Die Kritik
Wochenschau des öffentlichen Lebens
Berlin, den 5. Dezember 1896
III. Jahrgang Nr. 114

Provinzialbriefe
XXI. Almela

Missionare erzählen schaudernd von einem neuen Gott und einer Sekte, die der religiösen Zeugungskraft unserer Kameruner Mitbürger ihre Entstehung verdanken. Der Gott hört auf den melodischen Namen Almela, und die Missionen denunziren ihn als Schnapsgötzen. Die Almelakirche ist eine Nachäffung der christlichen Kirche und man wird in sie aufgenommen durch eine Taufe, die nach baptistischen Ritus durch Untertauchen vollzogen wird. Sobald der Getaufte aus dem Wasser steigt, erhält er ein Glas Schnaps, das fortan sein Gott sein soll. Sodann wird er zum Schnapssaufen und allerlei Schandthaten verpflichtet. In den Versammlungen, die Sonntags gehalten werden, nimmt der Anführer ein Buch und thut, als ob er lese. Gegenstand seines Vortrags und der Unterhaltung sind das Saufen und andere Laster. Die guten Missionare haben den Sinn dieses zeit- und ortsgemäßen Schnapsgottesdienstes arg mißverstanden. Unsere schwarzen Mußdeutschen haben sicherlich nicht die abscheuliche Absicht gehabt, das Christenthum zu verspotten, sondern sie gedachten es in aller Harmlosigkeit, Gläubigkeit und Ehrfurcht anzuwenden, so gut sie es verstehen. Den neuen Gott, der ihnen gepredigt ward als ausgestattet mit den wunderbarsten und geheimnißvollsten Kräften,

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glaubten sie, da sie keinen anderen sahen, hörten, tasteten oder schmeckten, in dem magischen Kartoffelgeist der deutschen Fuselpatrioten zu erkennen, dessen gewaltige Zauberkraft sie durch die Güte der deutschen Kulturpioniere herrlich erproben durften. Da sie aber zugleich die Weißen, die ihnen den neuen Schnapsgott mitgebracht, in reichsdeutschen Schneidigkeiten inbrünstig sich geberden sahen, so hielten die naiven Seelen solches Thun für den Ritus des Gottesdienstes im heiligen Geiste des Alkohols und ahmten ihn ebenfalls nach. So ist die Almelakirche klärlich keine Verhöhnung, sondern ein bedauerliches, aber begreifliches Mißverständnis des kolonisatorischen Christenthums

Man thäte den Schwarzen Unrecht, wenn man ihnen aus diesem Irrtum einen allzu schweren Vorwurf machen würde. Die ganze Geschichte der abendländischen Christenheit ist die Entwickelung eines ähnlichen Mißverständnisses. Man glaubte dem christlichen Gott zu dienen, und betete doch zu Almela, der zu Zeiten noch nicht einmal ein Schnapsgötze, sondern ein Bluthund und Mordbrenner war. Im Namen Gottes tat man, was im Geiste Almelas geschah. Ja, schuldiger als die harmlosen Afrikaner, huldigte man selbst mit klarem Bewußtsein der blasphemischen Verwechslung. Almelaknechte sind durchweg die Staatsschriften von heute, die den anderen die Religion zu erhalten wünschen, die auf den Trümmern einer ausgeplünderten Menschheit ihre gleißenden Kirchen bauen und in dem Blut des nationalen und sozialen Krieges auf goldenen Gondeln fromme Luftfahrten unternehmen. Christus-Almela ist nicht der Gekreuzigte, der das Kreuz der Menschheit auf sich nimmt, sondern der Kreuziger, der die Menschheit an den Pfahl schlägt, um für sich und die beiden Schächer zu seiner Seite — der eine ist seines Zeichens Hüttenbesitzer, der andere ein Landbaron — Raum für freies Ausleben zu gewinnen.

