Aufgaben der Räte

Rede auf der ersten Sitzung des Münchner Arbeiterrats am 5.12.1918
Nach: Münchener Neueste Nachrichten Nr.620, 8. 12. 1918

In der modernen Demokratie vollzieht sich die Demokratie so, daß die Massen ihre Wahlzettel abgeben und sich durch Parlamentarier und durch ein souveränes Parlament regieren lassen. Jeder hat die Möglichkeit, seinen Einfluß auf das Schicksal der Gesamtheit auszuüben, alle drei oder fünf Jahre. Dann gibt es noch Parteien, Vereine, Berufsorganisationen. Überall suchen sich Organe der Massen zu gestalten. Die neue Form, die aus der Revolution in Deutschland hervorgegangen ist, sind die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte, die den Namen von der russischen Organisation übernommen haben, aber in ihrem Wesen sehr verschieden sind von den östlichen Gebilden. In diesen Räten soll nun versucht werden, die unmittelbare Politisierung der Massen durchzuführen. Die Arbeiterräte sollen das Proletariat unmittelbar politisieren und zur Mitarbeit an der Gesamtheit heranziehen. Sie wissen, daß in wenigen Wochen die Nationalversammlung, der neue Landtag in Bayern, gewählt werden soll. Dieses Parlament wird genauso gestaltet sein wie alle Parlamente. Der Unterschied gegenüber anderen Parlamenten wird nur sein, daß es auf dem freiesten, weitesten und gerechtesten Wahlrecht der Welt beruht. Ich bin überzeugt, wenn wir verhindern wollen, daß auch die neue Demokratie sich in einem leeren unfruchtbaren Parlamentarismus verliert, die Berufsparlamente, die Räte, daneben lebendig bleiben müssen. Sie werden die Organisationen der Wähler sein, nicht so, als ob nun über dem Landtag eine neue Oberaufsicht wäre und eine höhere Gewalt eingerichtet würde. Die Nationalversammlung oder der Landtag muß souverän sein; aber die Arbeiter bilden ihr eigenes Parlament, sie verhandeln ihre eigenen Angelegenheiten. Gerade für die Übergangszeit gibt es eine so unermeßliche Fülle neuer Arbeit, neuer Gedanken, neuer Probleme, daß, wenn erst einmal die Arbeiterräte zu arbeiten angefangen haben werden, sie sich kaum vor der Fülle der Arbeit zu retten wissen werden. Sie sollen eben nicht alle paar Jahre einmal wählen, sondern unmittelbar mitarbeiten müssen. Sie können die gesetzgeberischen Vorschläge machen, nicht hinter den Türen der Fraktionszimmer, auch nicht durch die Führer und durch die Regierung, sondern sie sollen selbst unmittelbar ihre gesetzgeberischen Vorschläge, ihre Anregungen und Beschwerden unterbreiten.

Aber die Arbeiterräte sollen noch mehr sein. Sie sollen Aufsichtsorgane des gesamten öffentlichen Lebens des Bezirkes, in dem sie eingesetzt sind, sein. Sie sollen das öffentliche Leben kontrollieren, sie sollen sich mit der Tätigkeit der Regierung und auch der Selbstverwaltung beschäftigen, nicht als Exekutivorgane, aber als Kontrollorgane, als kritische Organe, kurz, das gesamte öffentliche, politische und soziale Leben soll in seiner ganzen Öffentlichkeit erörtert und kritisiert werden. Bisher leistete einen Teil dieser Arbeit die Presse. Die Arbeiterräte sollen eine Art lebendige Presse sein. Sie sollen ein Zentralorgan sein, von dem das gesamte öffentliche Leben unseres Bezirkes zur Rechenschaft und zur Verantwortung gezogen wird. Von hier aus soll Kritik, Anregung und schöpferische Mitarbeit ausgehen.

Nur eine solche Demokratie, in der die breitesten Massen jeden Tag mitarbeiten an den öffentlichen Angelegenheiten, leistet jene erzieherische Arbeit, ohne die wir zu unseren sozialistischen Zielen nicht gelangen können. Die bisherige Bürokratie ist ganz unbrauchbar gewesen. Wer Gelegenheit hatte, ins Innere dieser Bürokratie hineinzublicken, der verzweifelt fast daran, wenn man sieht, daß diese - gewiß fleißigen - Arbeiter nichts zu leisten imstande sind. Wir wissen es, und dies erklärt auch einen großen Teil unserer Schwierigkeiten, wie wir sie in Berlin haben. Es fehlt uns an energischen Persönlichkeiten, die Weitblick und Mut haben und entschlossen sind, etwas zu wagen, und die sich durchzusetzen vermögen.

Der Gegensatz zwischen Führern und Massen, der bisher uns beherrscht hat, soll verschwinden. Jeder soll lernen, selbst ein Führer zu sein. Das ist die große Erziehungsarbeit, die diese Räte leisten müssen. Und wenn jeder dann ein Glied der Gesellschaft geworden ist, das fähig ist, mitzuarbeiten an den Aufgaben der Gesamtheit, dann ist jene Vorbedingung erfüllt, die den Sozialismus ermöglicht. Die Übernahme der Produktion durch die Gesamtheit setzt zweierlei voraus: einmal die Reife der Wirtschaft, die vollkommene Entfaltung der produktiven Kräfte. Die andere Vorbedingung ist, daß, wenn die Gesellschaft selbst die Produktion übernimmt, sie auch in allen ihren Gliedern fähig ist, diese Produktion zu leiten. Dann brauchen wir keine Unternehmerintelligenzen mehr, wenn jeder selbst eine Unternehmerintelligenz geworden ist. So können diese unscheinbaren Gebilde der Arbeiter- und Bauernräte Pflanzschulen zur Erziehung der Männer sein, die einst berufen sein werden, an der Vergesellschaftung der Produktion mitzuarbeiten.