Die Kritik
Wochenschau des öffentlichen Lebens
Berlin, den 18. Juli 1896
III. Jahrgang Nr 94

Provinzialbriefe
III. Der Atheistenklub

Vor ein paar Jahren wurden die Vorgänge an einem pommerischen Gymnasium viel besprochen. Ein Schüler, der sich offen zur Sozialdemokratie bekannte, wurde relegirt, und seine vornehmen, hochbetitelten Verwandten suchten das Entmündigungsverfahren gegen den jungen Mann, dessen Vater gestorben war, anzuwenden, freilich erfolgslos. Trauriger war ein zweiter Fall, der mit diesem zusammenhing. Der einzige Sohn blutarmer Kräutersleute hatte sich bis zur Prima hinaufgearbeitet, auch er schloß sich jener sozialistischen Scheinvereinigung an; da er aber wohl keine Führerrolle spielte, blieb er von der Relegation verschont. Dagegen wurde er von dem Abiturientenexamen das erste Mal ausgeschlossen, weil er noch nicht die nötige sittliche Reife besäße, und das zweite Mal fiel er durch. Da mochte er an feiner Zukunft verzweifeln und schied freiwillig aus dem Leben.

Ein Inserat im Kreisblatt, durch das die um all ihr Glück auf einmal betrogenen bejahrten Eltern den Verkauf ihren Kramgeschäfts wegen Wegzugs vom Ort ausboten, schloß diese Gymnasiastentragödie von mangelnder sittlicher Reife. Nur selten bringen solche Coulissengeschichten aus den Civilkadettenanstalten unserer auserwählten Kaste in die größere Öffent-

1334

lichkeit. Und doch wäre so der Niedergang der geistigen Kultur der höheren Stände leichter zu erklären, wenn man nicht nur die akademischen Zustände, sondern auch die Verhältnisse in den gymnasialen Jugendzuchthäusern mehr im Lichte der Öffentlichkeit hielte. Der Reservelieutenant treibt seine Culturthätigkeit nicht nur als Richter und Staatsanwalt, sondern auch als Gymnasiallehrer, und das Direktorenkapitel nimmt eine hervorragende Stelle im Buch der modernen Dunkelmännlein ein. Trotzdem bekümmert man sich wenig darum, und wenn man jetzt in den Zeitungen die kurze Notiz liest, daß eine Anzahl Schüler der beiden oberen Klassen des Gymnasiums zu Zweibrücken das consilium abeundi erhalten haben, weil sie sich zum „Atheistenklub” vereinigt hatten, so lassen höchstens die Finsterlinge für einige Augenblicke das Gespenst der zunehmenden sittlichen Verwahrlosung der heranwachsenden Jugend erscheinen. Die übrige Welt aber bleibt gleichgiltig. Nirgens rührt sich das Bedürfniß, den vergewaltigten Jünglingen ritterlich beizustehen, geschweige denn, dass man den Fall für wichtig genug hielte, um ihn zum Gegenstand einer parlamentarischen Interpellation zu machen. So behalten das letzte Wort katholische Muckerorgane, die bei dieser Gelegenheit mit deutlicher Bezeichnung schuldige Lehrer denunzieren, die noch immer nicht beseitigt seien, obwohl sie während des Unterrichts offen erklärt haben, der Glaube an Gott sei ein Unsinn und die Erzählungen aus der Bibel seien Märchen.

Es ist sicher anzunehmen, dass als Grund für jene Maßregelung intellektuell befreiter Gymnasiasten wiederum die mangelnde sittliche Reife angegeben wurde, spielt doch diese Zensur in der Welt, in der man sich am meisten langweilt, zugleich die Rolle des Ketzerrichters und Henkers. Sittlich unreif ist alles, was geistig reifer ist. Denn man hat schwerlich daran Anstoß genommen, daß jene verwirrten Jünglinge durch die Lektüre der banalen materialistischen Schriften zu Verächtern der altjüdischen Mythologie geworden sind. Auch wenn sie statt durch den wissenschaftlich langst überwundenen Materialismus durch den Kantischen Idealismus von den atavistischen Zwangsvorstellungen befreit worden wären, hätten sie die rächende Gymnasialobrigkeit erreicht. Nicht um Klärung des wissenschaftlichen Bewußtseins und damit um ethische Festigungen war es den