Die Ausrottung des pseudochristlichen Almela-Dienstes ist die erste und dringendste Kulturarbeit, wenn auch Almela-Glaube und Christenthum so innig mit einander verbunden und durchwirkt sind, daß man schwerlich eines ohne das andere wird vernichten können. Gerade die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts ist mit solchen Lösungs-, Scheidungs- und Reinigungs-Versuchen erfüllt. Man erhebt die Forderung zur Parole: Ernst machen mit dem Christen-

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thum, worunter man verständiger Weise nur verstehen kann, daß man beabsichtigt, die Menschengemeinschafts-Idee des judenchristlichen Prophetismus in ihrer lauteren Wahrheit aus dem Almela-Ritual herauszuschälen. Zu dem Ende bemühte sich die absterbende theologische Fakultät, die sich seither durch die Transfusion mit dürrer Bibelphilologie vor dem Marasmus zu schützen suchte, an der Sozialwissenschaft zu verjüngen. Indessen Almela war so fest eingenistet, daß er auch nicht mit Hilfe der verbündeten Wissenschaft zu tilgen war. Im Gegenteil, er mästete sich am neuen Blut und gedieh außerordentlich. Die wenigstens in ihren Führern widerliche Erscheinung des stöcker-christlichen Sozialismus zeigte den Almelakult auf der Höhe. Es war ein mit allen Mitteln pfäffischer Demagogie betriebener Versuch, das sich auf seine Interessen besinnende Volk seinen Treibern wiederzugewinnen, ein Kreuzzug der Beschränktheit und Heuchelei. Die ehrlichen Leute, die sich durch die soziale Vermummung für diese Tartüfferie hatten einfangen lassen, wurden allmählich des ekelhaften Treibens überdrüssig und sammelten sich nun um einige treffliche Menschen, die auch nicht übel musizirten, damit endlich das Ernstmachen mit dem Christenthum ernst genommen werde. So entstand die Gruppe der National-Sozialen, die sich eben in Erfurt zwar nicht zu einer Partei, aber immerhin zu einem Verein zusammengefunden hat, wenn dieser auch eine leise Tendenz zum Kränzchen zeigt. Die Frage, die zu beantworten sein wird, ergiebt sich von selbst: Haben wir hier wirklich reines Christenthum und ist Almelas Einfluß aus Glauben wie Ritus völlig getilgt?

Von Haus aus wird man den Mitgliedern des nationalsozialen Vereins das Zeugniß ausstellen, daß sie sich in jedem Betracht von ihren Verwandten der christlich-sozialen Linie auf die vorteilhafteste Weise unterscheiden. Sie sind nicht die demagogischen Agenten einer machtlüsternen Hierarchie, die das Vertrauen der Masse durch liebevolles Versenken in ihre sozialen Leiden zu erschleichen sucht, sie sind vielmehr aufrichtige Bekenner des sozialen Christenthums und ihre Sozialpolitik ist nicht nur von einem guten, unerschrockenen Herzen, sondern auch von einem unterrichteten und unbefangenen Verstande geleitet. Wenn es angängig wäre, Parteien nach der Zahl ihrer sympathischen Persönlichkeiten zu be-

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urtheilen, so wäre der junge Verein der National-Sozialen eine gar erfreuliche Erscheinung. Männer von dem feinen Verständnis, dem geraden Charakter und dem Muth eines Naumann und Göhre sind nicht so häufig, daß man die frohe Dankbarkeit ihnen gegenüber vergessen darf, weil man ihr Wirken für einen Irrthum hält. In der That wird jede eingehende Kritik der jungen Richtung kein anderes Resultat haben, als daß wir in ihr einen neuen Beweis für die Unüberwindlichkeit Almelas im Christenthum, mag es noch so geläutert und kernhaft sein, erblicken.

