Um Manchester

(Aus: Die Kritik. Wochenschau des öffentlichen Lebens, Berlin, III. Jg., Nr.98, 15.8.1896, Provinzialbrief VII)

Die journalistischen Gewerbegehilfen unserer Zeitungsverleger haben soeben wieder einmal ihrer vertragsmäigen Pflicht genügt und übereinstimmend das jämmerliche Fiasko des Londoner sozialdemokratischen Kongresses festgestellt. Sie stellen dies fest, solange es derartige Kongresse gibt, und sie werden es auch fürderhin feststellen, bis eines Tages etwa die Chefs zur Einsicht gelangt sind, es sei bereits vom kaufmännischen Standpunkt klüger, den Übergang ins feindliche Lager zu vollziehen. Dann wird man mit demselben kritiklosen Ramschurteil einen unerhört glänzenden Erfolg nach dem andern feststellen. Es ist begreiflich, daß man sich eine derartige Zwangskritik möglichst zu erleichtern sucht, und so hat man sich begnügt, etliche grobe Äußerlichkeiten zum Beweise des a priori gegebenen Urteils hervorzuheben, während man sich keine Mühe gab, wirklich wunde Stellen zu erspähen. Sonst hätten sie wohl, anstatt sich sofort wieder auf Kanzlerkrisen und ähnliche weltbistorische Probleme zu stürzen, noch einen Augenblick bei einer äußerst bedeutsamen Erscheinung verweilt, die auf dem sozialdemokratischen Kongreß jäh hervortrat, und zwar so unvermutet, daß sie die Teilnehmer überrumpelte und sie unvermögend machte, das plötzlich entstandene Problem zu bewältigen. Es war die Frage des "geistigen Manchestertums", der sich der Kongreß nicht gewachsen zeigte, und die doch wichtig genug ist, daß sie auf den nationalen Parteitagen einer ernsthaften Erörterung unterzogen würde.

Am fünften Verhandlungstag beschäftigte sich der Kongreß mit der Bildungs- und Erziehungsfrage, und der Ausschuß empfahl in erster Linie folgenden Vorschlag: "Der Kongreß erkennt zwar in Sachen der Erziehung den Wert der individuellen Leistung an, erklärt es aber für eine wesentliche Pflicht der öffentlichen Gewalten eines jeden Landes, ein vollständiges Unterrichts- und Erziehungssystem zu schaffen, das unter demokratischer Kontrolle steht und alle Bildungsanstalten vom Kindergarten bis zur Universität umfaßt (physische, wissenschaftliche, künstlerische, technische [Handarbeitsunterricht] Ausbildung). Diese Bildungsanstalten sind völlig unentgeltlich, und die öffentlichen Gewalten kommen durch Stipendien für die Unterhaltskosten der fähigen Zöglinge auf, damit die getroffenen Einrichtungen allen Gesellschaftsgliedern zugänglich sind." Der Antrag schien unanstößig, ja selbstverständlich. Da ließen die Engländer durch Keir Hardie den Zusatzantrag auf Streichung des Wortes "fähigen" stellen und verlangten, daß auch die höheren Bildungsanstalten allen ohne Unterschied der Befähigung zugänglich gemacht werden sollen. Den Deutschen erschien dieser Vorschlag, der von den berühmten praktischen Engländern kam, geradezu als verrückt, als eine naturwidrige und mißverständliche Übertreibung des Gleichheitsprinzips, und sie erklärten sich demgemäß mit selbstgewisser Energie gegen das Amendement. Keir Hardie aber bezeichnete diese Opposition als einen Ausfluß des - Manchestertums, dem man im Geistigen wider das sozialistische Prinzip fröne, und - seltsam! - sein Antrag wurde mit 14 gegen 6 Stimmen (darunter die der Deutschen) angenommen. Die Deutschen waren so empört über den phantastischen Einfall, daß sie wegen des Amendements gegen den ganzen Antrag stimmten.