1335

Kerkerrichtern der sittlichen Reife zu thun, sondern um die gewaltsame Festhaltung in protegirten Idiosynkrasien und damit um ihre geistige Niederdrückung und sittliche Zermorschung. Gewiß ist der heute ein lächerlicher smiles gloriosus des Geistes, der noch eine ernsthafte, ein Leben ausfüllende Aufgabe darin sieht, hitzig zu beweisen, dass Mythologie Mythologie ist und Pfaffen Pfaffen sind. Im Gegenteil sind diese am Mythologischen noch haftenden Elemente, sofern sie keine Heuchler sind, in der Fundamentalaufgabe unserer Zeit, im sozialen Freiheits- und Einheitskampf als werthvolle Bundesgenossen wohl zu schätzen, wie denn die platte Aufklärungssucht ein niedriges, und wo sie mit Verfolgungswahn verknüpft ist, ein verächtliches Gewebe ist. Aber darin sollte man einig zusammenstehen, wo die Vertreter der Mythologie zu den Verfolgern und Unterdrückern der anderen werden. Spürt man wohl etwas davon? Ueber allen Gipfeln ist Ruh, und die Zweibrückener Gymnasiasten kommen wahrhaftig in die Lage, sich noch anno 1896 als Giordano Bruno und Galilei zu fühlen, weil sie an die großartigen biblischen Märchenfiguren ebenso wenig glauben wie an Jupiter, Aphrodite, Priapus, Wodan, Lofi oder an die Pagoden der momentan vielgeliebten gelben Raffe, und dies trotz all der glänzenden Heilerfolge, welche die moderne Psychiatrie erzielt hat.

Der Kulturkampf gegen die Mythologie im Geiste der Wissenschaft und Toleranz war die eigentliche Aufgabe des Liberalismus. Auch auf seinem Krongut ist er erfolglos geblieben. Er hat nicht die Menschheit zu der Ueberzeugung zu erheben vermocht, dass das Mittel gegen skeptische Zersetzung und Auflösung nicht der Aberglaube, sondern das wissenschaftliche Bewusstsein ist, das alle Bedürfnisse des Denkens, Wollens und Fühlens gleichermaßen erfüllt. Ja, auf seine alten Tage ist er gar selber wieder fromm geworden, zum Mindestens hält er es für profitabel, wenn die abscheulichste, die eigentliche Gottlosigkeit, der Unglaube an geistige Freiheit und Wissenskraft dem Volke erhalten bleibt, wenn nöthig, mit der Peitsche. Der mit allen Lastern der Senilität behaftete Liberalismus bekommt höchstens noch Erektionsanwandlungen, wenn in einem Volksschutzgesetz thatsächliche Zustände legitimirt werden sollen, während er gegen das illegitime Fortwuchern nicht das Mindeste

1336

einzuwenden hat. Er kitzelt seine Schlaffheit noch allenfalls mit blutrünstigem Jesuitenwahn, aber er tauft seine Kinder, segnet sie komfortabel ein und fährt in gleißender Brautkutsche zur Kirche, deren Geistliche er allerdings bitter haßt, sofern sie es wagen, mit dem Christenthum Ernst zu machen. Dann ist er sogar fähig, einem Atheistenklub beizutreten; denn der liebe Gott darf nie und nimmer das Recht haben, seine zweckmäßige Einrichtung, die Scheidung zwischen Arm und Reich, zwischen Sklaven und Herren auszuheben, und ebenso dürfen die Stellvertreter Gottes in diesem Sinne sein Reich predigen, dieweil sie das erstlich nichts angeht, und zweitens den liberalen Charakterkopf verdrießt und ärgert. Den jungen Märtyrern des Zweibrückener Atheistenklubs aber zu helfen, das fällt ihm nicht ein. Das ist kein liberales Geschäft und bringt nichts ein. So steigt der Liberalismus in’s Grab, ohne den Sieg der liberalen Weltanschauung erlebt zu haben, ja ohne sich redlich um ihn zu mühen, eine lächerliche Gestalt, die nichts mehr von dem Flitterglanz ihrer Jugend erhalten als den verführerischen Namen, wie die invalide Veteranin des horizonatlen noch immer genau so lockend Nelli und Anni heißt, wie dazumal in ihrer vorhistorischen Zeit, als sie den ersten Kuß empfing oder gab. Kein Geschick ist so gerecht und verdient, wie das des bürgerlichen Liberalismus. In Deutschland bedeutet jede neue Wahl eine neue Niederlage des Liberalismus. In Oesterreich ist er jämmerlich in der schmutzigen Hochflut des Antisemitismus ersoffen, und man kann nicht sagen, dass er selbst ein solches Bad nicht nöthig gehabt hätte. Sogar England berauscht sich nicht mehr an der liberalen Phrase, sondern beugt sich lieber konservativem Regiment, und das Mutterland des Liberalismus, Frankreich, gönnt ihm nur noch eine Gnadenfrist, indem es ihm radikale Injektionen macht. Am kläglichsten aber ist wohl das Ende des Liberalismus in Belgien. In den letzten belgischen Wahlen ist der Liberalismus einfach zermalmt worden, und es bleibt ihm nichts des Jämmerlichen mehr zu thun übrig, als durch ein Wahlbündniß mit seinem schwarzen Todesfeind den rothen Drachen zu besiegen. Vielleicht reizt gerade eine solche Pikanterie seinen pervers stumpfen Geschmack. Jedenfalls ist der liberale Gedanke in Belgien am gründlichsten gestorben Der Kampf um die