Der nationale Sozialismus verdankt nicht einem sachlichen, sondern einem persönlichen Bedürfniß seine Entstehung. Nicht warb eine neue Welt- oder Parteianschauung um Ahänger, sondern Leute, die abseits thatendurstig am Wege standen, ohne zu wissen, wo sie ihre Kraft und ihren Willen bethätigen könnten, suchten nach einem Zentrum. Theologen, die mit zorniger Scham die Verhöhnung des christlichen Gedankens durch das offizielle Christenthum empfanden, Sozialreformer, die durch den unseligen Historismus in ihrer intellektuellen Konsequenzkraft erweicht vor dem Gedankenzwang des Marxismus zurückschreckten, Abtrünnige der Bourgeoisie, deren zartes Empfinden zurückgestoßen wurde von dem schroffen, harten Charakter der proletarischen Parteibewegung, Mystiker, die, in dem Glauben an die nationale Herrlichkeit der Bismarck'schen Reichsgründung aufgewachsen, nicht mehr zu rein negativer Kritik im Stande waren, Schwankende und Schwachmüthige, die es einmal mit einer weniger starken Nummer unter dem Schutz der Autoritäten probiren wollten — statt der sozialistische Unzucht die soziale Lüsternheit, - Uebergangsmenschen, die, gerade im politischen Stimmwechsel begriffen, ihr Organ noch nicht gefunden hatten, Modenarren, die es nicht drei Tage in einer Ueberzeugung aushalten, ohne sich zu überwinden, und stets zum Neuesten schwören, und schließlich vielleicht einige kluge Taktiker, die der Sache der sozialen Befreiung der Menschlichkeit dadurch zu dienen meinten, daß sie an geltende Meinungen und Richtungen in diplomatischer Maskirung anknüpfen — alle diese zur Thatenlosigkeit verurtheilten Nebengänger strebten nach Zusammenschluß und Bethätigung. Da aber niemals die Massen, die an ihre Interessen angeschmiedet sind, sondern nur die interesselosen Einzelnen derart hamletisch vor der

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ganzen Entschließung zurückzaudern, so ergab sich von selbst, daß die neue Partei zwar vielen aus der Seele sprach, aber der Menge gleichgiltig blieb. Ein Verein mehr, der nur aus Vorstandsmitgliedern besteht!

Wir wollen uns nicht der komischen Bemühung schuldig machen, den Granitbau des Marxismus mit dem Warteraum der Naumannianer zu konfrontiren. Man braucht nur das kommunistische Manifest, dieses methodische Aktenstück, und die „Grundlinien” der national-sozialen Vereinstatuten hintereinander zu lesen, um das Absurde einer solchen Vergleichung einzusehen. Andererseits gilt es aber auch, den guten und vielleicht auch nützlichen Willen dieser Sekte gegen Verdächtigungen zu vertheidigen.

Die Geschichte der Christlich-Sozialen hat jede Verquickung von Christlichem und Sozialistischem so kompromittirt, daß man stets für eine üble Deutung derartiger Reformbestrebungen disponirt ist. Auch hier entsteht sofort die Frage: Wenn es diesen National-Sozialen wirklich Ernst ist mit der sozialen Erlösung, warum suchen sie die Kreise der Partei zu stören, die in unermüdlicher Arbeit endlich zu einer Macht geworden ist, mit der die herrschenden Gewalten rechnen müssen. Sollten angesichts dieser einen Thatsache nicht alle Differenzen als unerheblich bei Seite gestellt werden? Ist es wider ihr Gefühl aber ihren Muth, sich offen auf die Seite dieser Partei zu stellen, warum begnügen sie sich nicht mit schweigenden Sympathien, anstatt Konkurrenzunternehmungen zu versuchen? Sind sie aber überzeugt, sie nicht i n n e r h a l b ihrer Reihen aufklärend und bessernd zu wirken? Muß man da nicht annehmen, daß auch hier wieder das soziale Programm ein Vorwand ist, um die Macht des demokratischen Sozialismus zu erschüttern?

Gewiß werden einzelne sozial-nationale Mitläufer von solchen Tendenzen beseelt sein. Aber die Mehrzahl ist in ihrem ganzen Verhalten so erquickend undemagogisch und aufrichtig, daß man ihnen die gute Absicht nicht abstreiten sollte.

