Die Kritik
Wochenschau des öffentlichen Lebens
Berlin, den 8.August 1896
III. Jahrgang Nr 97

Provinzialbriefe
VI. Der Einbund

Paul Singer, der Präsident sozialdemokratischer Kongresse und Parteitage, gehört gewiß nicht zu den Männern, die das Kulturbewußtsein der Menschheit um neue Ideen bereichert haben, er ist nichts als ein Arbeiter im Dienste einer Kulturidee, wenn auch ein sehr geschickter. Er vertritt in der Sozialdemokratie die Selbstverständlichkeit des gesunden Menschenverstandes, jenes Element des Gleichgewichts, das unsere Neurastheniker langweilig finden mögen, auf dem aber doch schließlich die sichere Gewähr aller kosmischen Bewegung beruht. Ihm fehlt das züngelnde Temperament des leidenschaftlichen Revolutionärs, die kühne Entschloßenheit waghalsiger Gedanken, die quälende Selbstkritik des faustischen Skeptizismus, und die weichherzige Güte, die ihm nicht mangelt, mag in der rauhen Nothwendigkeit politischer Soldateska umkrustet sein, wie er auch wohl für all die interessanten und eleganten Nervenzuckungen unserer viellieben Sensitiven kein Organ hat und in den unverstandenden Männern nichts als deren Unverstand zu erkennen vermag. Weil sein in werthvoller Auffassung beschränkter bon sens Berlinischer Färbung und eine gewisse gediegene Vierschrötigkeit auch im eigenen Lager manchen verzärtelten Jüngling verdrießt, weil er außerdem den Ruf eines reichen Mannes hat, dessen Reichthum das Schicksal jeglichen Reichthums hat, in seiner Herkunft nicht den strengen Unsprüchen höchster Menschlichkeitsethik zu ge-

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nügen, so glauben die banausen oder korrupten Gegner der sozialdemokratischen Kulturbewegung gerade diesen Rassengenossen des Heilands als bequemes Gesäß ihrer polemischen Bedürfnisse benutzen zu sollen, und sie wärmen sich an der ungestümen Hoffnung, daß ein weltgeschichtlicher Prozeß dadurch überwunden werden könne, daß einer der in ihm agierenden Menschen fortgesetzt das Verbrechen begehe, seinen Reichthum für ideale Zwecke zu verringern. Daß sie bisher durch alle Erfahrungen nicht belehrt worden sind, daß dieser Paul Singer durch die Angriffe nicht im Mindesten in seiner Machtstellung erschüttert wird, ist erklärlich bei Leuten, die von der Selbsttäuschung und Täuschung zu leben gezwungen sind.

Wer aber den immerhin auffälligen Einfluß Singers wirklich verstehen und sich nicht mit den dummen Hinweis auf seine fabelhaften Millionen begnügen will, der muss sich die Mühe nehmen, einmal auf einen sozialdemokratischen Parteitrag den Mann als Präsidenten zu beobachten. Ich habe kaum jemals einen Menschen so erstaunlich über sich selbst hinauswachsen sehen, wie diesen Parteiführer in dem repräsentirenden Amt eines Kongreß-Organisators. Wir haben noch keinen Reichstagspräsidenten gehabt, der nur annähernd die Kunst des Präsidirens so beherrschte wie Singer. Mit einer Art jovialer Energie weiß er in nie versagender Treffsicherheit die spröden Waffen zu bändigen und zu lenken, sein gesunder Menschenverstand findet sich mit akrobatischer Gewandtheit rasch in der verzweifelten Abstimmungsklitterung zurecht und kaum je verläßt ihn das Taktgefühl der Objektivität. Bewundernswerth geradezu ist Singer jedoch in den kleinen offiziellen Ansprachen, den Thronreden, mit denen er die Tagungen der sozialistischen Parlamentssessionen schließt. Da zeigt sich wie man bedeutend wird durch die Größe der Sache, in er man wurzelt. Selbstverständlich erhebt er sich in solchen Ansprachen nicht über das Niveau feierlicher Alltäglichkeit, die allen offiziellen Emanationen eigen ist, aber er weiß die Phrase zu firnissen, daß sie leuchtet, seine Stimme, das Berlinische fast ganz abstreifend, erhebt sich dann zu größerer Fülle, das Blut steigt gleichsam belebend in die blassen Worte und das anämische Pathos, und immer formt sich ihm schließlich ein Wort von breiter Schlagkraft, eine Wendung in jener Mitte zwischen Trivialität und Produktivität, welche die Massenerfolge begabter Agitatoren erzeugt.

