Die Kritik
Wochenschau des öffentlichen Lebens
Berlin, den 5. September 1896
III. Jahrgang Nr. 101

Provinzialbriefe
X. Fürsten-Visiten

Se. Excellenz der Hofmarschall von Kalb kommt gegenwärtig aus de Echauffement nicht heraus. In Blitzzügen eilt er von Land zu Land und entwirft die tiefsinnigen, schicksalsschweren Empfangsordnungen, an monarchischen und republikanischen Höfen erfüllt er alles mit seiner fieberhaften Thätigkeit, Heuschreckenschwärme von öffentlichen und geheimen Polizisten umflattern ihn, denen die unmögliche Aufgabe obliegt, Verbrechen vorzubeugen, — um jede Schienenschraube mußte er sich bekümmern, — Ehrenkompagnien abrichten, die russische Nationalhymne einstudieren, den Fürsten und Völkern die Tanzmeistergeberden ergriffener Herzlichkeit beibringen, den Zeitungen bedeutsame Begrüßungsartikel mit weltgeschichtlichen Gesichtspunkten souffliren, die Auswahl sinniger Gastgeschenke leiten, die Gegensätze von asiatischem Despotismus und europäischem Republikanismus sänftlich überbrücken, Bälle, Paraden und Festopern arrangiren, Trinksprüche und Friedensversicherungen ausarbeiten, und über all der wirbelnden Arbeit darf er nicht vergessen, aus seinem Toiletten-Necessaire unablässig Moschus zu zerstäuben, um den unausrottbaren Leichengeruch zu überschreien, der seinem Herrn auf dem Chodinnskoye-Felde eingewachsen ist, als

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Wär's ein Stück von ihm. Kann man es dem vielseitigen Kalb da wohl verargen, wenn er sich des Nachts in einem Mußeaugenblick vor dem Schlafengehen seinen Karl von Moser heraussucht und in seinem Büchlein „Der Herr und der Diener” folgende 1759 geschriebene Stelle schmunzelnd liest: „Alle Regenten prangen in dem Prädicate selbst regierender Herrn, sie eiend es aber alle so wenig, als wenig alle, so in Harnisch gemalt werden, Helden seiend.” Sehr richtig, geruht Se. Excellenz gähnend zu bemerken und, um einen schönen Gedanken in den Traum hinüber zu nehmen, fügt er hinzu: Es ist doch ein Glück, daß der Kerl, der Friedrich Schiller, mir Unsterblichkeit verliehen hat, so habe ich es doch erlebt, den Herrn der Welt zu spielen — eine sehr amüsante Komödie …

Der Zar reist und Se. Excellenz der Hofmarschall v. Kalb herrscht! Das arme Mädchen aber aus dem stillen, friedsamen Darmstadt, muß sich von ihm die brilliantenscharrenden Gewänder anziehen lassen, die unsere Millionärsgattinen dann gemäß den Zeitungsschilderungen nachschneidern lassen, und dabei strömt gerade aus ihnen jener unerträgliche Leichengeruch. Der kümmerliche Gatte erhält von ihm die lächelnden Mienen vorgeschrieben und doch läßt ihn der Gedanke nicht los, es möchte sich durch die Panzerwände seiner lebenden Stahlkammer, welche seine Leibwache bildet, die Hand des Rächers zwängen. Eine Nordpolarfahrt ist ein Sonntagnachmittags-Vergnügen gegenüber einer Zarenreise. Mit ein paar Männern und einem hölzernen Schiff zieht ein Nansen in unbekannte Ferne, in die totbringende Wildniß des Eises und fünf ewige Jahre währt die Fahrt: Wie lächerlich gering ist der Aufwand an Geld und Menschen bei solcher Schicksalsfahrt, im Vergleich zu dem unübersehbaren Apparat, der in Bewegung gesetzt wird, wenn der Zar sich auf die müßige Visitenreise etlicher Wochen begiebt durch Länder, die von der Cultur des Cursbuchs bis in den letzten Winkel erschlossen sind! Die lebensvolle Civilisation scheint dem mächtigen Fürsten ein wilderes Land als die fremde Oede ungebändigter Elemente, und die Reise unter Gottes Schutz ist offenbar selbst für den frommen Gesalbten des Herrn gefährlicher, als die abenteuerliche Entdeckungsjagd unter dem Schutze der Idee für das gottlose Weltkind. Das aber klärt das Ge-

