felsenfesten Glauben an die Wahrheit seiner sittlichen Überzeugungen durchdrungen; das giebt ihm die glückliche, beneidenswerte Sicherheit dogmatischer Aktionslust und Zieltreue. Große Thatmenschen sind vielleicht Ethiker, aber niemals Ästhetiker; auch in den entsprechenden Wissenschaften tritt dieser Unterschied hervor, die Ethik mit ihren festen, schroffen Forderungen (sofern man sie nicht mit den Romantikern und Nietzsche ästhetisiert und erweicht), die Ästhetik mit ihren vagen Vermutungen und verzweifelnden Gesetzgebungsversuchen. Bismarck, der Thatmensch, sieht an der Spitze der zeitgenössischen Litteratur - Herrn Julius Stinde!

So viel zur Entschuldigung ob meiner zwiefachen Hochschätzung! Ich habe nun keine Lust, in dem Kampf des wunderlichen Triumvirats Brahm-Lindau-Nietzsche gegen Mehring ein Urteil abzugeben. Nur flüchtig möchte ich darauf hinweisen: Befolgen wir den Rat Brahms, das ewige "Bemoralisieren" zu lassen und, wie es den Modernen geziemt, hübsch Individualitäten begreifen, so können wir überhaupt einpacken mit all unseren Forderungen an Zeit und Menschen. Alles ist eben - individuell. Das genügt. Trachten wir darnach, uns eine möglichst angenehme Individualität zu schaffen; und geht es nicht ohne Anrempelungen anderer Individualitäten, nun so rempeln wir eben an, mit höflicher Hutlüftung: "Verzeihen Sie aber meine Individualität!... Verhungern Sie ein wenig, gehen Sie

 

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aus dem Lande - aber Sie wissen, unter uns Modernen giebt es nur eine Rücksicht: meine Individualität!..." Wenn nur der andere sich damit begnügt, das "Bemoralisieren" läßt und sich auf die Individualität des Verhungernden, Expatriierten beschränkt, so ist diese Methode ja höchst probat ....

Darüber müssen wir uns freilich klar werden, daß wir aus diese Weise zu der tollen laisser-faire Anschauung des fatalistischen Anarchismus gelangen, den Karl Henckell in beklagenswerter Verirrung mit klassischer Wahn-Witzlosigkeit unfrei nach Nietzsche also zusammenfaßt:

Sie stecken uns noch tief im Blut
Die rohen Henkerskniffe,
Der Unterschied von Bös und Gut,
Die sittlichen Begriffe.
Wir sprechen immer noch von Schuld Von Sühne und Verbrechen,
Wie wir noch stets von Gottes Huld
Und Gottes Gnade sprechen.
Ich aber weiß, ich bin durch nichts
Vom Mörder unterschieden,
Als durch die Gabe des Gedichts
Und freien Seelenfrieden.

Wem graut nicht vor diesem gesungenen Nietzsche? Warum sind gerade unsere jüngeren bedeutenden Dichter so traurig verwirrt und krank und verführt? Warum? Denn das ist Weltanschauung im Kolportagestil, die unter den Weltanschauungen etwa die Rolle spielt, wie der "Geschunde Raubritter" in der dramatischen Litteratur. Die Sonne ... die Sonne!*)

*) Da wir unmöglich ruhig sterben können, ohne wenigstens die Morgennebel der aus der Nietzscheschen Immoral hervorgehenden Übermenschenzeit zu sehen, so richte ich an alle, welche die Gabe volkstümlicher Darstellung haben, die innige Bitte, mit möglichster Beschleunigung für die Popularisierung der neuen Lehre zu sorgen, damit man sehen kann, was aus der verwirklichten Immoral entsteht. Zu diesem Zwecke schreibe man Katechismen, verbreite Flugblätter, gründe Kirchen und Vereine, besolde Gymnasiallehrer und Universitätsprofessoren, stifte Seminare zu praktischen Übungen - alles zur Förderung der neuen Religion. Nietzschesche Kindergärten treten an die Stelle der Fröbelschen; die Morgen- und Abendgebete der Kleinen müssen entsprechend umgeändert werden:

Bitte, bitte, lieber Nietzsche,
O erfülle mein Gequietsche:
Laß mich hier auf dieser Erden
Hart und immer härter werden.
Dauern mög's nicht allzu lange
Bis ich werd' ein - Überrange.