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So hat auch auf dem Londoner Kongreß der Sozialdemokratie gerade Paul Singer unter all den Festrednern in seiner kurzen Ansprache das glücklichste Wort gefunden, ein Wort, das keinen neuen Gedanken bringt, weder witzig noch tief ist, auch nicht einmal den Kern der Sache erfaßt, das aber doch in seiner funkelnden Augenscheinlichkeit von größter agitatorischer Triebkraft ist. Bismarck hat niemals eine genialere Trivialität gemünzt, als die, welche Singer auf der großen Friedenskundgebung im Hyde-Park in die Massen hinausrief: „Mögen die Bourgeois politische Bündnisse aller Art schließen, wir kümmern uns nicht darum, wir wissen, daß die Arbeiterklasse überall nur einen Bundesgenossen hat, ihre Arbeitsbrüder, und nur einen Feind, die Bourgeoisie. Gegenüber dem Dreibund von Deutschland, Oesterreich und Italien, dem russisch-französischem Zweibund müssen wir Vertreter der Arbeiterklassen den Einbund der internationalen Arbeiterschaft gründen.” Einbund – das klingt in der That zugleich wie eine Erlösung und ein Weckruf. Der Begriff bezeichnet keine Thatsache, er ist eine Hoffnung, und gerade deshalb wohnt ihm die Schöpferkraft des Zukunftgebärenden inne. Denn am Anfang war die Zukunft, und Zukunft schaffen ist der Zweck des Menschen. Freilich für Singer erscheint der Werth nur aus dem Glaubensbekenntniß seiner Taktik, nicht aus der Universalität der Kulturanschauung. Von der dreifachen Wurzel der Sozialdemokratie, der ethischen Gemeinschaft, der ökonomischen (zentralistischer Kollektivismus) und der taktischen (Klassenkampf) war ihm, indem er das Wort vom Einbund fand, nur die dritte bewußt, aus der allerdings die politische Machtstellung der Sozialdemokratie zumeist erwachsen ist. Indessen es hindert nichts, den Begriff des Einbundes im tiefsten, universalsten Sinne zu fassen als das „Sesam öffne Dich” der Zukunft, in der wir die gewaltigste ethische Errungenschaft der Menschheit nach dem Gesetz der ökonomischen Entwickelung mit dem Heer der durch den Klassenkampf Geworbenen als den Einbund der Kultur vollziehen werden. Hier leuchtet uns der einzige Weg zu jener ewigen Zukunft, von der nur die Thoren wähnen, daß sie jemals ein Abschluß sein könne. Zukunft, nichts als Zukunft und immer wieder Zukunft ist's, die wir suchen, in dem unendlichen Strom des Erfüllens, das zugleich das Nichterfüllen ist, und alle Qualen der Gegenwart erwachsen daraus, daß man uns diesen Weg,

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auf dem wir die Nothwendigkeit und unseren Menschenberuf vollstrecken müssen, versperren will mit Glasscheiben und Stacheldraht, und kunstvoll stinkenden Gräben und Schreckschüssen, und Vogelscheuchen wie dem läppischen Gespenst einer in fauler Wunschlosigkeit erstarrten Zukunft. Und deshalb sehnen wir uns nach dem Einbund, der stark genug ist, die Hindernisse fortzuräumen, damit wir endlich in inniger Gemeinschaft das Thor der Zukunft durchschreiten können, nicht als ob wir damit glaubten, am Ende unserer Mühen zu sein, sondern weil wir uns bewußt sind, daß wir dann erst vermögen zweckbewußt dem Willen der Kultur zu dienen, und die schwere Arbeit, die mit dem Sieg des Einbunds erst beginnt, nicht endet, sinnvoll und fruchtbar zu verrichten. Und deshalb gelten alle unsere Hoffnungen dem Gedeihen des Einbunds, den wir um so eifriger idealistisch ausschmücken, je widriger uns die wirren Gauklerkünste der diplomatischen Mißgeburten der Zwei- und Dreibünde erscheinen.

