Die Kritik
Wochenschau des öffentlichen Lebens
Berlin, den 17.Oktober 1896
III. Jahrgang Nr 107

Provinzialbriefe
XIV. Tragifarcen

Man mahnt uns mit feierlichem Ernst, nicht leichtfertig zu witzeln über den politischen Karneval, mit dem ein maskenfrohes Volk eben die Welt der Reporter und Kannegießer aufgeregt hat. Man beschwört uns, die franco-russische Alliance, die unter dem strahlenden Glanz von Papierblumen und Celluloidlämpchen die Weihe der Kraft erhalten habe, in allen ihren Gefahren gebührend zu würdigen, und den* weisen Warnworten der Propheten des alten Bismärkischen Bundes zu lauschen, die uns da erzählen, wie alles, seitdem die Hand des Einzigen zur Lähmung verurtheilt, erloschen und vergangen sei, was seine geniale Kunst errichtet, wie trotzig und fürchterlich sich erhoben, was die starke Faust seines Geistes niedergehalten und gebändigt. Die kindliche, müßige Einbildungskraft aber, die in Erdtheilungen und Völkerklitterungen ein sinnreiches und auf die Mehrung geographischer Kenntnisse immerhin ersprießlich wirkendes Geduldspiel findet, sollen wir uns zu eigen machen, und die Gelegenheit wahr nehmen, die ihre üppige Bethätigung gestattet.

Es ist eine starke Zumuthung für die Verständigen und Ruhigen, aus den flüchtigen Exaltationen eines Festes unsere Einsicht und Erkenntniß zu gewinnen, wenn wir uns selbst dazu verstehen würden, den Berichten zu trauen, die arme gehetzte unter dem Zwang hastiger und unendlicher Arbeit nervös überreizte Drahtler (wenn diese Eindeutschung der telegraphischen Korrespondenten gestattet ist) zusammengeahnt haben, und die der natürlichen Verwechslung zum Opfer fallen, die Weltgeschichte für erregt zu halten, weil sie selbst erregt sind. Indessen die politische Wetterkunde wäre ein leichtes Geschäft, wenn sich die Ereignisse so ge-

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räuschvoll auf offenem Markte ankündigten und uns** zu bequemeren und genaueren Uebersicht komfortable Tribünen errichtet würden, wenn die huschenden Momentsensationen, von denen alle Zeitungen voll sind und alles Bierbankgeschwätz, zugleich das Bedeutende, das Bleibende, das Folgenschwere wäre. In Wahrheit wird niemand so sehr betrogen, wie der, welcher nach den stürmischen Aufwallungen, die die für den gemeinen Begriff wichtigen und faßlichen sei's lustigen, sei's entsetzlichen Morithaten erzeugen, den Gang der Entwicklung glaubt deuten und künden zu können. Der Affekt ist der allerschlechteste Weißsager, und weder in epidemischer Festesstimmung noch im Entrüstungsdelirium, noch im Klageweibergeheul treibt man keimfähige Politik. Wie in der gewerblichen Produktion entscheidet auch in der Politik die harte, zähe und besonnene Arbeit. Mit Hurrah- und Pfuirufen zeugt man weder Maschinen noch geschichtlichen Fortschritt. Die Werktagspolitik nicht der Sonntagsrausch schafft wahrhafte Werthe.