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heimniß: Das Schiff des weltentdeckenden Helden heißt Fram, Vorwärts, es ist das geweihte Wunderschiff, das nicht untergehen kann, weil es der Weltgeist beflügelt. Der Zarismus hingegen treibt rückwärts auf verfallendem Wrack, das auch das Uebermaß wehrhafter Bemannung nicht zu retten vermag, und auch nicht die üppig geschmückten Häfen, in die es sorgsam feierlich gelootst wird.

Unsere Fürstenreisen geben heute nicht einmal mehr dem Anekdotensammler Anregung. Es sind pomphafte Nichtigkeiten, erstarrt in steifen leeren Formen, kostspielige Unternehmungen, die auch dann unfruchtbar sind, wenn sie vorübergehend die politischen Geschicke zu beeinflussen scheinen. Die fürstliche Menschlichkeit darf sich nicht mehr frei geberden, je mehr ihre Macht innerlich aufgelöst wird, desto zeremonieller und steifer tritt sie nach außen auf, und nur die Fürsten, die so viel Humor haben, der Komödie des eigenen Verfalls lachfrohe Zuschauer zu sein, wie der fidele englische Thronerbe, kommen auf die Kosten ihrer Stellung und haben sich von Se. Excellenz dem Hofmarschall v. Kalb und seiner Formentyrannei emanzipirt. So sind die höfischen Visiten-Reisen wie die offiziösen Depeschen, die in ewig gleichen Wendungen von all dem Zauberglanz den neugierigen Halbmenschen der modernen Kultur zu erzählen wissen.

Verdrießlich, wie jede allzugroße Differenz zwischen dem Umfang der aufgewandten Mittel und dem Maß des Erreichten wirkt freilich solch hohle Geschäftigkeit. Indessen noch bedenklicher wäre es, wenn es sich nun wirkliche politische Geschäftsreisen handelte und dergestalt die Probleme der Zeit in Angriff genommen würden. Dann wären sie nicht nur Verkehrstörungen, sondern Verkehrsgefahren. Die politische Kinderwelt ist ja groß, die da andächtig wähnt, bei solche hohen Rundreisebesuchen würde die Zukunft der Völker entschieden, und zwischen Parade, Diner und Galaballet würden die Geister der Weltgeschichte gewaltig beschworen und der Zukunft neue Bahnen gewiesen. Am Ende würde gar die orientalische Frage, dieses erfurchtgebietende Mysterium, das die Diplomaten erfunden haben, um ihre Unentbehrlichkeit zu beweisen, zur Lösung gebracht!

In Wahrheit ist es ein thörichter Aberglauben, daß in Schloßunterhaltungen, Tischreden und Trinksprüchen Geschichte gemacht

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Es ist aber auch zugleich der Aberglaube der Bankerotteure zu wähnen, daß derlei möglich sei, wie etwa in Björnson's „Falliment” der vor dem Abgrund stehende Spekulant sich durch ein opulentes Diner und durch eine begeisterte Lobrede auf den potenten Geschäftsfreund zu retten sucht. Etwas von dieser Falliments-Taktik mag in der That die Spitzen der herrschenden Gesellschaft leiten, wenn sie immer mehr der Toastpolitik zu huldigen scheinen. Den gemeinsamen Feind werden sie schwerlich aus der Welt reden, indem sie sich selbst gegenseitig feiern. Und noch weniger werden sie sich aus der Welt zu reden geneigt sein, indem sie den Feind feiern, bei dem doch die Zukunft ist, wie auch sie fühlen. Es ist der größte Ruhm dieser konventionellen Höflichkeitsbezeugungen, wenn nach all dem prunkvollen Schaugepränge der alte kosmopolitische Nachtwächter sein boshaftes Sprüchlein hersagen darf: Die Glocke hat nichts geschlagen. Denn kündete sie eine Stunde an, sie würde sicherlich eine Zeit repetiren, die längst vorüber. Wir aber wollen vorwärts!

