zur Politik
 
Raus!

(1896)

Die Truppen sind in den Erinnerungsartikeln der Zeitungen wohl überall im deutschen Vaterlande jetzt aus dem Kriege 1870/71 ruhmbedeckt heimgekehrt, und damit ist das große Erinnerungsjahr mit seinen kermesses, wie gallische Bosheit so unzutreffend wie möglich die jeglicher Volkstümlichkeit entfremdeten militairischen Pompfeste nennt, glücklicherweise hinter uns. Etwas von Scalptänzen wohnte diesen Feierlichkeiten doch inne, wenn uns auch – Heinrich von Treischke pflegte es in seinen Vorlesungen pathetisch zu betonen – der Begriff Chauvinismus so fremd ist wie das wälsche Wort. An eine Probe dieses Nichtchauvinismus wurde ich in diesen Tagen lebhaft erinnert. Es war bei irgend einer kriegerischen Bataillonsfeier, zu deren Besuch mich vaterländische Witzbegier veranlasst hatte, als man zwischen strammen Militairkapellmärchen, bengalisch beleuchteten lebenden Bildern von Leichenfeldern und wohlgereimten Poesievorträgen eine dramatische Schnurre aufführte, die, glaube ich: der Franzose in der Mausefalle, betitelt war. In diesem edelsten Zeugnis volksbildender, socialethischer Nationalkunft, welche der Begriff Chauvinismus so fremd ist, wie das Wort, war die Hauptperson ein Franzose, der, wie diese Rasse nun einmal uns vorurteilsfreien, gerechten Deutschen erscheint, ein

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Feigling, Prahlhans und gewohnheitsmäßiger Mädchenschänder war, überdies ein Säufer, Vielfraß und widerlicher Geck. Man begreift, dass unser Franzmann am Anfang des Stücks, als er sich Herr der Situation fühlt, ein höchst ungebärdiger Geselle ist, um kläglich zusammenzuknicken, als er am Schluß der Dichtung in der Mausefalle sitzt, und man wird es weiter als einen schönen Zug empfinden, daß den Unterlegenen die braven siegreichen Deutschen zwingen aus vollem Halse in prophetischer Intuition zu brüllen: Vive l'empereur Guillaume… das war ein vaterländischer Jubel des Publikums, als der geknebelte und geknuffte Franzmann nach etlichem Sträuben heiser den erpreßten Ruf ausstieß!

In dem Parallelfall, der mir jene Erfahrung aus dem Kriegserinnerungsjahr ins Gedächtnis zurückrief, handelte es sich zwar nicht um einen äußeren Feind, der schließlich doch nur durch das Fatum seiner Geburt zum Feinde geworden ist, wohl aber um einen Feind, dessen Gegnerschaft bewusster freier Macht entstammte, um einen inneren Feind. Bevor der deutsche Reichstag in die Ferien ging, ereignete sich genau die gleiche Scene, die sich bei Beginn der ersten Session im neuen Reichshause abspielte. Beim Hoch auf den deutschen Kaiser blieb ein Socialdemokrat sitzen. Alsbald entstand wiederum ein wilder Lärm, und erregte Rufe: Raus, raus! umschwirrten den frechen, wie es in dem nationalen Jargon heißt. Merkwürdigerweise unterließ man es, das oben erwähnte patriotisch-dramatische Recept anzuwenden, und den Karl so lange zwicken, bis er sich zu der gewünschten Reflexbewegung nationalen Gefühlsüberschwangs gleichfalls verstand. Man begnügte sich, schwächlich genug, mit den Naturschreien der im heiligsten verletzten Empfindung: Raus, raus, und diese Interjectionen waren vielleicht die ehrlichsten und aufrichtigsten Worte der ganzen Session, sie entsprachen wirklich einem Herzenswunsch. Wie wohl wäre den Rufern, wenn der böse nunmehr 48-köpfige Feind für immer ihrer Hausknechtweisung folgte.

Der Zwischenfall ist diesmal in der Presse weit weniger beachtet worden, als damals, wo der Fall Liebknecht die Volksseele in ihren tiefsten Tiefen dermaßen anrührte, dass man den Staats-

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anwalt zur Beruhigung consultierte. Die Ursache für die ungleiche Behandlung liegt sicherlich nicht in den Personen der Verbrecher; der Entrüstung ist es gleichgiltig, ob die günstige Gelegenheit Liebknecht oder Schmidt heißt; auch nicht in der Wiederholung des Falles: die Entrüstung entrüstet sich je öfter desto heftiger. Die Zurückhaltung der reactionären Presse erklärt sich vielmehr aus der Furcht, peinliche Erinnerungen an Scheiterhaufenbriefe und sonstige Hammersteincorrespondenzen zu veranlassen, und vielleicht hegt man sogar den bangen Verdacht, die Scene sei diesmal von den Socialdemokraten gerade zu dem Zwecke provociert worden, eine Gelegenheit zu finden, die versprochenen Briefe endlich zu veröffentlichen. Die anderen Blätter aber gehen schweigend über das Vorkommnis hinweg, obwohl es einen triftigen Anlaß zur Kritik böte. In den schlimmsten Tagen der Censur war ja die Presse nicht so unfrei und – feige, wie in dieser Zeit der Preßfreiheit von Staatsanwalts wegen.