Wir haben uns gerade in den letzten Jahren so oft durch die Exstasen des Gefühls, die die Oeffentlichkeit zu einem Irrenasyl für Unruhig-Kranke zu machen scheinen, auf die beschämendste Weise dupiren lassen, daß wir endlich uns entschließen sollten, nur im nüchternen Zustande zu politisiren. Ein Staatsmann wurde ermordet und ein wilder Kinderkreuzzug wider den Umsturz ward entfesselt. Die Fluth ebbte und der „Feind”, der kaltblütig arbeitete, war stärker denn zuvor. Der Reichstag weigerte einem vergötterten Staatsmann eine Huldigung, sofort fegte ein Entrüstungssturm über die Lande, der indeß nur einige morsche Bäumchen im Forst der Entrüsteten hinwegfegte. Bald war's wieder stille, wie zuvor. Ein Fürst spricht ein auffälliges Wort, alsbald stehen die erregten Zeichendeuter zu Haus, die jede fünf Minuten den Anbruch einer neuen Aera in flammenden Predigten überschwänglich ankünden. Die Entwicklung gleitet ruhig über den Gedankenstrich der neuen Aera hinweg. Große Massen drängen sich in patriotischer Erhitzung durch beflaggte und illuminirte Straßen, vaterländischen Siegesfeiern hingegeben, schrill gellt ein Weckruf über sie hin, sich zu vereinen gegen die Rotte, welche selbst die heiligsten Güter und Namen der Nation zu schmähen und zu beschmutzen sich erdreisten. Nun meint man, ist das letzte Stündlein der Frechen gekommen, und selbst die stillen Freunde der Rotte grollen der Unklugheit und Taktlosigkeit, die eine gute Sache durch überflüssige Verletzungen patriotischer Gefühle schädige. Ein Weilchen darauf wird im Lande gewählt, und der zu Boden Entrüstete zieht lächelnd den Sieg aus der Urne. Nein, man soll sich erst der hysterischen Aufregung entledigen, ehe man sich auf den Dreifuß setzt. Alle diese Sensationsfälle, welche die aufgepeitschten Nerven zu Weltbedeutsamkeiten umlügen, werden von der trügerischen Höhe rasch in tiefste Vergessenheit gestürzt. Es sind die Hochstapler unter den Geschehnissen.

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Der Arbeit gehört die Zukunft auch in der Politik und nicht der Sensation, die schon nach wenigen Monaten wie ein lächerlicher Schwank aus altersgrauer Zeit erscheint. Auch von der russisch-französischen Verbrüderungsoperette, die ernst zu nehmen man uns so inständig ersucht, wird nicht viel mehr übrig bleiben als die ärgerliche Verdrießlichkeit der Franzosen, daß sie so thöricht gewesen, die Schelmerei für ein erhabenes Schauspiel großen Spiels zu halten. Die Scham wird kommen und der Ekel. Das schließt nicht aus, daß die in Frankreich aufgeführte Tragifarce, die eine Woche lang die Welt mit ihrem Lärm erfüllt hat, voll üblen Nachwirkungen gefolgt sein kann, und deshalb müssen wir uns zwar nicht dazu verstehen, den Esel für einen Löwen, die posse für ein Weltdrama zu halten, wohl aber verlohnt es sich, der Posse eine ernsthafte Kritik zu widmen, womit klärlich die Posse selbst nicht ernsthaft wird.

Wie unglaublich schnell die Sensationen vergessen werden, von denen man im Augenblick wähnt, daß sie unauslöschlich seien, dafür giebt es kein besseres Zeugniß als gerade die französische Zarenepisode. Als etwas Neues, Unerhörtes empfand man sie, und doch war es nur die prächtiger inszenirte und durch Kouplets und Balleteinlage vermehrte Wiederholung eines alten Ausstattungsstück, in dem sich vor wenigen Jahren dieselbe Welt der Sensationsepileptiker versah. Die Tage von Kronstadt und Petershof, die kaum hinter uns liegen, boten ein weit überraschenderes wenn auch nicht bedeutsameres Schauspiel. Damals, im Juli 1893, vollzog sich zum ersten Mal die unerhörte Synthese der Antithese, und die Verschmelzung von Marseillaise und Russenhymne zu einem zotigen Cancan-Chanson wirkte damals im ersten Augenblick in epigrammatischer Ueberraschung wie etwas besonders Bedeutsames. Es war schließlich doch ein unglaubliches Ereignis, daß der Zar im eigenen Lande stehend und entblößten Hauptes die sonst als hochverrätherisch-revolutionär verpönte Marseillaise anhörte als die selbstverständliche Höflichkeit, daß junge Zarenpaar auf seiner verspäteten Hochzeitsreise nach dem amüsanten Frankreich sich den Gebräuchen und Liedern des gastlichen Landes anpaßt. Cherbourg, Paris und Chalons sind nur durch quantitative Häufung imposant. Kronstadt und Petershof hatten die Originalität für sich. Im Uebrigen gleichen sich die 1830er Fest-Alliancetage denen des Jahres 1896 wie die Kopie dem Original. Sämmtliche wesentlichen Einzelheiten kehren wieder. Damals wie heute schwelgte man in schwärmerischsten Liebesbeteuerungen, denen die französische Oeffentlichkeit mit ergiebigen Textausdeutungen und Textkorrekturen nachzuhelfen und den bindenden Werth eines Heirathsversprechens beizulegen suchten. Von Kronstadt hatte der inzwischen gestorbene Alexander III. an den inzwischen ermordeten Präsidenten Carnot