 

(92 unten)

Natürlich sind auch die Leierkästen, als Hauptkulturträger, nicht zu vergessen. Mit einem Beispiel der Immoral auf der Walze will ich diese eindringlichen und höchst ernsthaften Anregungen schließen:

Hört mich an, verehrte Publikümmer:
Sittlichkeit? Moral?? - Kein blasser Schimmer!
Wollt ihr morden, stehlen, stechen, dolchen,
Frisch drauf los! Denn den gebornen Strolchen
Bleibt kein andres Handwerk auszurichten,
Als so kitzelnd kitzliche Geschichten.
Jenseits stehen wir von Gut und Böse,
Schufte schon im Mutterleibgekröse,
Oder Engel, Jungfrau oder - Hur' -
Dunkel ist der Zug der - Nabelschnur:
Diesen an das Heilandkreuze zieht sie,
Jenen schleppt sie hin zum Mordwahnwitze.
Ja, so ist die Menschlichkeitsnatur
Marionette an der Nabelschnur,
Zappelnd bald als tück'scher Höllenbruder,
Bald als allerliebster Seelenguter.
So ist die Moral von dem Gedicht:
Die Moral, Verehrte, giebt es nicht!

 

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Das ist schließlich doch ein kleines Urteil geworden! Indessen kam es mir darauf nicht an. Ich will hier der interessanten Thatsache gedenken, daß Mehrings neueste treffliche und betrübliche Flugschrift: "Kapital und Presse. Ein Nachspiel zum 'Fall Lindau'", die in so erschreckender Weise, die Verseuchung des Berliner Preßwesens durch den Kapitalismus bloßlegt, ausklingt in eine ingrimmige Verurteilung Nietzsches, des Philosophen des Kapitalismus. "Nietzsche ist nicht, wie Herr Lindaus 'Nord und Süd' glauben machen will, der 'Sozialphilosoph der Aristokratie', sondern der 'Sozialphilosoph des Kapitalismus' (a. a. O. S. 118).

"In . . lapidaren Sätzen schreibt Nietzsche die Philosophie des - Kapitalismus. Rein als geistiges Erzeugnis betrachtet, ist seine Geschichtsauffassung eine brutale und geistlose Roheit, welche durch die 'geistreich' glitzernde Sprache nur um so widerwärtiger durchscheint, dabei voller Unklarheit und Widersprüche - man beachte nur, wie Nietzsche den Begriffen 'Gut' und 'Böse', mit dem 'guten' und 'schlechten' Gewissen zu Leibe geht! - und selbst bei den bescheidenen Ansprüchen, die sie überhaupt nur erheben kann, nicht einmal originell. Karl Marx hat zu seinem 'Kapital' eine ganze Reihe von seltsamen Käuzen ans Tageslicht gezogen, welche in England die Philosophie des Kapitalismus vor einem halben Jahrhundert und noch früher genau so geschrieben haben, wie sie Nietzsche in seinem

 

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Jenseits von Gut und Böse schreibt. Wenn Nietzsche die christliche Religion - soweit sie nicht Mittel für weltliche Herrschaftszwecke sein, sondern 'souverän' walten will - für 'fürchterlich' erachtet, weil sie den 'Überschuß von Mißratenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, notwendig Leidenden' am Leben zu erhalten sucht, so hatte 'Pfaffe Townsend' -siehe das 'Das Kapital I, 634'(MEW 23 s 676) - mit ein bißchen anderen Worten dasselbe gesagt, indem er dem englischen Armengesetze vorwarf, es strebe 'die Harmonie und Schönheit, die Symmetrie und Ordnung dieses Systems, welches Gott und die Natur in der Welt errichtet haben, zu zerstören".*) Man wende nicht ein, daß Nietzsche dem kapitalistischen Getriebe immer fern stand, daß er in seiner Weise ehrlich um Wahrheit rang, daß er gewissermaßen

