Die Kritik
Wochenschau des öffentlichen Lebens
Berlin, den 25. Juli 1896
III. Jahrgang Nr 95

Provinzialbriefe
IV.* Das gefällige Gespenst

Der französische Nationalfeiertag war dieses Jahr durch zwei Sensationen ausgezeichnet: eine unechte und eine echte. Die unechte war ein blindes, die unechte ein wirkliches Attentat. Ersteres verübte ein Narr, letzteres der Berufenste aller Kunden Li Hung Tschang. Ueber jenes regt man sich in Deutschland auf, über dieses in Frankreich. Beider Attentate Zielpunkt war Herr Faure, der Präsident von Frankreich. Das Sonderbare ist nur, dass zu dem Pseudoattentat dem französischen Oberhaupt die Botschaften und Souveräne gratulirt haben, während niemand es der Mühe für werth gehalten hat ihm ob des geglückten Attentats eine tröstende Beileidskundgebung zu widmen. Sind die blinden Schüsse eines Verrückten, der, wie Henry Fouquier schreibt, von seinem Petitionsrecht in amerikanischer Manier Gebrauch gemacht hat, wirklich ernsthafter als die „Erstürmung der Bastille”, die Li Hung Tschang, wie alle Ohren- und Nasenzeugen der Pariser Truppenrevue vom 14, Juli beschwören, hinter dem Rücken des Präsidenten meuchlings auf chinesische Manier unternommen hat? Und doch veranlaßten die prächtigen Reklameschüsse den Präsidenten zu strahlender Heiterkeit, während Li Hung Tschangs der chinesischen Sprache gemäßes einsilbiges Attentat selbst dem durch sein früheres Gerber-

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handwerk abgehärteten Präsidenten den Schmerzensschrei abgerungen haben soll: Nachbarin Euer Fläschchen!

All die lösende Ausgelassenheit des deutschen Volksschwanks scheint sich zu den Franzosen geflüchtet zu haben. Wir liefern höchstens in unserem eigenen Thun Material für groteske Farcen der Franzose tollt mit souveränem Lachen in ihnen. Was wäre aus dem Farcenstoff geworden in deutscher Verarbeitung? Herr Francois hätte bei uns große, wahrscheinlich vergebliche Mühe gehabt, seine Narrheit zu beweisen. Denn als man im Jahre 1870 das große nationale Werk - desgleichen gab es schon vor dem gewaltigen Kriege! - norddeutscher Rechtseinheit schuf, als man das Strafgesetzbuch im Reichstag berieth, da verzichteten unsere Patrioten im Interesse des Zustandekommens eben dieses großen nationalen Werkes auf die zu jener Zeit noch als Humanitätsprinzip bürgerlicher Bildung allgemein geltende Abschaffung der Todesstrafe, und es gelang der herrliche Fortschritt auf dem Wege des Compromisses die früher üblichen 14 Arten eines gesetzlichen unnatürlichen Todes auf zwei zu reduzieren. Einmal stand auf dem mit Ueberlegung ausgeführten Mord die Todesstrafe, und zweitens wurde - ein Antrag des Herrn v. Kardorff - jene einzige Ausnahmebestimmung in unser Strafrecht eingeführt, bei der die versuchte und vollendete Handlung mit gleicher Schwere geahndet wird: der Mord oder der Versuch eines Mordes, verübt an dem Kaiser oder einem Bundesfürsten wurde mit der Todesstrafe belegt, und zwar ohne die Forderung der Ausführung mit Ueberlegung. Deshalb hätte der Fall Francois in Deutschland ohne Zweifel als eine Schoffottragödie geendigt, und eine in gesträubten Ausdrücken schaudernden Entsetzens delirirende Presse hätte ein durchgreifendes Ausnahmegesetz gegen die Unterstützer und Genossen verlangt und erreicht. Francois wäre für offizielldeutsche Begriffe kein Narr gewesen, und ebensowenig hätte man im Zeitalter Stumms Glauben mit der Behauptung blinder Schüsse gefunden. Bei uns giebt es weder närrische Attentäter, noch blinde Schüsse, hat man doch sogar allen Ernstes versucht, selbst den höchst fidelen Leichnam Faures für die Zwecke der deutschen Zerschmetterungspolitik auszuweiden.