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telegraphirt „Die Anwesenheit des glänzenden französischen Geschwaders vor Kronstadt ist ein neues Zeichen für die tiefen Sympathien, «qui lient la France à la Russie»” und in Paris verwandelte man dieses einseitige Liebesbekenntniß, das nur das Echo nicht die Erwiederung des Liebesantrags ist, ins Gegenseitige um, indem man mit einer genialen philologischen Kenjektur las: »qui lient la France et la Russie«. Es zeigte sich bald, daß trotz der philologischen Nachhilfe kein Heirathsversprechen da war, und daß Frankreich sich in die Rolle der sagenhaften Miß hatte drängen lassen, die in jeder harmlosen Wendung einen Antrag hört. Nicht viel anders steht es mit den drei mäßig effektvoll gesteigerten Trinksprüchen, die Zar Nikolaus II. in Charbourg, Paris und Chalons gehalten hat. Er ist allmählig lebendiger und wärmer in seinen Anspielungen geworden, er ist von der Freundschaft und dem Bande zur Waffenbrüderschaft aufgestiegen, aber auch im Moment der größten Wärme sprach er nicht eigentlich von Waffenbrüderschaft, sondern von dem recht unverbindlichen Gefühl der Waffenbrüderschaft: die ersehnten Stichworte Vertrag und Alliance fielen nicht. Der Zar oder der Zarismus besitzt etwas von der Ehrlichkeit des Mannes, der seine Freundin nicht betrüben und doch nicht lügen möchte und der deshalb auf die leidenschaftliche Frage: „Liebst du mich?” ausweichend antwortet: „Ich habe dich lieb”. Da kein Grund ausfindig zu machen ist, warum es nicht offen eingestanden werden solle, wenn in der That ein beide Theile befriedigender Vertrag zwischen Frankreich und Rußland bestünde, so geht für jeden Klarsichtigen hervor, daß der welthistorische Papierfetzen nur in den Einbildungen und Vorspielungen der französischen Fabrikanten der öffentlichen Meinung besteht. La France wird aus dem einseitigen Liebesrausch schon am Lendemain mit der niederdrückenden Entdeckung erwachen, daß sie eine – unverstandene Frau sei.

Dabei ist es durchaus nicht nöthig zu leugnen, daß Zar Nikolaus persönlich für Frankreich Sympathien hat, wir billigen diese Sympathien auch bereitwillig der deutschen Frau Gemahlin und namentlich Olgachen, dem Zarenbaby zu. Es wäre ja geradezu unnatürlich, daß die Exzesse der französischen Volksbegeisterung nicht einigen Eindruck gemacht haben sollten, obwohl der schwächliche Mann nicht allzu vergnügungsfähig zu sein scheint. Noch liegen für den Zaren nicht die schönen Tage der Freiheit außerhalb des Spielraums der Erinnerung und der – Wiederholung, da er im japanischen Theehause beinahe dem Säbel eines Eifersüchtigen zum Opfer gefallen wäre. Warum sollte ihm Paris nicht gefallen, das jeder liebt. Selbst die majestätische Sicherheitssorge hat der Zar vielleicht gelegentlich vergessen, zumal da die Polizei liebenswürdig genug war, nicht das kleinste anarchistische Attentat zu dulden.