1337

Macht wird nur noch zwischen der klerikalen und radikal-sozialistischen Demokratie, zwischen dem Reich Gottes im Himmel und dem Reich Gottes auf Erden ausgefochten. Auch hier ist der Liberalismus in seiner Lebensaufgabe, der Ueberwindung des Mittelalters, erfolglos geblieben, in dem Zukunftskriegen gegen den rothen Feind wird er gar nur noch als Landsturm ohne Waffe requirirt. Es scheint, als ob die klerikale Demokratie in Belgien mit letzten Entscheidungen rechnet. Ihre Wahlmanifeste athmen prophetische Leidenschaft und ihre aufgeregte Phantasie lodert in dämonischen Traumgesichten. Man fürchtet, nach dem letzten gewaltigen Wahlerfolg der Sozialisten, dass Belgien bestimmt sei, das Probeland des nur politischen Macht gelangten Sozialismus zu sein, der weder mit den bankerotten Kongostaat-Spekulanten noch mit den glänzend gestellten Rentnern des Mittelalters, dem Klerus sonderlich sanft umgehen werde. Was Wunder, dass sich das durch die Schreckbilder moderner Hunnengefahr verstörte Gemüth selbst an der Phantasie einer ausländischen Intervention im Fall eines sozialistischen Wahlsieges erbaut, ohne die verhängnißvolle Erinnerung an die große Revolution zu fürchten. Dem roten Atheistenklub die heilige Allianz! ...

Der faulende Liberalismus hat nicht nur seine negative Aufgabe, die Befestigung der mythologischen Weltknechtschaft, nicht erfüllt, noch weniger ist es ihm gelungen, die erhabene Entdeckung der großen Geister des Liberalismus, die Humanitätsidee, zum Siege zu führen. In der Sphäre deutscher liberaler Akademiker ist jener Irrgeist aufgewachsen, der das tieffe Erzeugniß des menschlichen Bewusstseins, die humane Sittlichkeitsidee zu vernichten wähnte, indem er es leugnete. Die moderne Sittlichkeitsidee hat das selbe Existenzrecht und denselben Existenzwert wie irgend eine andere Entdeckung des Menschengeistes, etwa in dem Gebiet der Naturwissenschaften. Genau so, wie man die ethische Fundamentalentdeckung der Menschlichkeit zu widerlegen wähnt, widerlegt der bornirte Handwerker die Maschine, die er haßt, indem er ihre Zerstörung predigt. Da die moderne Ethik eine Entdeckung des Menschen ist wie die Eisenbahn und die Elektrizität, so kann man sie nicht anders bekämpfen wie die naturwissenschaftlich technischen Errungenschaften. Wie vor dem modernen Sittengesetz, graut schwärmender Romantik vor der herrlichsten Staffage der modernen Landschaft, dem rollenden Zug. Das ist

1338

die romantische Widerlegung der modernen Kultur, die freilich unendlich höher steht als die gewaltsame Unterdrückung durch den Egoismus reaktionärer Selbsterhaltung. Es stünde noch gut um den Liberalismus, wenn er zur Preisgebung seines köstlichsten Erzeugnisses nur durch den Schattentanz der Romantik verführt worden wäre, der das moderne Sittengesetz nüchtern erscheint, weil sie selbst im Grunde nüchtern ist und darum nach stärkeren Sensationen giert. Nein, der Liberalismus hat sein stolztes Gut anstandslos an die sittliche Entartung ausgeliefert, welche in der Leugnung des Humanitätsgedanken—in der wüstesten Orgie reaktionärer Schamlosigkeit wurde die verbale Spottgeburt der „Humanitätsduselei“ erzeugt!—eine Beschönigung der eigenen Gemeinheit sucht. So hat der Liberalismus nicht nur geduldet, sondern auch gefördert jene Colonialwirthschaft, die in den Fällen Leist, Peters und Wehlan die verpestenden Gase ausströmte, die man erst abwehrte, indem man sich die Nase zuhielt und ein bisschen schimpfte, während man bei allem Tadel der Auswüchse das sittliche Grundprinzip der humanen Menschengleichheit selbst aufgab. Der Liberalismus hat nicht einmal begriffen, was er that, indem er Ausnahmen von dem Humanitätsgedanken zuließ, und der naiven wunderschönen Ueberschwänglichkeit des 18. Jahrhunderts von des besseren Wilden das Dogma von der schwarzen Bestie entgegensetzte, obgleich die Wissenschaft, welche sich auf Sprache und Litteratur stützt, den Begriff des Wilden gar nicht mehr kennt und so die Humanitätshypotheke, die Grundlage der modernen Kultur, nachträglich durch die Empirie bekräftigt.