Und doch ist der Zwischenfall recht bedeutsam, enthüllt sich ja in ihm ein Krankheitsherd unseres öffentlichen Lebens, und haben doch gerade die bürgerlichen Parteien Grund genug, keinen Präcedenzfall zu schaffen, der über kurz oder lang für sie selbst die fatalsten Wirkungen haben müßte. Bei dem unaufhaltsamen Wachstum der Socialdemokraten ist der Tag nicht mehr fern, an dem die Socialdemokratie die ausschlaggebende Partei des Reichstags ist. Es ist nicht unsere Sorge, ob inzwischen Gewaltsmaßregeln diese Entwicklung unterbrechen. Unsere im innersten Grunde defecte Verfassung hat keinen Puffer, um das Aneinanderprallen der Gewalten zu sänftigen und unschädlich zu machen, ihre letzte Lösung ist der brutale Conflict. Vor dem Conflict aber ist ein Zustand denkbar, in dem der Präsident des Reichtags die Sitzungen mit einem Hoch auf die völkerbefreiende, revolutionäre Socialdemokratie schließt. Soll auch dann der Zwang sein, dass sich die Todfeinde huldigend erheben, oder gar mit in den Ruf einstimmen?

Indessen es ist nicht nur ein Gebot der Klugheit, die es selbstverständlich erscheinen läßt, daß die Socialdemokratie nicht nur nicht

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an einer Huldigung für den Monarchen teilzunehmen braucht, sondern daß sie es im Gegenteil unter keinen Umständen darf. Ein socialdemokratisches Hoch auf den Kaiser oder eine Ehrung durch Aufstehen wäre die frechste Majestätsbeleidigung. Das könnte lediglich als eine Verhöhnung aufgefaßt werden: denn es ist ausgeschlossen, daß die Partei, die von dem Monarchen als der innere Feind proclamiert ist, die man mit Ausnahmegesetzen geknebelt und gepeinigt hat und mir kränkelnden Worten fortwährend verfolgt, aus innerer Ueberzeugung dem Träger eines überdies parteiprogrammatisch bekämpften Intuition huldigt. Spielt man aber gar die Frage (was nicht als richtig zu erachten ist) auf gesellschaftlichen Tact hinaus, so ist die Socialdemokratie weder gehalten, sich vor dem Kaiserhoch zu entfernen, noch weniger, an der Kundgebung activ teilzunehmen. Im Gegenteil, es entspricht den einfachsten Begriffen gesellschaftlichen Anstands, daß man in einem Kreise jedes Wort und jede Action vermeidet, welche bei einem Teil der Anwesenden Anstoß erregen könnte. Der gesellschaftliche Tact würde also überhaupt den Verzicht auf das Kaiserhoch bedingen. Indessen handelt es sich aber nicht um eine Frage des guten Tons, sondern um eine Demonstration für ein politisches Prinzip, und es ist das natürlichste Ding von der Welt, daß niemand sich an der Demonstration beteiligt, der ein anderes politisches Glaubensbekenntnis hat.

Das lärmende Verhalten der Rausrufer wäre, so betrachtet, völlig sinnlos, unwürdig und gerade von ihrem Standpunkt aus schädlich. Es wäre auch nicht zu verstehen, wenn es nicht eben nur ein gelegentlicher Ausbruch eines chronischen Nervenleidens wäre: In dem: „Raus, raus” löst sich endlich einmal das allzu lange schweigend getragene Leid und der verhaltene Wunsch mit urkräftigem Behagen aufschreiend aus. Warum geschieht jedoch die Auslösung gerade bei dieser Gelegenheit? Wäre die Demonstration nicht viel mehr Platze, wenn die Socialdemokraten durch ihre Ablehnung des Etats die schärfste Demarcationslinie zwischen ihrer Weltanschauung und der bestehenden Staatsordnung ziehen? Da hätte die Demonstration doch einen Sinn, das wäre die Antwort auf eine

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offene Kriegserklärung. Warum entrüstet man sich gerade bei einer Förmlichkeit, wo man noch dazu im Unrecht ist?