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Bisweilen fühlte er sich wohl als ein Mensch unter Menschen, und selbst die kleine Miniaturnachahmung des Chodynskoifeldes*** – es wurden in Paris nur ein paar hundert Menschen im Gedränge ramponirt – war nicht geeignet, die gemüthliche Stimmung zu beeinträchtigen. Indessen was hat diese persönliche Laune, selbst wenn man sie noch so hoch tariren mag, mit der Politik zu thun, abgesehen davon, daß das Gefühl Nikolaus II. auch wieder angenehm berührt sein kann, wenn er sich in Darmstadt, dieser Stadt, in der man nur dann ein Dutzend Menschen auf den Straßen sieht, wenn ein Kaiser kommt, oder der Landesvater stirbt, von den Strapazen der französischen Tage ausruht und in dem Behagen solcher Rast nur mit einer gewissen Angst an den Trubel zurück denkt. Die Reaktion nach übermäßigen Vergnügungen äußert sich leicht in einem Widerwillen gegen diese Vergnügungen selbst und deren Arangeure. Aber politisch von Einfluß ist weder das eine noch das andere Gefühl. Das zaristische Russland braucht nur das Gespenst eines russisch-französischen Bündnisses, nicht das Bündnis. Sie bedarf des Gespenstes, um Europa im Schach zu halten und – einen stets bereiten Geldborger zu gewinnen. Und damit haben wir das Zentrum des ganzen Problems erreicht.

Mir einer gewissen Bewunderung haben auch klügere Leute die Geschicklichkeit der französischen Politik hervorgehoben, die es zu Wege gebracht habe, daß Frankreich aus seiner bisherigen Isolirung erlöst sei und wenn nicht einen formellen Bundesgenossen, so doch einen werthvollen Freund gewonnen habe. Man erkennt es als einen großen Erfolg an, daß der russische Despot das junge republikanische Gemeinwesen als gleichberechtigt behandle, daß der Feudalismus Halb- und Ganzasiens wenigstens auf der Durchreise vor der freien, republikanischen Republik Bourgeoisie kapituliert hat, wie denn in der That aus einem Theil der französischen Presse der ganze Stolz des Parvenus hervorleuchtet, in die vornehme adlige Gesellschaft zugelassen zu sein. Das sind in Wahrheit kleine Erfolge, aber nur für den, der nicht sieht, daß durch staatsmännische Klugheit mühelos weit größere Erfolge zu erzielen waren. Kleine Erfolge aber, die den größeren verhindert haben, sind Misserfolge. Frankreichs Politik ist nie so thöricht gewesen, wie jetzt. Es hat sich wie eine Dirne angeboten. Und wenn man vielleicht noch eine Dirne achtet, die sich bezahlen läßt, so niemals eine, die bezahlt.

Frankreich hat in der Gier, einen Verbündeten zu gewinnen, völlig übersehen, daß es die Möglichkeit hatte, einen formellen Vertrag von Russland zu erzwingen, ohne sich etwas von seiner Würde zu vergeben, ohne die prunkenden Verführungsfeste und die verschwenderischen Brautgeschenke. Es hat in dem blinden Schwärmen des Bewusstsein verloren, daß es eine Macht sei, daß es dem Russen mehr zu bieten habe, wie dieser ihm, daß der Ge-

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liebte nicht leben könne, ohne die Hingabe Frankreichs. Russland muß in dem Augenblick finanziell zusammenbrechen, wenn Frankreich seine Hilfsbereitschaft versagt, und es ist eine kaum verständliche Verblendung, daß Frankreich diese günstige Konjunktur nicht benutzt hat und im stolzen Gefühl seiner Unentbehrlichkeit die Vertragsbedingungen diktirt hat. So aber ist es wie ein geiles Bettelmädchen gekrochen, um die Gunst des Starken flehend.