Es ist sicher, daß unsere Auffassung von dem Einbunde sich ebenso sehr von dem Singerschen Schlagwort entfernt, wie sein idealer Begriff von der fragmentischen Verkörperung in dem Londoner Kongreß und seinen Hintersassen, aber die Entfernung ist doch nicht so weit, daß sie zur Feindseligkeit stimmen könnte. Im Gegentheil: für uns sind alle, noch so kümmerlichen Erscheinungen dieses Einbundstrebens durchaus wichtige Vorgänge unserer Zeit. Mag das Menschenmaterial, das unserer Idee dient, noch so mangelhaft sein, mag seine geistige Höhe den intellektuellen noch so sehr widerstehen, mögen die Einbündler in Einzelfragen, selbst in Prinzipien irren, so erreichen alle Schwächen nichts anderes, als daß man sich um ihre Beseitigung mit eifriger Liebe müht. Die Kongresse und Parteitagsstätten sind in der That die geistigen Wallfahrtsorte aller Zukunftsgläubigen, die vielleicht auch die Zukunftswissenden sind, mögen sie auch geborene Dissidenten und Parteiskeptiker sein.

Es ist ein böses Räthsel, daß diese Zukunftsgläubigen nicht die ganze Menschheit umfassen*, daß die Einbundsidee nicht die gemeinsame Rüstungslinie ist, sondern daß man sich vielmehr schon mit tödlichem Haß bekämpft, bevor noch die eigentlichen Probleme beginnen. Karl Marx, der Beherrscher der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Sieger des 20. hat das böse Räthsel

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mehr konstatirt als gelöst, indem er das Dogma vom Klassenkampf fand und die freie intellektuelle Erkenntnis durch den gebundenen triebhaften Instinkt erdrosselt werden ließ. Da jedoch jeder Tag von Neuem zeigt, daß an der Erscheinung selbst nicht zu zweifeln ist, so muß man sich wohl oder übel mit der Idee des Klassenkampfes abfinden, wenn auch das verzärtelte Gewissen, das gern an dem „berechtigten Kern” nascht, dieser Fundamentallehre zuerst widerstreiten möchte. Und Herr Singer hat Recht daran gethan, daß er die Arbeiter zum Einbund zusammenrief und nicht die – Menschheit. Denn leider ist mit der Menschheit verteufelt wenig anzufangen, und es scheint einmal im Rathe des Schicksals beschlossen, daß nicht im vernünftigen Wettstreit die Zukunft erzeugt wird, sondern in wilden Schlachten mit Sieg und Vernichtung, obwohl an dem Ausgang des Kampfes nie ein Zweifel ist und die Partei der Aufsteigenden und Untergehenden von Anfang an für alle Sehenden gezeichnet sind. Schon an den Waffen kann man es erkennen.

Eine dankbare Aufgabe wäre es, einmal ein Handbuch der politischen Strategik zu schreiben, in dem das ganze Arsenal der Kampfmittel zur Schau gestellt wird. Man würde erstaunen über die Armseligkeit und Gleichförmigkeit der Mittel der zum Untergang bestimmten. Es ist immer dieselbe Ohnmacht, die in brutalen Machtzuckungen rast, die mit Verfolgungen und Verleumdungen, mit kindischem Witz und verrenkter Logik die Wahrheit überwinden zu können sich rühmt. Und wenn sie sterben sollen, so raffen sie sich nicht einmal zu einem anständigen dreimaligen Hurrah auf den irdischen oder überirdischen Gott auf, sondern versinken schimpfend und scheltend. So hat man auch die Einbundsbewegung stets mit den denkbar kläglichsten Mitteln aus der Welt zu reden gesucht. Es macht einen allgemein belustigenden Eindruck, zu beobachten, wie man überall auf die gleiche naive Weise sich vergeblich bemüht hat, gegen die gewaltige sozialistische Weltsprache - dieses Volapük, das alle Völker verstehen, mit den stammelnden Lauten nationaler Parteisprache zu überwinden, ja man demüthigte den Nationalstolz so weit, daß man selbst wieder eine Art antisozialistischen Volapüks ersann, dessen ganzer Sprachschatz auf einem Quartblatt geräumige Unterkunft findet.