Umgekehrt aber wäre man verfahren, wenn der große Chinese

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bei uns ein entsprechendes Attentat zu gleicher Zeit ausgeführt hätte. Man würde den Mißton schonend überhört haben, nicht die kleinste Notiz wäre in die Oeffentlichkeit gelangt, und der §95 des Strafgesetzbuchs hätte jeglich unehrerbietendes Lachen drohend verhindert. Ei welch‘ trauriges Land, dieses herrliche Deutsche Reich am Ende des 19. Jahrhunderts, wo es höchstens gestattet ist, mit geschlossenen Lippen und starrer Miene unhörbar innerlich zu grunzen, welche Enghaft erstickender Luft und trister schamloser Heuchelei. Narrenstreiche zum Anlass schicksalschwerer Knechtung des Volks auszubeuten, das ist nicht verwehrt, das ist im Gegentheil der Gipfel moderner Staatsweisheit, über Lustiges aber herzhaft zu lachen, das ist ein crimen laesae majestatis. So schafft uns Frankreich täglich ein Sedan des Geistes, und während wir als dupirte Gimpelfänger hinter dem chinesischen Millionär mit gestreckten Händen brünstig herliefen, zog der Franzose klug und überlegen die Sicherheit eines guten Witzes der zweifelhaften Spekulation eines möglichen Profits vor und nahm den schlauen Li von jener scherzhaften Seite, die Till Eulenspiegels trotzende Stärke war.

Auch bei uns konnte man einst noch lachen und politische Attentate als das nehmen was sie sind, als unvermeidliche Uebel, wie jedes andere Verbrechen, oder als zugkräftige Anreißer für bankrotte Politiker oder als mehr oder minder harmlose Unternehmungen ernster, tragikomischer und komischer Narren. Als im Jahre 1866 der Student Cohen-Blind eines der wunderbarsten Attentate der Weltgeschichte ausführte, insofern als er den Grafen Bismarck nicht verwundete, obwohl er ihm die Pistole unmittelbar an den Mantel gesetzt hatte, da suchte man dieses Wunder dadurch zu erklären, daß die Luft in dem Lauf durch den Mantel eingeschlossen war, und die Energie der Kugel infolge dessen paralysirt wurde. Weil man damals aber noch lachen konnte und weil das aufrechte Bürgerthum keine Neigung besaß, die verruchte spekulative Verwerthung von Attentaten zu betreiben, erfand die lustige Bosheit eine andere Erklärung des Wunders in einem Scherztelegramm, das Napoleon III. an den glücklichen Bismarck gerichtet haben sollte, und in dem er sich theilnahmsvoll erkundigte von welchem Schlosser der preußische Ministerpräsident seine Hemden bezöge. Damals hatte man freilich auch noch nicht den hohen Respekt vor den offi-

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ziellen Größen, der heute kleinen Schelmen als Heroenkult gar herrlich und erhaben scheint, und wohl geeignet, die eigene Winzigkeit stattlich und fast imposant zu blähen, damals besaß man noch den guten, gesunden Geschmack offizielle Größen vielmehr ein bischen komisch zu finden. Man begeisterte sich lieber an Dichtern, Gelehrten, Musikern oder Schauspielern, weil hier persönliches Verdienst klar und unzweifelhaft zu Tage lag, während man das richtige Gefühl hatte, man könnte nicht ehrlich bewundern und lieben, bei dem man nie genau wissen kann, wo der Selbstherrliche eigener Kraft aufhört und der Prokurist fremden Verdienstes, der Ausbeuter anderer Leitungen beginnt. Und wenn 1866 „ein Mann, der für seinen Anspruch der Beherrlichung nichts weiter für sich hatte, als daß er einen Unbewaffneten von hinten anschlich und meuchlings auf ihn schoß, in seinem Leichnam noch der Gegenstand von Ovationen wurde von seiten von Frauen, die ihrer äußeren Stellung nach den gebildeten Ständen angehörten”, so beweist dieser Ueberschwang zwar nicht, wie Bismarck durch jene Schilderung zu beweisen suchte, die Nothwendigkeit der Todesstrafe für politische Verbrecher, wohl aber jenen krankhaften, sich an Märtyrerthaten und politischen Morden berauschenden Idealismus, der das Kennzeichen jeder bürgerlichen Revolutionsbewegung war, der aber mit dem Siege des proletarischen allgemeinen Stimmrechts jegliche Existenzberechtigung verloren hat, und nur noch in der Parodie des bürgerlich-revolutionären Liberalismus, im Anarchismus, vielleicht hier und da einige Sympathie findet. Daß aber selbst diese Verirrung des Idealismus bei Weitem nicht so unsittlich und abscheulich ist wie die Aaspolitik unserer Realisten, welche mit politischen Verbrechen spekuliren, politischen Leichenschacher treiben, und im Nothfall Attentate fabrizieren, wenn sie nicht freiwillig dargeboten werden. Im Gefängnis zu Ham hat Napoleon III. 1841 jenes Wort über die Anarchie geschrieben, „Das gefällige Gespenst, das stets der Tyrannerei als Entschuldigung dient”. Dieser Satz ist jetzt das taktische Dogma aller fortschrittlich-revolutionären Parteien. Die Propaganda der That wird ebenso ehrlich von den wirklichen, d.h. den evolutionistischen Revolutionären verschmäht und gehaßt, wie sie von der Reaktion heimlich ersehnt und begünstigt wird. Damit aber verschwindet jeder gerechte Anlaß, Attentate anders zu beurteilen