uns!" die böse Bemerkung: "Allerdings nicht viel, wenn 'wir' solche philosophische, Kapriolen schneiden über Dinge, welche 'wir' entweder nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen." - Die gedankliche Gleichheit der Anschauung Nietzsches mit jenem Satze Hegels und die versteckte Beschuldigung des gedankenlosen Plagiats zerrinnt bei genauerer Betrachtung. Hegel meinte wohl, da er an einen Fortschritt der Menschheit zum Höheren glaubte, das sei das Große der menschlichen Entwickelung, daß sich der Mensch aus dem bösen zum guten Wesen entfalte, und daß unter dem Hauche des Weltgeistes auch das Böse fruchtbar werde für den Fortschritt, also gewissermaßen etwas Gutes werde. Hegel tastet die Begriffe des Guten und Bösen selbst nicht an, sondern höchstens die historische Beurteilung dieser Gegensätze. Gerade darin aber liegt Nietzsches Hauptabsicht; er will diese moralischen Begriffe zerstören. In Wahrheit stellt er sie allerdings nur auf den Kopf: der Mensch ist von Natur böse, d. h. gut, er ist aber zum Guten, d. h. zum Bösen entartet, er soll jedoch in seinen bös-guten Urzustand zurückkehren, auf daß die gut-böse Decadence überwunden werde. Nietzsche vertauscht die Begriffe, ohne es zu merken, weil er für sein Gut und sein Böse andere Worte setzt, etwa: schön häßlich; gesund, krank; stark, schwach.

 

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die höchste Höhe des geistigsten Geistes erklimmen wollte, daß er sich nur in der Einsamkeit des Hochgebirges wohl fühlte und daß ihm jede Gemeinschaft mit Menschen 'gemein' war. Alles das beweist nur, wie sehr der Kapitalismus unser geistiges Leben schon zersetzt hat, und die materialistische Geschichtsauffassung von Engels und Marx feiert wieder einmal einen ihrer Triumphe, wenn eine Philosophie, welche nur in fesselloser Ätherhöhe atmen will und die Bedingungen des wirklichen Lebens mißachtet, in die Materie zurückplumpst gerade da, wo sie am ekelhaftesten und unsaubersten ist. Und eben deshalb ist jenes 'Jenseits von Gut und Böse', welches philosophisch und wissenschaftlich nicht die Tinte wert ist, mit welcher es niedergeschrieben wurde, sozialpolitisch von hoher, symptomatischer Bedeutung Dieser Kampf gegen die Moral ist thatsächlich die Begründung einer neuen Moral. Der rote Faden, der durch all die Widersprüche von Nietzsche läuft, ist der Versuch, die Klassenmoral des Kapitalismus auf der heutigen Stufe seiner Entwicklung zu entdecken und die Bande zu zersprengen, welche die Klassenmoralen seiner früheren Entwicklungsstufen, die kleinbürgerliche Ehrbarkeit und die großbürgerliche Respektabilität, ihm noch anlegen" (a. a. O. S. 126 f.).

"Man wende nicht ein" - man muß doch einwenden. Nietzsche ist bewußt kein Philosoph des Kapitalismus. Er würde gegen nichts mit größerer Erbitterung sich auflehnen, als gegen diesen Vorwurf. Wie alle Geistesaristokraten würde Nietzsche tausendmal lieber für den Feudalismus des Stammbaums als für den Feudalismus des Geldschranks eintreten. "Stammbaum" ist noch wenigstens ein Gleichnis der Natur, während der "Geldschrank" ein totes, plumpes Fabrikerzeugnis ist. Der Adel des Blutes kann edel sein, der Adel aber, der kein anderes Ideal kennt, als sich "Diebssicherheit" zu verschaffen, der Adel, der gestohlen werden kann (und gestohlen bleiben kann) von dem großen Diebe Kapitalismus, der Adel, der Hehler und Sklave des großen Diebes ist, der muß seiner Natur nach unedel sein.

Auch jene Anwendung des Geschichtsmaterialismus, die Mehring versucht, scheint mir verfehlt. Die Sache liegt einfacher, aber um so belehrender. Nietzsche "plumpst nicht in die Materie zurück", weil er gar nicht im Bereiche der Materie lebt, weil er überhaupt nicht wacht, sondern träumt. Es dürfte denn doch ein schwieriges Unterfangen sein, auch die erdenfreien Träume als notwendige Ergebnisse der sozialen Bedingungen nachzuweisen. Die immateriellen Gaukelbilder können mit den Fingern des Geschichtsmaterialismus nicht geknebelt werden. Nietzsches Träume sind nicht aus den Zeitmaterien entströmt. Dagegen beweist der Traumdeuter, daß er sich allerdings nicht der Erde entziehen kann; er deutet die Träume aus

 

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den Kapitalismus, weil er überall Kapitalismus sieht. Der Traumdeuter, nicht der Träumer ist ein Kronzeuge für die (übrigens nur halbe) Wahrheit der geschichtsmaterialistischen Auffassung.