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Als Johann Most 1874 in der Bastille am Plötzensee, gemeinschaftlich mit den ultramontanen Opfern des Kulturkampfs einlogirt war - zu jener Zeit war die Expedition der „Frankfurter Zeitung” noch so liebenswürdig, den lieben Most durch Ueberweisung eines Freierexemplars ins Gefängnis zu unterstützen - schrieb er in sein Tagebuch: „Die Inspektoren und der Schulmeister besuchen mich öfters, wobei natürlich die allergewöhnlichsten Zeitungs-Plattheiten herausgesteckt werden, was mich umso mehr amüsirt, als ich Gelegenheit habe, die Leutchen gründlich ad absurdum zu führen. Ob mit solchen Diskussionen die angekündigte Besserung erzielt werden soll, weiß ich nicht, vermute es aber. Wenigstens wüßte ich sonst nicht, zu welchem Zweck man mir z.B. immer mit einem vor Freude strahlenden Gesicht vom ‚Rückgang der Sozialdemokratie’, wie er sich angeblich zusehends vollziehen soll, erzählt.” Und an einer anderen Stelle erzählt er von einem Bekehrungsversuch des Direktors, der mit sichtlichem Gruseln und tragischem Pathos ausrief: „O, ich bin fest überzeugt, wenn Sie und Ihresgleichen könnten, wie sie wollen, so würde bei Guillotine aufgefahren und geköpft, wie nach Nothen, weder Leben, noch Eigenthum wären sicher, und Mord und Brand würde herrschen, wie man es in Frankreich erleben musste!”

Nimmt man das Theilen hinzu, so hat man den gesammten Waffenschatz der Vielbündler erschöpft, wie er seit einem Menschenalter in allen Ländern zur Anwendung kommt. Man leugnet die feindliche Macht - statt Rückgang gebraucht man neuerdings die weniger bestimmte Wendung vom Ueberschreiten des Höhepunkts - dann gefällt man sich in stiller abwartender Geduld. Oder man malt nach dem Vorbild der Jahrmarktbuden, in denen Künstler die Schrecken der Folterzeit grausig dargestellt haben, die Ruchlosigkeiten der blutigen Sintflut und dann hagelt es Ausnahmegesetze der schamlosen Gewalt. Oder endlich, man wendet mit der beneidenswerthen Verdauungsfähigkeit, die reaktionäre Hirne stets auszeichnet, die konträren Mittel zu gleicher Zeit an, und dann benutzt man wohl das gemeine Recht als Ausnahmegesetz, nur Justizminister predigen das zweierlei Recht und Oberverwaltungsgerichte, statt die bestehenden Gesetze anzuwenden, aus eigener Machtvollkommenheit Ausnahmegesetze. In diesem Zustande zeigen sich dann klar all die abstoßenden Untergangserscheinungen, die alle

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intellektuell und sittlich unversehrten Elemente gewaltsam in das feindliche Lager treiben, selbst wenn sie mit ihren Ueberzeugungen noch jenseits stehen.

In dem letzt erwähnten Stadium befinden wir uns aber, wenigstens in Deutschland, schon jetzt. Wir müssen uns zur Sozialdemokratie flüchten, selbst wenn wir ihre wirtschaftlichen und taktischen Grundanschauungen nicht theilen. Sie ist die einzige Zuflucht aller Idealisten, um sie kreisen die Sympathien der Gesund-Gebliebenen. Denn hier finden sie Grundsätze, Konsequenz und Begeisterung, und wenn sie Deutsche sind außerdem die Tradition der klassischen deutschen Zeit.