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als irgendein elementares Ereignis. Verhindert können sie nicht werden, und ihre politische Fruktifizirung ist ein größeres Verbrechen als die That selbst. Mag man jedes Mittel im politischen Kampf anwenden, nur dieses nicht, das schließlich darauf hinausläuft, mit den Gruselphantasien der Spinnstuben den freien Gedanken und die helle Wahrheit gewaltsam zu ersticken. Selbst jenes konträre liberal-klerikale Bündnis, das uns in Deutschland das bürgerliche Gesetzbuch, in Belgien den klerikalen Stichwahlsieg verschafft hat, ist ein Vorbild moralischer Staatsweisheit gegenüber der schamlosen Unzucht der Attentatsspekulanten. Dieser eine Machiavellismus wenigstens sollte an der allgemeinen Verachtung zu Grunde gehen und für immer aus dem Arsenal der politischen Kampfmittel entfernt werden. Freilich scheint es, als ob wir von diesem Ziel uns eher entfernen, als daß wir uns ihm nähern. Wenn man selbst das Narrenattentat Francois, von dem man jetzt mißtrauisch behauptet, es sei auf Bestellung gearbeitet, wenigstens in der Stummpresse für die Zwangsvorstellung eines neuen Ausnahmegesetzes ausbeutet, wenn man hier mit dem erhobenen Zeigefinger auf die Ermordung eines Werkmeisters wegen Lohnstreitigkeiten, dort mahnend und warnend auf den Ueberfall eines Betriebsdirektors durch Arbeiter hinweist, wenn bei der Leiche eines einem Racheakt zum Dreier gefallenen Industriellen das gefällige Gespenst die Totenrede halten muß, wenn vor Wahlen plötzlich Dynamitexplosionen panischen Schrecken verbreiten, um die sich nach dem Wahltag niemand mehr kümmert, dann stehen wir allerdings jeden Augenblick vor der furchtbaren Gefahr einer Ueberrumpelung der ruhigen, steten Kulturentwicklung durch die Heerscharen des gefälligen Gespenstes, welche die entsetzlichste Gewissenlosigkeit mobilisirt, dann drohen thatsächlich stets die Garden, die kürzlich in Berlin einen nächtlichen Kampf gegeneinander offenbar in der Fiction eines inneren Feindes manöveriert haben - sie wurden unerklärlicherweise für diese ersprießliche Uebung bestraft - dann kann ein tückisches Ungefähr den Bürgerkrieg entfesseln, der zwar nicht gar so sinn- und grundlos ist, wie ein Völkerkrieg, nichtsdestoweniger aber in seinen Wirkungen noch gräßlicher sein würde als jener. Es ist ein unerträglicher Zustand, daß unser Geschick von der Kugel eines Narren oder eines ver-

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blendeten Schwärmers abhängen soll, wie etwa die Juden unter der fortwährenden Gefahr leben, daß ein durch die Ritualmordmärchen entzündete geisteskranker Jude nun wirklich ausführt, wessen der Aberglaube dies Volk beschuldigt; es ist ja wie ein Wunder, daß dieser Fall noch nicht eingetreten.