In einer Kulturepoche, in der die Völker sehnsüchtig darnach ringen, in sich selbst und unter einander nationale und internationale Rechtszustände zu schaffen, welche die klare, unzweideutige Bestimmung an die Stelle persönlicher Launen, Eingebungen und unberechenbarer Zufälle setzen und Ernst mit dem Humanitätsgedanken machen, muthet die feierliche Visitenpolitik mit ihren Heimlichkeiten und wichtigen Geberden an wie die schwerfälligen Hofkutschen inmitten der elektrischen Straßenbahnwagen und der behenden Zweiräder. Die moderne Verwaltungstechnik bedarf nicht der fürstlichen Reisenden und ihrer unverbindlichen geheimnißvollen Konferenzen, sie fordert einen höchsten Völkerbundesrath, der gewählt aus den nationalen Volksvertretungen, den Ausbau der internationalen Gesetzgebung zu vollziehen und über ihre peinliche Anwendung zu wachen hat, in freister Oeffentlichkeit und ungebundener Aussprache. Zum Mindesten sollten schon heute in regelmäßigen Zwischenräumen internationale Kongresse von unseren offiziellen Regierungen einberufen werden, auf denen die schwebenden Tagesfragen, wenn nicht zum Beschluß, so doch zu förderlicher Diskussion gebracht werden. Wenn nicht die Einsicht in die Lebensbedingungen der Zeit dazu veranlaßt, so sollte wenigstens das Bedürfnis bestimmend wirken,

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der immer mächtiger anwachsenden Nebenregierung einer internationalen Partei ein Gegengewicht zu bieten. Derartige Kongresse hätten in jedem Falle, selbst wenn gar kein praktisches Ergebniß zunächst herauskäme, die bedeutsame Wirkung, die Völker über die Tiefe und Schwere der internationalen und nationalen Fragen aufzuklären. Dann würde jener mithilfe Koulissenklatsch und die anspruchsvolle Geheimniskrämerei aufhören, und wenn verwandte oder befreundete Fürsten sich Besuche abstatten, so hätte das höchstens noch Interesse für die Fremdenblätter. Freilich würde dann auch die Möglichkeit sehr erschwert sein, die Völker spekulativ aufeinander zu hetzen, die nur im Dunkel der Unwissenheit den Hetzrufen folgen.

Die klägliche Unproduktivität unserer bürgerlichen Gesellschaft in der Staatsorganisation wird durch nichts schärfer illustrirt als durch die müde, feige Unlust, ihr eigenstes Gebiet, die formale Politik, international und national weiter auszugestalten. Die rein politischen Verfassungsfragen sind keineswegs gelöst. Ueberall ist eine den modernen Anschauungen entsprechende nationale Verschaffungsrevision nothwendig, aber der verfallende Liberalismus sucht sich in verhängnißvollem Irrthum sozial zu regeneriren, während die seinem Wesen allein entsprechenden rein politischen Aufgaben am Wege liegen bleiben. Anfangs der vierziger Jahre, als man in Preußen um die Verfassung kämpfte, wurde einmal der Liberalismus als die Vernunfterkenntnis definirt, angewandt auf die bestehenden Verhältnisse, möge diese politischer oder kirchlicher Natur sein. Es sei diejenige Richtung des Geistes, in der wir in gänzlicher Abstraktion von allem Historischen nach dem alleinigen Maßstabe des Vernünftigen das Gewordene, das Daseiende beurtheilen, d.h. überall eines vernünftigen Grundes für dieses letztere uns bewußt werden wollen. Die Menschheit kranke an ihrer Geschichte, sie von dieser Krankheit zu heilen, sei die Aufgabe des Liberalismus. Man braucht diese vormärzliche Begriffsbestimmung des bürgerlichen Liberalismus nur zu lesen, um einzusehen, warum die glänzende Bewegung so jämmerlich geendet hat. Der Liberalismus lebt heute von der Krankheit, die er heilen sollte; er ist stolz darauf, historisch zu denken, statt antihistorisch zu sein. An Stelle der Vernunft