Nietzsche träumt von einem goldenen Zeitalter aristokratischer Menschenschönheit, und darum kämpft er für das aristokratische Prinzip. Wäre er nur einen Augenblick erwacht und hätte das aristokratische Prinzip im Leben gesucht, so hätte er schaudernd entdeckt, daß es heute nur noch Eine aristokratische Macht giebt, die geldaristokratische. Nietzsche ist kein Philosoph des Kapitalismus, subjektiv ist er von dieser Schlechtigkeit, die auch einen schlechten Geschmack und einen kranken Instinkt beweisen würde, frei zu sprechen, wenn auch nicht objektiv; denn die einzige praktische Anwendung dieser, wie gesagt, durch und durch unpraktischen Traumphilosophie wäre allerdings: die Stärkung und Rechtfertigung des Kapitalismus. So ist Nietzsche höchstens ein Philosoph des unbewußten Kapitalismus und damit zugleich sein eigner Gegner und Widerleger. Wenn er zu einem ganz anderen Ziel gelangte, als wohin er zu kommen wähnte und beabsichtigte, so zeigt dies, daß er eben in die Irre gegangen, verfuhrt von irgend einer holden Waldfrau. Nietzsche übersah völlig den Kapitalismus, dafür könnte dieser, in seiner Eitelkeit gekränkt, zur Rache den Vornehm-Blinden "sich kaufen". Nietzsche als Thürhüter von Bleichröder oder Rothschild wäre ein grauenhaftes Bild, dennoch würde er auf diesem Posten recht verwendbar sein. Es ist ein Glück, daß der einsame Philosoph für die Hohen dieser Erde zu - hoch ist; aber es war unvorsichtig von Mehring, daß er diesen Bundesgenossen den Paladinen der Börse denunzierte. Jetzt sind sie aufmerksam gemacht, und schließlich kaufen sie sich seine Papiere doch noch, um ihren Kredit zu steigern.

Insofern ist Mehrings überherbes, ungerechtes, vielfach unzutreffendes und zwar hochmütig überlegenes, aber nicht gründlich überlegtes Urteil doch ein wenig berechtigt. Er sieht ganz richtig, daß der ideale Aristokratismus Nietzsches nur in einer Form real ist, als Kapitalismus, er vergißt nur, daß der Philosoph des Aristokratismus blind ist für die Gegenwart, weil sein Auge geblendet ist vom Glanze phantastischer Zukunft. Nichtsdestoweniger ist Mehrings reductio ad absurdum willkommen zu heißen. Ich gestehe, ich wünschte mir fast die Gewissensruhe Mehrings, mit welcher er Nietzsche abthut, wie den ersten besten Börsenjournalisten. Die Ehrfurcht vor der Größe lastet doch schwer und beklemmend .....

Nietzsches "Werdet hart!" ist in der Sprache von heute nichts als ein: "Werdet reich!" Mit dieser Erkenntnis dürfte es uns leichter werden, zur Fahne des Sozialismus zu schwören. Mögen auch immerhin auf der Fahne

 

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verirrte und verwirkte Losungsworte stehen - der Feind steht da, gewappnet und siegeslüstern. Sollen wir uns dieser Herausforderung entziehen, indem wir kleine Mängel, Irrtümer und Widrigkeiten auf unserer Seite vorschützen? Der tiefer Dringende sieht doch unter den wechselnden Zeichen die stille Geheimschrift, die da ruft ein neues Christentum, ein von allem Finsteren, Engen, Klösterlichen befreites diesseitiges Christentum, das dem Liebesgedanken huldigt in griechischen Tempeln. Laßt euch nicht irre und abwendig machen durch die äußeren, aufdringlichen Trugzeichen und öffnet euer heller blickendes Auge für den unsichtbaren, heimlichen Spruch, der in weißen Flammen lodert: Werdet weich!