Man muß gerührt und ein wenig interessiert lächeln über die romantischen Versuche, die Ethik zu atomisiren, indem man die Hallucinationen des großen Ichs kultiviert. Eine allerschwerste Kultuergefahr aber ist die grundsätzliche Preisgabe der Humanitätsidee zu Gunsten spekulativer Brutalität. Gewiß, auch der Liberalismus hat sich entrüstet über die in der Form einer Verurtheilung zu 500 Mark erfolgte Freisprechung des korrekten preußischen Assessors Wehlan, obwohl er mindestens ein Dutzend Mal zum Tode verurteilt worden wäre, wenn er die Kulturthätigkeit, die er der schwarzen Bestie hat zu Theil werden lassen, an den weißen Mitbrüdern in Berlin exekutirt hätte. Aber diese Entrüstung

1339

stammte nicht daher, weil das größte Verbrechen wider den modernen Geist, der Frevel an der Humanität, ungeahndet blieb, sondern weil der allzu krasse Fall die geliebte Brutalitätsidee selbst kompromittirte. Ein bischen Versündigung an der Humanität, an dem Prinzip der Menschengleichheit, hätte nicht nur nichts geschadet, das hätte im Gegentheil dem Ideal des Zeitalters korrekter Schneidigkeit entsprochen.

Es ist stets widerwärtig, nach härterer Bestrafung eines Sünders zu schreien. So mag man auch dem Assessor Wehlan, dem sentimentalen Scheusal sein Glück gönnen. Es ist ja fraglich, ob nicht überhaupt das ganze Strafrecht entbehrlich ist, und ob Zuchthaus und Gefängniß auch nur ein einziges Verbrechen verhindert haben. Aber es ist ungemein bezeichnend, daß gerade über die weiße weinende Assessorbestie jener ideale Richter zu Gericht gesessen hat, der nie zu finden ist, wo er nothwendig ist, wo über Meineide, Diebstähle, politische Vergehen abgeurtheilt wird, jener Richter Comprendre, der milde verzeiht, weil ihm nichts menschliches fremd ist. Es gibt kein Kapitalverbrechen, wo Richter Cemprendre nicht an seinem Platz wäre. Und dennoch fehlt er fast immer. Dafür ist er aber plötzlich aufgetaucht, wo man ihn missen möchte, weil ihm das Unmenschliche fremd bleiben könnte, dort wo es sich um die unverzeihliche Todsünde, die Schändung der Humanitätsidee handelte. Man hat den Einfluß der Tropen begriffen, der in derartigen Prozessen die Rolle des bekannten großen Unbekannten bei Diebstählen spielt, man hat den Charakter der schwarzen Kolonialbestie begriffen, man hat die hohen Pflichten und schwere Verantwortlichkeit eines schneidigen Assessors in den Kolonien begriffen, und so ist der Mann, der ein Mensch zu sein glaubt, weil er nach den Lehrbüchern zwar nicht der Zoologie, aber der Theologie, ein Un-Tier ist, mit einer Strafe davon gekommen, für die man sich noch nicht allzu starke Nachwächterbeleidigung leisten kann. Was Richter Comprende eben eigentlich begreift, war der Geist der liberalen Endherrlichkeit, der Verrath an dem Jugendideal* und der Jugendschöpfung* des Humanitätsprinzips.