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Huldigt er die Anarchie der Realpolitik und er scheut so sehr davor zurück, donquichotisch gegen Windmühlen zu kämpfen, daß er selbst nicht in die kreisenden Schatten der Windmühlenflügel zu treten wagt, aus Furcht, von ihnen geschlagen zu werden. Man muß es erlebt haben, wie der gute bürgerliche Liberalismus in Deutschland Wochen hindurch über unverantwortliche Nebenregierungen wehklagt, ohne auch nur das Wort Verfassungsrevision zu nennen, und wie er dann freudestrahlend seine Thränen abtrocknete, als ihm versichert wurde, seine Lieblingsforderung der Reform der Militärgerichtsbarkeit werde trotz der Nebenregierungen auf Geheiß des Kaisers dem Bundesrathe und dem Reichstag unterbreitet werden. Anscheinend sind unsere Liberal-Freisinnigen der Meinung, mit formelpolitischen Programmwünschen sei kein Wahlgeschäft mehr zu machen, und sie haben vergessen, daß auch unsere Vormärzler für die Abstraktionen des Verfassungslebens mühsam begeistert und gewaltsam von ihrem ausschließlichen Interesse an dem Steigen und Fallen der Waarenpreise losgerissen werden mußten. Ob wir wohl noch eines Tages damit überrascht werden, daß unsere Liberalen mit dem Weckruf: Verfassungsrevision! Die Lande durchziehen? Unmöglich ist's nicht, nur werden sie nicht für eine liberale, sondern für eine reaktionäre Verfassungsrevision fechten, statt für Ministerverantwortlichkeit, für Beseitigung des Reichstagswahlrechts. Ebenso hat der Liberalismus am kirchlichen Gebiete nichts erreicht. Ja, die einzige einigermaßen imposante bürgerliche Organisation ist die katholische Kirche und ihre ultramontane Parteidependance. Sie vermag wenigstens noch zu repräsentiren und bei den katholischen Generalversammlungen ist die Regiekunst anzuerkennen, wenngleich in der zitternden Concilianz den verschiedensten Tagesstömungen gegenüber das antiliberale Centrum den liberalen Kulturkämpfern zum Verwechseln ähnlich geworden ist.

Noch schlimmer, wenn das möglich ist, hat sich der Liberalismus in der internationalen Politik seinen Feinden ausgeliefert. Statt die Vernunfterkenntniß transzendental zu verwirklichen, predigte er geradezu die Abschaffung der Vernunft und die Einführung des historischen Fetischdienstes. Die großartigen Ansätze internationaler Verkehrspolitik haben auf den anderen Gebieten des

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Völkerdaseins keine Nachfolger gefunden. Das Prinzip der Durchgangszüge und der Weltpostkarte findet keine Anwendung, wo es sich um die Lebensfragen der Nationen handelt. Da hat kein Zug Anschluß an den anderen, die Bahngeleise sind durch Zerstörungen und Hindernisse für Katastrophen wohl präparirt und die Telegraphendrähte sind in kleine Stücke zerschnitten. Das alterthümliche Gefährt der Fürstenvisiten und Ministerplaudereien vermittelt den Verkehr. Man konnte vordem nicht genug darüber spotten, daß man die innere Verwaltung stumpf und theilnahmlos an die Beamten auslieferte, als wenn man gar nicht an ihr interessirt wäre, und erst die Staatspädagogik von Generationen hat es in mühseliger Arbeit zu Wege gebracht, daß das Volk theilnimmt an der Verwaltung seines Geschicks. In der auswärtigen Politik hat hingegen der Liberalismus die Selbstentmündigung zum Dogma erhoben, er überläßt alles der Weisheit der Minister und Monarchen, höchstens daß er die beschaulichen Orakel der Auslandsredakteure der großen Zeitungen andächtig studirt. Eine wirkliche Theilnahme an der internationalen Verwaltung ist ihm versagt, und er erträgt diese Verurtheilung zum Zuschauer ohne Unbehagen. Wenn nur die Konjunktur seinen keinen Börsenspekulationen günstig ist! So verfolgt er denn sogar mit heiligem Ernst die zwischen Pferdespalieren sich hinziehende Europafahrt Väterchens, und in den Dünsten, die den hinter den Spaliren neugierig-erregt Spähenden um die Nasen wallen, betet er gläubig das Orakel an, das ihm die Zukunft kündet.