Auf einer falschen Analogie vielmehr beruht, wenn wir richtig sehen, die tastende Wirksamkeit Neumanns und seiner Vereinsgenossen, sofern sie nicht divergirende Meinungen haben. Die meisten

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National-Sozialen sind wohl von national-liberaler Herkunft, es sind verlorene Söhne Rudolf v. Bennigsens. Der Nationalliberalismus als vornehme politische Denkart ist weniger eine Partei als eine Gemüthsanlage, er ist das fünfte Temperament, dessen Wesen im Kompromiß besteht. Die deutsche Reichseinheit ist nationalliberales Gewächs. Weil nun die Einigung dadurch zu Stande gekommen und der Traum eines Jahrtausends dadurch zur Erfüllung gelangte, daß der kompromisselnde Liberalismus der radikalen Demokratie das Heft entwandte, so glaubt Naumann, daß auch das soziale Reformwerk aufs Schnellste und Sicherste in gleicher Weise zu Stande gebracht werden könne, und er hat den Ehrgeiz, die vermittelnde Partei für die soziale Einheitsbewegung zu schaffen. Indessen es ist ein Anderes, den Federstrich zu ermöglichen, von dem eine fremde Staatenvereinigung schließlich abhängt, ein Anderes, die gewaltige Materie des Wirtschaftslebens zu bändigen. Da genügen die kleinen Künste nicht und die halben Kräfte, da klafft das Entweder-Oder hart und unerbittlich, und die Weisheit des realpolitischen Opportunismus versagt kläglich. Dann aber leiden wir ja gerade selbst auf rein politischem Gebiet an der nationalliberalen Herkunft unseres Staatswesens. Jene Komödie der Irrungen und Täuschungen, um ihres scheinbaren Erfolges noch einmal zu wiederholen, ist wahrlich das Unternehmen eines Theaterdirektors, der auf das Klatschen des Schaupöbels statt auf die herbe Kritik des Kunstrichters hört.

Auf der nationalliberalen Rassenabstammung aber beruhen die inkonsequenten Wunderlichkeiten dieser Richtung, abgesehen von der Christlichkeit, die aus der christlich-sozialen Familie angeheirathet ist. Man ist national im militaristischen und marinistischen Sinn, treibt die Politik der Macht nach außen und der kolonialen Propagation. Das bedeutet aber, daß man klaftertief in der Bismarcklegende steckt und daß man nicht vergessen hat, was man als deutscher Student gepriesen hat. Der Sozialismus offenbart sich als Tünche, unter der der liberale Individualismus unerwittert fortbesteht, wie denn der Freiburger Professor Max Weber auf dem Erfurter Vereinstag ganz munter das Evangelium eines radikalen Individualismus gepredigt hat.