 

XVIII.

Nietzsche vergiftet nicht nur das Leben - vergleiche jene Ab-gründlinge der modernen Litteratur -, das Leben vergiftet auch ihn. Es ist fast heimtückisch und boshaft, den Manfred des Gedankens aus seiner dämmernden Einsamkeit in die Helle der menschenwimmelnden Straßen zu schleppen, wo der Manfred zum Narren und Clown wird, wie die Astarte zur Dirne, unter der täppischen Polizeikontrolle der groben Wirklichkeit. Ich muß mich deshalb fast heimtückisch und boshaft schelten, daß ich das Kapitel: "Nietzsche in der Praxis" schrieb.

Nietzsche will vielleicht gar nicht im Ernste die Welt umstürzen, er will nur jener kleinen Gemeinde von totkranken, müden, lebensverachtenden Pessimisten ein aufrichtender Seelsorger sein. Seine Lehren sollten poetische Kuren sein gegen nervöse Störungen. Für diese Art von Menschen predigt er seinen lachenden, leichtfüßigen, freudigen, harten Übermenschen. Er selbst gehört zu ihnen und betäubt sich mit seinen dionysischen Hymnen. Hat er auch nur bei sich selbst erreicht, was er erstrebte? Sein Schicksal antwortet: Nein! Um so weniger glaube ich daran, daß irgend ein andrer durch den Übermenschen bekehrt wird, vielleicht theoretisch, aber gewiß nicht in seinem triebhaften Gefühlsleben.

Nietzsches Offenbarungen sind Aufbahrungen.

Sein Übermensch ist wie ein hellenisches Götterbild. Mir erscheinen die alten Marmorgestalten manchmal nicht wie Abbilder von Göttern, nein, als die Götter selbst, unter der weißen kalten Haut weißes kaltes Blut, die Augen eisig starr geschlossen. Wenns mich so fröstelt vor dieser steinernen kalten Schönheit, flüchte ich mich zu der christlichen Idealmalerei. Da ist es schon herzenswärmer. Aber auch hier fühle ich mich noch nicht befreit, zu schattenhaft, gleichartig, zu luftig-himmelweit und dabei doch wieder so

 

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geistig-eng. Endlich halte ich bei den Niederländern Rast, Einkehr halte ich aus weiter Kunstfremde in sonniger Heimat! ....

In Heines unsterblichen "Memoiren des Herrn von Schnabelewopski" - halb Lindenblüte halb Stallmist - wird die erlösende Wirkung niederländischer Kunst unübertrefflich schön besungen. Da heißt es von dem großen Jan Steen, den er für ebenso groß hält wie Raphael: "Auch als religiöser Maler war Jan eben so groß, und das wird man einst ganz klar einsehen, wenn die Religion des Schmerzes erloschen ist, und die Religion der Freude den trüben Flor von den Rosenbüschen dieser Erde fortreißt, und die Nachtigallen endlich ihre lang verheimlichten Entzückungen hervorjauchzen dürfen. Aber keine Nachtigall wird je so heiter und jubelnd singen, wie Jan Steen gemalt hat. Keiner hat so tief wie er begriffen, daß auf dieser Erde ewig Kirmes sein sollte; er begriff, daß unser Leben nur ein farbiger Kuß Gottes sei, und er wußte, daß der heilige Geist sich am herrlichsten offenbart im Licht und Lachen. Sein Auge lachte ins Licht hinein, und das Licht spiegelte sich in seinem lachenden Auge."