Die Möglichkeit eines Attentats ist trotz der wachsenden Schulung und Einsicht des Volks so lange nicht ausgeschlossen, als der Gedanke eines Mordes nicht zu den Krankheiten gehört, die nicht mehr vorkommen, als zur unvollziehbaren Vorstellung des menschlichen Bewußtseins geworden ist. Die heutigen Zustände aber drängen eher zum Gegentheil. Es ist keineswegs erstaunlich, daß politische Verbrechen begangen werden, es ist vielmehr kaum zu begreifen, daß sie so selten sich ereignen. Niemand schützt den einzelnen vor Explosionen wirtschaftlicher Katastrophen, Niemand bewahrt ihn vor dem Giftmord verwüstender Arbeit, vor den langsam zerrenden Schlingen des Hungers. Die Verachtung des Lebens, welche die Gesellschaft gegenüber der Masse übt, die Verachtung des Lebens, welche die Kriegsfanatiker predigen – sie düngt den Boden für die verbrecherischen Irren, welche mit der Heiligkeit des Daseins ihr blutiges Spiel treiben. Aus dem Bestehenden raffen sie die Elemente ihres Wahns. Und die Gesellschaft steht prüfend vor den Erzessen ihrer Bastarde statt zu erstaunen, daß solche Erzesse so selten sind, ergreifen doch anarchistische Stimmungen in dunklen Augenblicken der Verzweiflung selbst den Ruhigsten und Nüchternsten, wenn er die brutale Unvernunft triumphieren und das Recht als tödliches Werkzeug des Unrechts kraft der Willkür des Stärkeren ausgeliefert sieht. Oder glaubt man, daß das Wunder durch das Strafgesetzbuch erklärt wird?

Wie viel Hunderttausende von Menschen haben nichts zu verlieren! Wo jeder Tag zahlreiche Selbstmorde bringt, warum sollten die nicht Einzelnen, um ihrem armseligen lästigen Sein wenigstens den Schein eines Inhalts zu geben, den heroischen Umweg über das Schaffot wählen! Und über dies ist die Todesstrafe durch die Geschichte geheiligt worden. Sie ist nicht nur die schwerste Ahndung, sondern auch das höchste Martyrium gewesen. Sie hat nicht nur die gemeinsten, sondern auch die edelsten Menschen getroffen. Hat nicht eine Hinrichtung das Gemüth einer ganzen Menschheitsepoche entscheidend beeinflußt?

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Die Furcht erklärt also nicht die Seltenheit politischer Verbrechen. Die Erscheinung lässt sich, sofern man nicht an ein wunderbares gnädiges Ungefähr glauben will, nur dadurch erklären, daß die Einsicht in die Verwerflichkeit und Zweckwidrigkeit politischer Morde größer ist, als man es nach den Verhältnissen annehmen sollte. Umso berechtigter aber ist die Forderung, nun die paar Ausnahmefälle ohne politische Sentiments und Tendenz nach den werktäglichen Paragraphen des Strafgesetzes zu behandeln. Daß die Opfer kranker Fanatiker gerade die Spitzen des Staates sind, das wird so lange ein Naturgesetz sein, als solche auffälligen ragenden Angriffspunkte für politische Blitzgefahr als nothwendig erachtet werden. Fehlen sie, dann giebt es überhaupt keine Attentate mehr, sondern nur noch Morde und Mordversuche. Dann wird auch das schmutzige Attentats-Jobberthum der Umsturzpolitiker verschwinden. Indessen es ist eine kulturelle Lebensfrage, daß man schon jetzt die wilden Delirien gewaltsamer Selbsthilfe ohne Exaltation als politisch neutrale Ereignisse betrachtet und behandelt. Wir müssen eingestehen, daß es verachtungswürdig ist, mit den trübsten Colportage-Roman-Vorstellungen ängstlicher Philister unter den unaufgeklärten Massen zu operiren. Wir müssen auf die Mitwirkung des gefälligen Gespenstes endlich verzichten. Ist aber gar das gefällige Gespenst überhaupt kein ernsthaftes Gespenst, sondern nur die Produktion eines harmlosen Idioten oder eines politischen Schmierendirektors, in dessen Kasse Ebbe herrscht, dann müssen wir das unheiligste Lachen zu Hilfe rufen, und die explosive Geste eines an Verdauungsbeschwerden leidenden chinesischen Vicekönig wichtiger nehmen als den Schein einer explosiven Geste, zu der ein armer Narr seine Kräfte stachelt. Gewöhnen wir uns an Gleichgültigkeit und an Gelächter, die Grundforderungen politischer Hygiene.

Tat-Twam

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*) Im Druck fälschlich „VI”