Bedarf es der Darlegung, daß dieser nationale Individualismus

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sich schlechterdings weder mit dem Christenthum noch mit dem Sozialismus verträgt? Die National-Sozialen wollen das Manchesterthum im Innern, wenn auch mit unzulänglichen Mitteln, überwinden, und verkünden es in extremer Verschärfung als aller Weisheit Schluß für das Völkerleben. Der tolle Widerspruch bliebe unverständlich, wenn es nicht eben Art des liberalen Historismus wäre, Prinzipien durch die Bejahung und prinzipielle Erhöhung augenblicklicher Erscheinungen zu verwirren und zu entkräften. Wie gleichgiltig ist es, ob man ein Individuum gegen das freie Spiel der Kräfte schützt, wenn man ganze Völker ihm ausliefert. Als Einzelner gerettet zu werden, um in der Gesammtheit dem stetig drohenden Untergang geweiht zu sein — das ist ein übler Tausch. Dann aber ist die ganze nationale Rüstungs- und Machtwahnpolitik überhaupt eine Utopie, sie ist wirtschafts- und finanztechnisch unmöglich. Wie wir schon früher gelegentlich erwähnt haben, ist der endlose Militarismus erst in einem zukunftsstaatlichen Gardelieutenantschlaraffen-Zeitalter möglich, in der kapitalistischen Drohung wirkt er hypertrophisch als Kulturhemmniß und finanzielle Zerrüttung. Diese Politik muß zum europäischen Krach und zur Erwürgung durch die asiatische und amerikanische Konkurrenz führen. Die erste national-soziale „Grundlinie”: „Wir stehen auf nationalem Boden, indem wir die wirtschaftliche und politische Machtentfaltung der deutschen Nation nach Außen für die Voraussetzung aller größeren sozialen Reformen im Innern halten”, ist eine utopische Reiseroute. In Wirklichkeit ist keine soziale Reform im Innern möglich ohne internationale Vereinbarungen auf politischem und wirthschaftlichem Gebiete. Die Ueberspannung des individualistischen Prinzips des Krieges Aller gegen Alle ist für das Volksinnere noch weniger gefährlich, als wenn man es auf das Verhältniß der Völker untereinander anwendet. Die Naumannianer wollen uns gnädiglich unsere Wohnung mit allem Komfort und hygienischer Zweckmäßigkeit ausstatten, um uns dann das ganze Haus anzustecken. Es giebt nur zwei Möglichkeiten: Man ist entweder Sozialist oder Individualist, man bekennt sich zu dem Prinzip der Menschengemeinschaft oder zu dem des Rechts des Stärkeren, der ja nie ein natürlich Stärkerer, sondern immer ein kulturkünstlich Stärkerer ist. Höchstgradige Un-

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klarheit und Wirrniß ist es, innerhalb willkürlicher Staatspolitik das Manchesterthum auszuschalten und es im Allgemeinen bestehen zu lassen. Das ist utopisch, antisozialistisch und — das bedarf keines Beweises — antichristlich. Mit ihren nationalliberalen Grundlinien der militaristischen Politik sind die Naumannianer so wahr Christen, wie etwa Bismarck ein Christ ist, weil er sich nicht losgerungen hat von den mythologischen Vorstellungen des vorwissenschaftlichen Zeitalters. Wir dachten eigentlich, die National-Sozialen wollten Christen sein im Glauben an die Heilandsideen einer erhabenen Menschengestalt, fast scheint es aber, als ob es nur die gewöhnlichen Spätlinge einer veralteten Dogmatik sind, die in gewohntem Ritus zu Almela beten, dessen Gloriole aus dampfendem Blut gewebt ist, und der in der frommen Gewandung die trotzenden Muskeln herausfordernd reckt.

Uebrigens gehört anscheinend ein bischen Malthusianismus zu jeder christlichen Sozialbewegung als Rest einer asketischen Tendenz. Die Rechtfertigung der Kolonialpolitik, welche die National-Sozialen gleichfalls wie nur irgend ein nationalliberaler Rheder protegiren, ergiebt sich ihnen offenbar aus der Wahnvorstellung einer Uebervölkerungsgefahr, während es doch längst eine unverlierbare Erkenntniß der allgemeinen Bildung sein sollte, daß der Pauperismus mit der Bevölkerungsziffer ganz und gar nichts zu thun hat.

Die Unterstützung der verblendeten Rüstungspolitik ist eine so schwere Schuld, daß sie durch keine sozialen Bemühungen gemildert wird. Das ist kein harmloses Thun mehr, weil es von Einfluß sein kann. Die sozialen Bestrebungen sind gut gemeint, aber, soweit es von den National-Sozialen abhängt, für absehbare Zeit aussichtslos — die Mechanik der kapitalistischen Weltwirthschaft wird nicht durch liebes Zureden verändert. Wohl aber haben die National-Sozialen die intellektuelle Macht, die militaristische Verirrung der Kultur, die traurigste, die es geben kann, zu schützen und zu stützen, zum Mindesten ihre Ueberwindung zu hemmen. Einem Irrthum, der Macht hat, darf nicht die geringste Förderung zu Theil werden; da wirkt der kleinste Einfluß verhängnißvoll, der mehr im Stande wäre, Werdendes zu fördern. Das Gute, was sie wollen, erreichen sie nicht; in dem Schlechten, was sie begünstigen, haben sie möglicher Weise Erfolge — müßte so eigentlich nicht das