Das Größte in Heine ist sein genialer Instinkt für die Zukunft. Wer heute seine Pariser Korrespondenzen liest, der muß ehrfürchtig erschauern vor dieser politischen Weisheit und Prophetengabe, mit der gut ein Dutzend großer Staatsmänner, die ihren Völkern Schicksal sind, sich mästen könnten. Mögen immerhin die Weissagungen des armen Pariser Litteraten nur in der bescheidenen Dachkammer der Litteratur ihre Stätte finden, während jene "Völkerschicksale" stolz und steifbeinig in den Prunksälen der "Geschichte" wandeln, die Sehenden wissen es doch, daß der Weltgeist lieber in der Dachkammer mit seinen treuen klugen Kindern Zwiesprach hält als in den leeren kalten Thronhallen mit seinen tauben, glanzbehosten, gravitätisch-possierlichen Affen! So hat auch Heine wie kein zweiter den tiefsten Schmerz des modernen Menschen gefühlt und die Qual des endenden Jahrhunderts geahnt: die Sehnsucht nach dem Licht, nach der bunten, einfältigen Kirmesfreude des Lebens. "Sein Auge lachte ins Licht hinein, und das Licht spiegelte sich in seinem lachenden Auge." Das ists! Nicht die antiken Götterbilder gebt uns zum Übermenschen, nicht die häßlichen mageren Heiligen, gebt uns das freudige Auge des niederländischen Künstlers, das alles durchsonnt und - durchlebt, was auf der Erde Licht trinkt! So laßt uns die Welt betrachten, dann wird der leberkranke, grüngallige Pessimismus von uns weichen!

Ich wüßte einen zu nennen, der diese allschöne Weltanschauung, diese wahrhaft kosmische Weltanschauung zwar nicht erreicht hat, aber doch ihr nahe kommt. Ich meine Detlev von Liliencron, den Sonnigen, den

 

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Freilichtdichter. Ich fühle, daß meine Individualität derjenigen Liliencrons schroff entgegen gesetzt ist. Er ist mehr Ritter, ich mehr Mönch, das Jungherrliche, das auch in der Modernisierung des Wertes als junkerliches Element in diesem einzigen Manne steckt, hat manchmal für mich etwas Abstoßendes, ich empfinde fast eine Art Widerwillen gegen diese Lichtfülle und Lebensfreudigkeit, aber ich weiß, daß wohl in diesem Widerwillen ein Gutteil unbewußten - Neides schlummert. Gerade an Liliencron ist es mir aufgegangen, was mir und zahllosen anderen Modernen fehlt, und was wir sogar hassen, weil wir es nicht besitzen: die Freilichtseele, welche die ganze Welt einatmet und alles umgiebt mit quellendem Glanz und güldenem Schimmer.

Licht werden und licht machen, die dunklen, schmutzigen Winkel der Erde kehren mit dem strahlenden Reisigbesen des Lichts - das ist uns Gesundung und Stärkung und Lebenszweck!

Das Licht aber ist allbarmherzig und weich und schmiegt sich in spendender Güte an alle Härten und Höhen. Und wenn ihr in eure Seelen das allbarmherzige, weiche, schmiegend-schmeichelnde Licht ausgenommen, und ihr selber dann Quellen des Lichts werdet der Welt, vergeßt nicht das Wesen eures Gastes und Arztes -:

Werdet weich!

 

XIX.

In Bildern und Gesichten spricht Nietzsche. Gleichsam durch die Sinne dringt er in unseren Verstand. Es sei auch mir gestattet, in Bildern und Gesichten zu sprechen, um meine Anschauung zu suggeriren. Freilich kein großes Bild aus großen Überwelten will ich euch zeichnen, ein kleines nur aus kleiner Welt. Mags euch verführen!

In einer böhmischen Kleinstadt beobachtete ich eines späten Abends eine unvergeßliche Szene. An einen Tisch satter Spießbürger, die das Gastzimmer des ersten Hotels des Ortes allabendlich durch ihre lärmend leere Geselligkeit weihten, trat ein müdgehetzter Hausierer mit wulstigen Lippen, krummer dicker Nase, hohlem, schmutzig-farblosem Gesicht, demütig gebückten Leibes. In schwerer Tragbahre trug er seine unverkauften Waren, in einer Hand ein Prachtstück von Koffer. Die Satten, die der Jude zum Kaufen anmauschelt, spotten eine Weile und freuen sich köstlich des gefundenen Gefäßes, in das sie ihre fröhliche Laune entleeren können. Sie kaufen nichts, aber sie ziehen mit breitmäuliger Behaglichkeit und tobendem Gelächter den müden Juden auf. Endlich läßt sich einer von den Satten, um einen Hauptspaß anzuzetteln, herab zum Handeln und Feilschen. Das Prachtstück von

 