Mag sein, daß man sich durch eine Entrüstungskomödie an solcher „hervorragenden” Stelle nun wieder einmal des Wohlwollens versichern will, ohne das man nicht leben zu können glaubt. Andererseits aber offenbart sich doch gerade an diesem Puncte die specifisch deutsche Eigenart des Kampfes zwischen der bürgerlich-capitalistischen Ordnung und der wie immer sich gestaltenden, aus Nebeln trotzig aufsteigend neuen Welt des socialen Zeitalters. Vielleicht in keinem Lande wird dieser Kampf, trotz aller äußerlichen Brutalitätsgesten, von den Verfechtern der bestehenden Ordnung mit solchem Ungeschick und so schwächlichen Mitteln gekämpft. Ja, im eigentlichen Betracht giebt es einen solchen Kampf bei uns gar nicht. Die Feine heißen nicht den Capitalismus und Collectivismus, bürgerliche Gesellschaft und socialer Staat, Eigentum und Communismus, liberaler Individualismus und Socialismus, oder wie man sonst die Gegenstände kennzeichnen mag. In Deutschland ringt nicht eine Gesellschaft, nicht eine Staatsordnung um ihre Existenz, sondern der Kampf krystallisiert sich um die Erhaltung einer bestimmten Institution dieser Gesellschaftsordnung, die aber keineswegs mit ihr organisch und naturnotwendig zusammenhängt. Die ganze Kriegsstatistik ist auf eine einzige Institutions-, Personen- und Familienfrage zugeschnitten, und darin besteht die große Schwäche der Verteidiger der bürgerlichen Gesellschaftsepisode – am Ewigen gemessen sind alle Epochen nur Episoden – und die große Stärke der Angreifer. In offenen und latenten Republiken stehen sich die feindlichen Heerlager in ihrer ganzen Größe und Macht gegenüber, dort messen Weltanschauungen ihre Kräfte, bei uns wird auf der einen Seite statt des Landes nur eine Festung verteidigt, die ganze Strategie wird den Besonderheiten dieses einen Punctes angepasst, und darum ist es erklärlich, daß der Feind mühelos inzwischen das Land erobert, daß gerade in Deutschland die Socialdemokratie die größte Gewalt hat. In allen den Windungen unserer Regierungspolitik läßt sich in der That nur der eine leitende Gedanke erkennen: Vor allem

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gilt es die Monarchie zu retten. Und in dem Eifer, den bedrohten Posten zu beschützen, giebt man die Gesellschaftsordnung, auf der die Monarchie beruht, preis. Darum verstärkt man zwar die militairische Leibwache der einzelnen Institution ins Ungemessene, im übrigen schwächt man aber durch die Taktik, die man befolgt, die eigene Position. So sucht man Hilfe bei allen Parteien, die monarchische Treue im Schilde führen, die sich mit einem loyal abgerichteten Kaiseraar legitimieren, selbst wenn sie durch ihre Agitation den Eigentumsbegriff und damit das Fundament der bürgerlichen Ordnung erschüttern, oder durch utopistische Entwickelungsreaction die kräftigste Schutztruppe der gegenwärtigen Gesellschaft, die großcapitalistische Elitegarde unzufrieden machen. Man stützt sich auf die Junker, nur weil sie royalistisch gestrichen sind, obwohl sie in ihrem begründeten Haß gegen das mobile Capital die Basis unserer Gesellschaft unterminieren und zugleich auf der andern Seite eine Todesfeindschaft der Mobilcapitalisten gegen die Immobilcapitalisten hervorrufen. Man hat nie die Antisemiten für Reichsfeinde erklärt, weil sie die Krone im Wappen führen, und doch zerstören sie den Glauben an die Heiligkeit des Eigentums durch ihre anarchistischen, mit der Propaganda der Gewalt spießbürgerlich scheu coquetierenden Angriffe auf das semitische Capital. Man hat die sogenannte Mittelstandsbewegung erfunden und gehätschelt, weil das Kleinbürgertum, das in allen Kriegervereinen dominiert, am lautesten und begeistertsten die Nationalhymne intoniert; man hat aber dabei übersehen, daß diese Volksclasse, die in ihrer gedrückten Erwerbsnot auf die Gnade der Kunden angewiesen ist, deren entbehrliche Existenz – wenn alle Krämer und Handwerker stritten, würde niemand ein Interesse daran haben, auf Beendigung des Strikes hinzuwirken – von dem Wohlwollen und dem Credit abhängt, durch langen, beugenden Zwang gewohnt ist, dem nachzujauchzen, der gerade in der Macht ist. Das sind die Leute, die vielleicht 1866 noch gegen Preußen gekämpft haben und jetzt bei der dreißigjährigen Erinnerungsfeier, der Annexion vollständig acclimatisiert, ein Hoch auf – Bismarck ausbringen; das sind die Elemente, die jegliche Macht mit Hurra begrüßen. Aber

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weil sie einmal Hurra rufen, darum protegiert man sie, darum schmeichelt man ihrem Aberglauben und versucht die wirtschaftliche Don Quichotterie, überlebte Betriebsformen künstlich am Leben zu erhalten, ohne zu berücksichtigen, daß man dadurch wiederum die lebensstarke Schutzwehr des Bestehenden in ihrer Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Ansturm der Zukunftsgläubigen lähmt.