Wir wollen uns einbilden, auf dem Londoner Congreß die Stimmen der Völker und die Stimme der Zukunft zu vernehmen. Und wenn sie selbst kein anderes Verdienst hätten, diese Sozialdemokraten, als daß sie die Waffen organisiren, sie zu bestimmten Gedanken erziehen und dergestalt aus dem dunklen Chaos mit feinen unberechenbaren Explosionen eine in gesetzlichen Bahnen sich bewegende geordnete Welt schaffen, deren Ideen man kennt und mit deren Handlungen man daher die Kultur rechnen kann, wenn sie nichts besäßen als dieses Glück rücksichtsloser Aussprachen und diesen opferwilligen Muth der Ueberzeugung, es genügte, mit ihnen zu sympathisiren, selbst wenn man ihre Grundanschauungen nicht theilte. Man wird nie das Bedürfnis haben, sie zu bekämpfen, höchstens sie zu reformiren.

Wie kindisch ist angesichts dieser Anziehungsmacht der Einbundsbewegung der Versuch, aus den anarchistischen Lärmszenen in den ersten Tagen des Londoner Kongresses wieder einmal den Rückgangs-Trost zu fangen? Wäre man im Stande zu denken, so müßte man es für sehr natürlich halten, daß eine Partei, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basirt ist und an deren Fundamentalsätzen kaum etwas Wesentliches zu ändern ist, weil sie systematisch bedingt sind und nur mit dem ganzen System zerstört werden können in ihren Zusammenkünften gerade die persönlich-taktischen Auseinandersetzungen pflegen wird, die kleinen aber nicht unwichtigen Tagesfragen des laufenden Geschäftsbetriebs. Und wenn die anarchistischen Wirrköpfe getreu dem Prinzip der Herrschaftslosigkeit ihre Individualität ausleben - man weiß jetzt was dieser mystische Begriff besagt: Lungenkraft und Kehlkopfvirtuosität -, was können

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jene dafür, die doch unmöglich die Verantwortung tragen, daß sich in ihre Versammlungen Leute eindringen, die genau die entgegengesetzten Anschauungen hegen? Daß die Anarchisten, diese Manchester-Karikaturen sich zufällig an dasselbe Publikum wenden und auch ein Verdammungsurtheil über die bestehenden Zustände fällen, das der sozialistischen Kritik ähnlich ist, darf schwerlich als ein zureichender Grund zu gemeinschaftlicher Aktion angesehen werden. In Wirklichkeit bedeutet gerade die reinliche Scheidung von den anarchistischen Schwadroneuren, die nur physiologisch, aber nicht logisch zu begreifen sind, einen erheblichen Fortschritt und bedeutende Stärkung der sozialistischen Bewegung, indem sie allen Romanticismus des verwegenen falschen Pathos abschwört.

Auch sonst haben die Vielbünder keine Ursache, aus dem Verlauf des Londoner Kongresses neue Lebenshoffnungen zu schöpfen. Der internationale Ring schließt sich immer enger zusammen, die Gemeinsamkeit der Anschauungen wächst. Es ist ein bedeutsames Zeichen, daß Rußland's organisirte Arbeiterschaft auf dem Londoner Kongreß zum ersten Mal vertreten war. Die Hereinziehung der Agrarfrage, dieses sozialistische Arbeitsgebiet der nächsten Generation, die allgemeine Anerkennung der politisch-parlamentarischen Aktion, die Zurückweisung nationaler Belleitäten, die ernste Betonung der Frauen- und Bildungsemanzipation - all das sind Fortschritte zur Reife, Klärung und Einheit. Und dergestalt gedeiht diese Welt für sich, verheißungsvoll an Kraft und Fülle, und man darf auf den Glückstag hoffen, da die schmerzvolle Zerrissenheit des Kulturbewußtseins aufgehoben und ihre Einheit im Einbunde hergestellt ist. Dem mag die fröhliche, keimstarke Menschheitsarbeit beginnen, deren blasse Vorahnungen wir heute in der Wissenschaft und ihren stolzen Erzeugungen ängstlich genießen. Es mag eine gute Vorbedeutung für den Sieg der neuen Kulturbewegung sein, daß ihr Kampfgesang mit dem Instrument der vorhergehenden Epoche begleitet wurde, die Internationalhymne des Einbundes, die Marseillaise, ertönte zur Orgel!

Tat-Twam

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*) Im Druck „umfaßt”