In früheren Zeitläufen hätte man wohl, um sich von der tragikomischen Weltherrschaft des Unvernünftigen zu erholen, den sehnsüchtigen Blick nach Frankreich gewandt, das die Deutschen längst das Herz Europas genannt hatten, ehe die Chauvins der Boulevards das überschwänglich preisende Wort für sich annektirten. In den Aufstiegszeiten der bürgerlichen Gesellschaft hatte man immer ein Volk oder ein Land, an dem man sich im eigenen Leide aufrichtete und erbaute. Bald war England das Ideal, bald Amerika, zuweilen auch deutsche Sturmhöhle der Freiheiten, nach denen man schmachtete, von dort sprühten die Feuergarben der

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Vernunft, das Alte, Morsche verbrennend und den Baumeistern des Zukünftigen das Arbeitsfeld erleuchtend. Heute können wir und an einem Musterland nicht mehr orientiren. Nachdem die Periode der nationalen Einigungen im Wesentlichen abgeschlossen, ist auch die nationale Vorbildlichkeit vorüber. Jetzt vermögen wir uns einzig an der reinen Idee und ihren nationalen Trägern, als dem Fels in der Brandung zu stützen. Und Frankreich hat die Führermission vielleicht am gründlichsten verloren. Wenn wir heute inmitten des sinnlosen Wirrwarrs der internationalen Politik nach dem Kompaß der Vernunft ausschauen, wenn wir aus dem lähmenden Wahnwitz, daß die Völker an den Lippen eines Despoten ängstlich hangen, angstvoll in freier Selbstbestimmung sich weises Recht zu schaffen, einen Ausweg suchen, dann dürfen wir von Frankreich am allerwenigsten das erlösende Wort und die befreiende That erwarten.

Die schlimme Zaromanie, von der Frankreich befallen scheint, ist allerdings nicht ganz so weit verbreitet, nicht ganz so würde- und geschmacklos, wie Frankreichs Verleumder gern glauben machen möchten. Auch außerhalb der radikalen und sozialistischen Kreise wird die Unnatur der Alliance des französischen Volkes mit dem offiziellen, in der Anarchie des Absolutismus befangenen Rußland empfunden und offen ausgesprochen. Man verhehlt sich keineswegs, daß Frankreich unter allen Umständen der Betrogene sein wird und es läßt sich auch keineswegs durch die mystischen Kannegießereien über die tiefinnerliche sympathische Blutsverwandtschaft zwischen der Revolution und der Knute beruhigen. Vielmehr herrscht dort weithin die klare Einsicht, daß man Rußland nichts bieten könne als seine Millionen und daß man dem russischen Freunde gerade genug sei, um ihm durch das Schreckgespenst eines möglichen russisch-französischen Bündnisses die Suprematie über Europa zu sichern. In Wirklichkeit zieht die politische Wahlverwandtschaft Rußlands eher zu dem reaktionairen Deutschland, als zu dem revolutionären Frankreich, und das Koquettiren des Despotismus mit der Marseillaise ist nicht als eine taktische Kriegslist, um die zärtlichen Verwandten, an denen schließlich doch das Herz hängt, nicht übermüthig werden zu lassen. An einem Sieg mit Rußland

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würde Frankreich zu Grunde gehen, mehr als an einer Niederlage gegenüber Rußland. Vielleicht erklärt sich der übergeschnappte Zarenkultus der französischen Chauvins gerade daraus, daß man im Grunde überzeugt ist, von dem Theuren verrathen zu werden.

Indessen, mag man die französische Zaromanie auch noch so gering veranschlagen, es bleibt genug des Unleugbaren bestehen, um von dem Wahn abzulassen, daß uns in Frankreich der Arzt für die europäische Völkerkrankheit entstünde. An den an sich begreiflichen und verzeihlichen Revanchegedanken verzehrt sich Frankreich und mit ihm Europa, das sich unter das Joch Rußlands beugen muß, weil es nicht gewillt ist, den wilden Halbasiaten mit vereinten Kräften unter seine Kulturherrschaft zu zwingen. Die Zarenreise beschreibt gleichsam die Fieberkurven des europäischen Patienten, und Genesung und neue rüstige Völkerarbeit ist weder in einem Lande, noch von der bürgerlichen Gesellschaft zu erhoffen. Wir müssen also abwarten und uns gedulden!

Tat-Twam.