Der Erfolg der Kronstadter Verbrüderung ist noch unvergessen. Unmittelbar darauf präsentirte Russland eine Anleihe von mehreren Hundert Millionen, die das verliebte Frankreich 7 1/2 Mal überzeichnete. Freilich als dann der Kurs rapid sank, war Frankreich klug genug, die gezeichneten Stücke nicht abzunehmen, und der russische Finanzminister war genöthigt, 200 Millionen seiner Anleihe zurückzukaufen, um den Kours nicht ins Wesenlose stürzen zu lassen. Der finanzielle Epilog wird auch als Pariser Fest-Alliance-Posse auf dem Fuße folgen, Frankreich wird wieder für den theuren Mann, der das Gefühl der Waffenbrüderschaft hat, Milliarden zeichnen, möglicherweise durch einen Kourssturz wieder ernüchtert werden und lieber Reugeld zahlen statt die enthwerteten Papierchen abzunehmen. Dann wird es zur Besinnung kommen, daß all die kostspieligen Liebesbezeugungen umsonst verthan seien, und daß Zar Nikolaus, Frau und Tochter nur zu dem Ende nach Paris geschleppt habe, um Millionen und Milliarden in den Tresors Frankreichs locker zu machen. Eine Milliarde ist ja selbst für einen Zaren eine Verbeugung vor der verhaßten Republik werth. Und wenn denn eines Tages doch der Zusammenbruch Russlands erfolgt, wenn es für seine Anleihen keine Zinsen mehr zahlt und der Pariser Rentner ruinirt ist, dann wird der Zar auch nicht incognito mehr nach Paris zu kommen wagen. Warum hat man aber auch nicht in den Pariser Russentagen Transparente zur Illumination verwandt, in denen eine Zahl in leuchtender Schrift prangte, die Summe der russischen Staatsschuld: 1270111400 Rubel Metall, 3158049408 Rubel Papier, 2429600 Pfund Sterling, 539125500 Frs. Sagen wir rund 15 Milliarden Mark und das ist noch eine ältere Schätzung. Lieblich hätte sich die Hinzufügung der französischen Staatsschuld – 30 1/2 Milliarde ausgenommen, und die Alliance der französisch-russischen Staatsschulden hätte dann auch der größte Skeptiker nicht geleugnet. So ist Frankreich dupirt, selbst wenn es einen Vertrag gewonnen hätte; denn es konnte ihn auf billigere und anständigere Weise erlangen. Es hat den zweifelhaften Erfolg erkauft mit dem Verlust der Achtung Europas, so weit dieses Träger der Kultur ist. Es lastet auf ihm die tragische Schuld, den einzigen Feind Europas gestärkt zu haben, und es entsühnt nicht, wenn die Mitschuld ein anderer trägt. Wie weit aber ist das französische Volk an der

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Huldigung für das Kosakenthum betheiligt? Die Frage ist schwierig zu beantworten, die Berichte mit ihren Uebertreibungen und Fälschungen lassen im Stich. Im wesentlichen werden die Elemente an der chauvinistischen Posse betheiligt gewesen sein, die überall gegenwärtig sind, wo vaterländisch Hoch geschrien wird: das denkträge Kleinbürgerthum und die Halbwelt beiderlei Geschlechts. Es ist ja eine europäische Kalamität, daß wir immer noch ein Publikum gerade für die politischen Spektakelstücke niedrigster Sorte haben. Der Politik geht es nicht anders wie der Kunst, nur soll man sich hüten, Publikum und Volk zu verwechseln und dann dünkelhaft das aufgeklärte Ich mit der blinden Masse konfrontiren. Es giebt ein Volk für die große Politik, wie es ein Volk für die reine Kunst giebt. Darf man sich trösten, daß das französische Volk in seinem Edelbegriff unberührt geblieben ist? Die tapferen Proteste, die selbst in dem allgemeinen Delirium gewagt wurden, deuten in diese Richtung. Zu dem darf man nicht vergessen, daß die Franzosen das klassische Volk des Lustspiels sind, die, um nur Komödie zu haben, im Nothfall sich selbst als Objekte darbieten.