In Frankreich ringt der bürgerliche Capitalismus mit seiner ganzen Kraft gegen den Socialismus, er befehdet ihn mit List und Gewalt, mit Ernst und Satire, mit gütlicher Verführung und gemeiner Notsucht durch entgegenkommende Reformen und brüske Verneinung. Es lauert ihm überall auf und verstellt ihm den Weg, mit dem gesamten Aufgebot politischer und wirtschaftlicher Machtmittel sucht er ihn abzuwehren. In einer harmlosen Rentensteuer wittert man den Zukunftsstaat, und Forain, der satirische Zeichner, stellt den feisten Rentner dar, wie er um Gnade bettelt, ohne freilich etwas anderes zu erreichen, als die schneidende Antwort: Ja, Herr Rentner, die Freiheit ist ein veraltetes Spiel – jetzt sind wir bei der Gleichheit. Ganz anders bei uns! Hier, wo die Principien- zur Personenfrage verkümmert ist, versagt man der Bourgeosie gerade ihre stärkste Waffe, die Freiheit, weil man eben den Schutz einer Institution über die Verteidigung eines Princips stellt. Kaum nötig zu sagen, daß sich aus dieser verkehrten Grundstatistik ergiebt, daß man auch für den engeren Zweck die verkehrten Mittel anwendet. Das Eine bedingt das Andere, abgesehen davon, daß die bedrohte Bourgeosie, die instinctiv den verhängnisvollen Fehler und die Quelle ihrer Mißerfolge ahnt, den Urhebern dieser Politik nicht geradezu allzu freundlich gesinnt ist. Die conservativen Strategen in dem großen socialen Entscheidungskampf arbeiten in Deutschland wider den Willen durch ihre Kopflosigkeit auf die Capitulation hin. Sie haben es zu Wege gebracht, daß sie statt eines geschlossenen Verteidigungsheeres den Krieg im eigenen Lager haben, daß nirgends das Dogma des Capitalismus so stark erschüttert ist wie gerade bei uns.

Man sieht jetzt, daß es doch tief begründet ist, wenn gerade da die Entrüstung der Anwälte des Bestehenden gegenüber der Re-

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volution am höchsten lodert, wo die Grundprincipien gar nicht in Betracht kommen. Damit ist nicht gesagt, daß man sich dieses Zusammenhangs nun auch bewußt wäre. Ganz und gar nicht. Für sie bedeutet das Raus, raus nur den brutalen Wunsch, den Feind gewaltsam zu beseitigen. Man begnügt sich mit dem Wort, weil die That vorläufig nicht möglich ist. Wo man aber sich stark genug fühlt, da handelt man nach der Weisung. Raus lautet die Parole, als Gesinde, Arbeiter und Frauen im Bürgerlichen Gesetzbuch ihr Recht forderten. Dem drohenden Raus kam Herr von Berlepsch zuvor, indem er ging, und an der „sensationellen Socialpolitik” von 1890, die man allzu lange schon geduldet, wurde das herrische Raus executiert

Aber sonderbar! Während so die Politik dieses actionskräftigen Worts gegen alles Lästige und Verhaßte angewandt wird, fühlt man sich selbst nicht wohl in dem Hause, das man dermaßen eifrig und rücksichtslos säubert. Raus ruft man sich selber zu, und man schweift in den kühnen marinistischen Weltmachtsträumen in alle Weiten, phantastisch gaukelt man sich eine erhabene Aera der Colonialpolitik vor, während wir in Wahrheit am Ende der Colonisationsepoche stehen, und es nur noch letzte gewaltsame Zuckungen einer sterbenden ökonomischen Technik sind, was wir gern für ein Aufblühen halten möchten. Gierig sucht der Semilasso einer welkenden Gesellschaft die Erschöpfung der Zeugungskraft seiner Seele durch Verstärkung und Mannigfaltigkeit der von außen dringenden Reize zu ersetzen, und schlaue Händler stacheln diese unstäte Schwärmerei in's Grenzenlose, verspricht sie doch ihnen Gewinn. Wer aber kann sein Haus gegen Eindringlinge wehrhaft schützen, wenn er selbst sich hinauslehnt? Mag noch so barsch dann ein Raus den Einlaß begehrenden lebensfrischen Gesellen zu wehren suchen, dem Raus wird nur um so kecker das Echo folgen: Rein!