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Koffer ist das Objekt des heitern Handels. Der Jude verlangt 12 Gulden. Das sei fast geschenkt, er aber sei marod und hungrig. Da wiehert der Satte vor spaßigem Hohngefühl und bietet - 4 Gulden. Darauf wird sich der Jude nicht einlassen, meint der Satte, und ich hab' ein Gaudium ganz gratis. Die Tafelrunde der Satten grinst und wiehert wie der eine, der Feilscher, der Jude taumelt bei dem frechen Gebot der Satten erst zurück, dann faßt er sich und bückt sich noch tiefer und schwört, wenn er den Koffer um 12 Gulden lasse, mache er schon Schaden, aber für 11 Gulden solle der Herr ihn haben. "4 Gulden" beharrt der Satte ... 10 ... 4. 9 ... 4. 8 ... 4. 7 ... 4. 6 ... 4. 5 ... 4. Der Jude jammert immer kläglicher, der Satte trotzt immer stolzer auf seinen Vier. Und endlich schlägt der Jude mit einem tiefen Seufzer den Koffer los um 4 Gulden. Er ist todmüde, er will endlich die Ruhe eines kümmerlichen Nachtlagers. Der Satte hat den Koffer und bietet leutselig dem Hausierer ein Glas Bier. Der aber weist die Gabe ab, nimmt die 4 Gulden und eilt hinaus wie ein Verbrecher. Der Satte jedoch tauscht mit den Genossen triumphierende Worte. Das Geschäft war famos. Er hatte nicht geglaubt, daß der Mauschel auf den Spaß eingehen würde. Der Koffer war unter Brüdern seine 10 Gulden wert ....

Diese Szene fällt mir immer ein, wenn ich das Elend sehe. Der Schwache fleht zum Starken: Gieb mir Brot für meine Arbeit. Und der Starke ist mitleidig, ach fürchterlich mitleidig und giebt das Brot, ein Gramm Brot für einen Zentner Arbeit. Seine Wohlthat mästet ihn selbst. Er schenkt dem Flehenden, und er selbst hat den geilen Segen von der Spende Er hat gemacht ein feines Geschäft...

Noch ein anderes erhält jenes Erlebnis stets frisch. Manchmal träumt es mir, es wird aus jenem Volke, aus welchem dem Elend einst ein Tröster ward, dereinst auch erstehen ein Richter und Befreier. Ist der Messias der That nahe? Friedrich Nietzsche heißt dieser Rächer und Befreier, dieser Messias der That nicht. Der Zarathustra der Zukunft wird predigen: Werdet weich! und nur einmal wird er selbst vielleicht des falschen Zarathustra Lehre folgen. Er wird mit dem Hammer philosophieren, aber der Hammer wird sausen aus diejenigen, welche da die Worte erfüllten: Werdet hart.

"Sprüche und Pfeile" wollte ich gegen Nietzsche, seine Lehren und seine Schüler senden, keinen systematischen Kampf führen. Nietzsche selbst verschmäht ja jedes System als Unwahrhaftigkeit. Doch nicht darum unterließ ich es, weil ich fürchtete, weniger wahrhaftig zu werden. Zu ungeduldig war ich vielmehr, mich von den geistigen Folterqualen zu erlösen,

 

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als daß ich mit bedachtsamer Ueberlegung einen peinlichen Schlachtplan hätte ersinnen können. Den Bildungsbegierigen bringt jeder Tag eine Flut von Gedanken, die er erkämpfen, die er bekämpfen muß. Man muß schnell sein, Freund und Feind zu scheiden, wenn man überhaupt fertig werden will. "Fertig werden", das ist ein Doppelsinn, der Mittel und Ziel in einer Schaale umschließt. Nur der wird fertig, der mit vielem Widrigen fertig geworden.

So sandte ich wahllos "Sprüche und Pfeile".

Auch Beweise hält Nietzsche für entbehrlich, weil die Wahrheit nicht bewiesen zu werden brauche. Ich jedoch habe mich allerdings bemüht, solche zu finden. Dem Kleinen könnte man als Trägheit und Impotenz auslegen, was man dem Großen als tiefsinnige Weisheit ankreidet.

Eine Szene schrieb ich aus dem Schauspiel meiner geistigen Selbstbefreiung und Selbstwerdung - Weg und Ziel alles individualistischen Menschenseins -, vielleicht, daß sie einem oder dem andern die Befreiung von einem furchtbaren Druck erleichtert. Vielerlei streute ich euch hin, möge es euch nicht - einerlei sein!