Welche Fülle von Witz und phantastischen Humor strömte aus diesem Zusammenstoß der modernsten und der vermodertsten Weltanschauung, wie üppig konnte sich der satirische Spaltspitz in den Kontrast von Republik und Despotie, vom Monarchismus und Bürgerlichkeit, von Freiheit und Knechtschaft entwickeln! Lohnt nicht schon deshalb die Komödie? In der That ist es eine auffällige und nachdenklich machende Erscheinung, daß trotz aller ausschweifender Begeisterung der französische Witz keinen Augenblick pausirt hat. Man lebte ein Feuilleton, eine Karikatur, eine Parodie. Ein Journalist, der erzählte, er sei während der Russentage nicht aus dem Frack herausgekommen, erhielt als Tröstung den Calembourg l’habit pour le Tzar. Sollte nicht am Ende doch nur das Gewand russisch gewesen sein? Jedenfalls wäre es in Deutschland in einer derartigen Hochfluth vaterländischen Enthusiasmus undenkbar, daß ein Blatt, das seinen ganzen Raum mit den gesinnungstüchtigsten Iubelschilderungen anfüllt, die folgende zeichnerische Bosheit aufnimmt, ein Zwiegespräch zwischen Frau und Mann:

Qu' est-ce que tu vas faire à la revue?
Le radical: Voilà bien les femmes! Tu oûblies que j'ai été colonel pendant la commûne.

Das sieht fürwahr wenig nach Zaromanie aus, dieser blutige Hohn auf die Decadence des Radikalismus.

Will man das Phänomen ganz verstehen, so muß man auch daran denken, daß in Frankreich die Elemente durchaus nicht gering sind, die dem Zarismus eine Förderung ihrer reaktionären Interessen erblicken. All die Monarchisten, Klerikalen, die Helden von Panama, die Häupter der kapitalistischen Korruption, sie alle

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schüren im Volke geflissentlich den Zarenwahn, um für ihre Zwecke Raum zu gewinnen und (tout comme chez nous!) den Dämon des Umsturzes zu zwingen. Schließlich ist in der That Frankreich genöthigt, aus seiner Isolirtheit herauszustreben. Mann kann ohne Weiteres annehmen, daß im Volke die Friedensinschriften bitter ernst gemeint waren.

Das Volk sieht im Russen nicht den Mittler der Revanche, sondern den starken Hausknecht, der das schutzlose Heim vor den lauernden Räubern behüten soll. Der Irrthum besteht nur darin, daß dieser Hausknecht selbst das Ausplündern besorgt.

Frankreichs verhängnißvolles Spiel hat für das Land selbst nur unerwünschte Wirkungen. Indem es sich dem offiziellen Russland an den Hals warf, hat es die Sympathien der Russen verloren. Es ist zum Aberglauben der russischen Bauern hinabgesunken, die im Väterchen den irdischen Heiland verehren. Frankreich will durch das Bündniß mit einem Lande siegen, dessen kulturelle Elemente nichts sehnlicher als eine Niederlage wünschen, weil sie von der Zerstörung der nationalen Form Russlands für sich eine Rettung hoffen. Das ideale Russland liebt nicht das Frankreich, das dirnenhaft dem offiziellen Rußland seinen Schoß und seine Börse öffnet, es liebt nicht das Frankreich, das mit dem Despotismus Schlachten gewinnen will, sondern das freie revolutionäre Volk der Ueberlieferung, das nur als Sieger über das offizielle Russland als Retter des russischen Volkes erscheint. Darum, und das ist vielleicht die wesentliche und völlig übersehene Erscheinung der Zarenposse, hat Frankreich die Sympathien des modernen Russlands durch die französisch-russische Verbrüderung verloren: Frankreich mag zufrieden sein mit den mühsam, geheizten und gebeizten Phrasen Väterchens, es mag mit dem Zaren und seiner Dienerschaft fraternisirt haben, auf einen Erfolg, den einzig werthvollen Erfolg kann es sich nicht berufen; Es hat nicht die winzigste**** Sympathiekundgebung des russischen Volkes erhalten, das Träger der Kultur ist. Denn das erkennt, wie Frankreichs zaristische Politik nicht nur die Stagnation Russlands sondern auch die Reaktion des ganzen übrigen Europas stärkt.