Nicht überall gibt der Liberalismus allerdings seine Jugendüberzeugungen so schmählich auf. Hier und da zeigt sich eine Renaissance. Man möchte wieder gut machen, wieder zurücknehmen,

1340

wieder beleben. Ein Menschenalter hindurch hat der Liberalismus den Internationalismus abgeschworen. Wie er das abscheuliche Märchen gläubig nachgebetet hat, dass Deutschland nur durch Blut und Eisen hat einig werden können, während überhaupt nur ein größeres Preußen aus dem Blutmeer entstanden ist, nachdem deutsche Fürstenverblendung damals den einigenden Federstrich verhindert hatte, als nach den Freiheitskriegen der rechte Augenblick zu organischer nationaler Einigung sich darbot, wie er am blindesten der Bismarcklegende gefröhnt hat, der übrigens vom Standpunkt der herrschenden Klassen viel weniger klug war als der verachtete und verspottete Metternich, so hat der Liberalismus auch jenen Nationalkultus und die daraus erzeugte Nationalitätenzerklüftung getrieben, deren Folgen jetzt ihn abschreckten, jetzt, wo es zu spät ist. Man hat gemeint, das sich durch nationale Erhitzung die Volksmassen von ihren Interessen ablenken ließen. Nachdem man nun gesehen, daß diese Politik der Ablenkung vergeblich gewesen, erkennt man die große Dummheit, dass man nicht der rothen Internationale die geschlossene, internationale Phalanx des Besitzes entgegen stellte. Der deutsch-französische Krieg hat diese Möglichkeit wohl für immer vereitelt. Aber man erschöpft sich jetzt in Liebenswürdigkeiten gegen die ein Vierteljahrhundert lang unter dem Titel Erbfeind traktirten Franzosen, und während noch 1889 Begas, der Hoflieferant für Kunstsachen, ein zur Pariser Weltaustellung gesandtes Werk wieder bei Seite schaffen ließ, um oben nicht als Landesverräter zu gelten, wird heuer die Einladung zur Pariser Jahrhundert-Weltmesse mit stürmischem Dank angenommen und unverzüglich, in dem Scherzo-Prestissimo, dass bei uns als höchste energischste Regierungskunst gilt, ein Commissar ernannt und nach Paris geschickt. Es ist viel Wesens von einem freundlichen Figaro-Urteil gemacht worden, welcher den deutschen Kaiser wegen der Annahme der Einladung rühmte und den französischen Chanvins den Text las. Man sollte derlei Stimmungsprodukte nicht überschätzen. Derselbe Figaro hat bei der ersten Nachricht von dem Besuch der Kaiserin Friedrich diese als Sendbotin des Völkerfriedens gefeiert, um zwei Tage darauf sie höhnisch darauf aufmerksam zu machen, dass es sich für einen ungeladenen Gast nicht schicke, so lange das Strafrecht zu missbrauchen. Damals schloß dieses Völker-

1341

friedensfest damit, daß der deutsche Kaiser in den Ministerrath mit den Worten trat: Einen Pfiff und - wir marschieren! So wird man vielleicht alsbald mit hoher Genugthuung in der rue Droûot die eigens erfundene Meldung begrüßen, der deutsche Kaiser habe bereits zugesagt, die Weltausstellung von 1900 zu besuchen, um, bei übler Laune und wenn der Boulevard es so will, ein paar Tage später zu schreiben, es sei ja erklärlich, daß Wilhelm II., der die ganze Welt bereiste, es peinlich empfinde, dass ihm gerade das Herz der Welt verschlossen bleibe, indessen Paris sei nicht in der Lage, den Enkel Wilhelms I. anderswo zu empfangen als in - Berlin.

Immerhin sind Artikel, wie der des Figaro, ein Zeichen dafür, dass, man auch drüben den Instinkt der bedrohten Bourgeosie für die Zweckmäßigkeit internationaler Verständigung hat, und so kommt ein liberales Ideal doch noch zu Ehren, nachdem es zum Dogma der proletarischen Religion geworden ist, ohne dass man sich über die liberale Zeugungskraft Illusionen zu machen braucht. Es wäre aber in der That kein übler Gedanke, dies zur leitenden Grundidee der Pariser Jahrhundertfeier zu machen, der ja bis jetzt außer dem Kalendergedanken ein solches geistiges Band fehlt: den Versöhnungstag zu feiern der herrschenden Klassen aller Völker und unter dem Segen des schon nicht mehr allzu sehr verhängnißvolle Kriegspolitik zu begraben und auf ihrem Grabe im Geiste des großen Metternich die heilige Alliance weiter zusammenzuschließen gegen den wilden Atheistenklub der internationalen Sozialdemokratie. Dann könnte die internationale Lebewelt geruhsam und angstfrei sich in dem Vergnügungsparke tummeln, der angelehnt ist an die gewaltige Weltschau über die Schöpfungen geistiger und körperlicher Arbeit.

Tat-Twam

----------

*) Im Druck: "Tugendideal und der Tugendschöpfung", handschriftliche Korrektur von Freya Eisner.