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Verdammungsurtheil über die National-Sozialen sehr hart sein! Man illustrire doch nur die „Politik der Macht” an Beispielen, man denke z.B. daß sich, wie neulich festgestellt wurde, bei der Niederwerfung österreichischer Arbeiteraufstände ergeben hat, daß das moderne Geschoß eine zehnmal stärkere Zerstörungskraft hat, als das im Kriege 1870/71 — und man wird die Milde und Sympathie verlernen, die der soziale Eifer an sich verdient.

Oder ist das am Ende gar nicht so ernsthaft gemeint? Ist die militaristisch-marinistisch-nationale Real- und Größenwahnpolitik erst sekundär hinzugekommen, als man das Bedürfnis hatte, sich aus taktischen Gründen von dem Vorwurf zu reinigen, daß man sich in Nichts von der Sozialdemokratie unterscheide, und hat man da erst die unterscheidenden Merkmale aufs Gerathewohl ersonnen? Ganz unmöglich ist das nicht. Man wußte in der That nicht derb und greifbar anzugeben, worin sich die eigene Sozialkritik von der sozialdemokratischen unterscheide, und da die Betonung des Christlichen, das ja das sozialdemokratische Programm nicht verpönt, nicht ausreichte, so verfiel man schließlich auf die Pointirung des Nationalen, ohne zu merken, daß man durch dieses taktische Einschiebsel den ganze Bau zerstörte. Haben wir die Entwicklung Naumanns richtig verfolgt, so haben sich bei ihm in Wahrheit die national-reichsdeutschen Belleitäten erst später vorgedrängt.

Was wir als Entschuldigung geltend machen möchten, hat die Stumm'sche Liga in ihrem angstbebenden Spürsinn längst geargwöhnt. Auch nach dem Erfurter Vereinstag hallt es wieder von lauten Denunziationen. Das Hamburger Organ für erlaubten Landesverrath hat schleunigst sein Lieblingsrezept der niederschlagenden Mittel angepriesen, und im ganzen reaktionären Walde gellen die Hetzrufe. Die Kirchenbehörden, die einem Stöcker den Teppich legten, haben Naumann geächtet, und die National-Sozialen werden ihre Märtyrerkraft bald zu erproben haben. Die Stumm'schen haben eine feine Witterung. Sie haben es gleich weg, wo das Soziale nicht wohlgefälliger Vorwand, sondern abscheulich aufrichtiger Zweck ist. Die monarchistischen und nationalen Betheuerungen besänftigen sie nicht, sie sehen nur die „Gefahr”, die aus der radikalen Sozialkritik entsteht. Jene scheinen ihnen nur die Engelsmaske über der Teufelsfratze, der elegante Schuh über dem Pferdefuß. Sie fürchten,

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daß die Sozialkritik die Köpfe der bislang festesten Stützen der kapitalistischen Herrlichkeit rebellirt, und sie zittern vor Allem davor, der Geist des Umsturzes möchte sich in den Besten der heutigen Weltordnung in den Pfarrämtern einnisten. Und würde da nicht die Heerde dem Hirten willig folgen und somit das Ende aller Dinge gekommen sein?

Ganz und gar Unrecht haben diese Aengstlinge nicht. In Wahrheit wird es das bleibende Verdienst der Naumannianer sein, daß sie soziales Verständnis und damit soziale Kritik in weitere Kreise der Gebildeten tragen, daß sie Köpfe werben für die, welche — hinter ihnen stehen. Für ihre historische Werthschätzung freilich bleibt es gleich, ob ihr Almelakult aus Ueberzeugung oder Taktik stammt, ob sie den Weg vom Götzen- zum Gottesdienst führen oder nicht. Der Makel bleibt auf ihnen haften, daß auch sie nicht im Stande waren, dem reinen Christenthum zu dienen.

Tat-Twam.