Die Tragifarce wird dergestalt Deutschland nun den erwünschten Vorwand geben, die Nothwendigkeit neuer Rüstungen dem Volke plausibel zu machen. Die deutsche Regierung könnte geradezu den russischen Kaiser ersucht haben, in Paris etwas mehr Wärme aufzuwenden, weil der deutsche***** Michel im Gegensatz zu dem idealen Michael der Allegorie keine Kleidung liebe, die mit Adlern und eisernen Kreuzen bedruckt ist, weil er insonderheit als Landratte den schwärmenden Marinephantasien keinen Reiz abgewinnen könne. Diese ganze Rüstungsüberspannung, an der der arme radikale Liberalismus verzweifelt sein Hirn zerreibt, ist ja eigentlich nichts als eine, z.B. von den Talarsozialisten Naumann'scher Richtung beliebte,

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Vorwegnahme des erträumten Zukunftsstaates mit seiner idealen Bewegungsfreiheit und dem perpetuum mobile der Produktion. In jenem Idealzustand werden wir so viel Schiffe und Kasernen bauen dürfen, wie wir wollen, und die Grenze wird nur durch die physische Leistungsfähigkeit gegeben. Heute, in dem System der kapitalistischen Anarchie, wirkt jede einseitige Steigerung bestimmter Aufwendungen als Hypertrophie und steigert die stete Krisengefahr, in der wir leben. Unsern Herrschenden aber, die den Zukunftsstaat hassen, produziren militaristisch***** *ganz im Maßstabe dieses Zukunftsstaates, weil sie Heer und Flotte brauchen, um den enterbten Sprößlingen der besitzenden Klasse eine Versorgung und dem inneren Feind eine Gegenmacht zu schaffen, ohne freilich einzugehen, daß jede neue Steigerung den gefürchteten Augenblick näher bringt, wo der gewappnete Michael und der innere Feind identisch sind.

In dieser Weise kann man auch in dem reaktionären Narrenstreich Frankreichs wieder jenes wunderbare Doppelspiel erkennen, das die Hegel&apso;sche Dialektik zu Erklärung der geschichtlichen Entwicklung angewandt hat. Die Krisen werden zugespitzt und damit ihre Ueberwindung.

Diejenigen freilich, die nicht die Politik des Teufelsadvokaten treiben, werden nach Mitteln suchen müssen, um die Ausbeutung der neuesten französischen Tragifarce zu reaktionären Zwecken zu verhindern. Es wird ihnen nicht allzu schwer werden, nachzuweisen, daß es mit den Russenfesten genau so steht wie mit dem Delegirtentag der nationalliberalen Partei: es ist alles beim Alten geblieben und in dem Alten birgt sich der zerstörende Schwamm. Daß Rußland das Uebergewicht über Europa erlangt hat, ist ja nicht seit gestern und vorgestern eine Thatsache, mit der man rechnen muß.

Wir wissen das seit dem Frankfurter Frieden. Ob der französisch russische Zweibund wirklich geschlossen ist oder nicht, ist angesichts dieses fait accompli eines Vierteljahrhunderts gleichgiltig. Vor 1870 war die Frontstellung Europas gegen Russland geschlossen und einheitlich. Seitdem geht ein Riß durch die Liga der europäischen Kulturvölker. Als 1867 der Zar – mit König Wilhelm und Bismarck – nach Paris zu Weltausstellung kam, da wies die Revue des deux mondes auf dies seltsame Zusammentreffen hin, indem sie dem Zaren folgende Worte widmete: „Un tsar russe, le dernier représentant du depotisme des temps barbares, venant goûter en passant aux badinages de la vie parisienne si peu d'années après les guerres que nous avons faites à la Russie et aprés la dernière croisade que nous avons essayé d'organiser en faveur de nos vieux et éternels amis les Polonais!” Damit vergleiche man die Begrüßungsartikel der Pariser Presse aus dem Oktober 1896! Welche Wendung durch – Bismarcks Fügung…

Tat-Twam

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* im Druck: „deren ”

** im Druck: „nur”

*** Chodynkafeld, Chodynskoje pole
Bei einer Massenpanik während eines Volksfestes anlässlich der Krönung Nikolaus' des II. kamen hier im Mai 1896 1389 Menschen ums Leben.

**** im Druck: „einzigste”

***** im Druck: „russische”

****** im Druck: „militarisch”