Man war hier unversehens auf ein prinzipielles schwieriges Problem gestoßen, und es gelang nicht, beim ersten Anprall gleich zur Klarheit sich durchzuringen. So entstand der schroffe Gegensatz in der Abstimmung, der schroffste während des ganzen Kongresses. Indessen, es ist nicht mehr möglich, nachdem sich das Problem einmal erhoben hat, künftig an ihm vorbeizuschleichen, und man wird es zur Lösung bringen, auf die Gefahr hin, die Grundanschauungen revidieren zu müssen. Wie steht es um den freien Wettbewerb im Geistigen? War die Mehrheit des Kongresses in dieser Frage konsequent sozialistisch, und offenbarte sich bei den Deutschen ein Rest rückständigen Manchestertums, oder waren diese Realisten, jene Utopisten?

Die Deutschen haben in London abgestimmt, wie es ihr Erfurter Programm verlangt: "Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den öffentlichen Volksschulen, sowie in den höheren Bildungsanstalten für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die kraft ihrer Fähigkeit zur weiteren Ausbildung geeignet erachtet werden". In den parteioffiziellen Erläuterungen des Programms wird die Forderung hinzugefügt: "Werden ferner die Befähigten unentgeltlich die höheren Lehranstalten besuchen, so fällt das heute bestehende Vorrecht der Besitzenden auf die wissenschaftliche Bildung. Unter den jetzigen Verhältnissen sind dem Proletarier Tür und Tor dazu verschlossen, und nur ein seltener Glücksfall verschafft ihm Zutritt. Aber dies ist ein Treffer unter unzähligen Nieten. Die bürgerliche Gesellschaft läßt Tausende verderben, die kraft Begabung in Kunst und Wissenschaft Vorzügliches geschaffen hätten, in der Tretmühle der Lohnknechtschaft gehen die besten Köpfe jämmerlich zu Grunde."

Kein Zweifel, daß hier das reine Manchestertum in der geistigen Konkurrenz unbedingt proklamiert wird, und wenn auch die Bildungsfrage im Erfurter Programm nur zu den Gegenwartsforderungen gehört, die des streng sozialistischen Charakters entbehren, so fragt sich andererseits eben, ob es sich nicht in der Tat um eine Frage des Prinzips handelt. Es ist begreiflich, daß gerade auf dem Gebiet der Erziehung Freisinnige und Sozialisten Nebenbuhler sind und sich gegenseitig Lehrerfang vorwerfen können. Diese Forderung gehört in der Tat zu denen, die man ungeläutert aus der liberalen Erbschaft übernommen hat, wie denn die liberale Lehrerschaft fast durchweg auf der Forderung der Einheitsschule in organischem Aufbau verharrt. Die Sozialisten bekämpfen hier nicht das freie Spiel der Kräfte, sondern sie wollen es wirklich frei machen. Sie streben, im Geistigen das Manchestertum zur ungehemmten Enthüllung zu bringen, sie sind in der Tat, es ist nicht zu leugnen, in der Bildungsfrage Liberale, und was sie wünschen, ist nichts anderes als ein Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren geistigen Wettbewerbs, der sich des unlauteren Mittels des Kapitals bedient, um die lauteren Konkurrenzmittel des Intellekts zu ersetzen und zu entkräften. Unsere Sozialisten können sich nicht ohne guten Grund auf diese Forderung berufen, wenn man sie öder Gleichmacherei, der Erstickung der Individualität und der vandalischen Nivellierung des Hervorragenden beschuldigt. Ja, es scheint sogar, als ob sie nur Sozialisten sind, um wahrhaft Liberale sein zu können, gleichwie sie noch immer unter der Parole Freiheit marschieren. Es zeigt sich wieder einmal, wie alle Scheidungen, mögen sie noch so schroff scheinen, im Grunde nichts sind als innige Verbindungen.

Indessen, damit ist das Problem nicht erledigt. Man mag zugeben, daß die Gegenwartsforderung nicht anders lauten kann, daß in Wahrheit den Sozialisten noch die merkwürdige Aufgabe verblieben ist, die liberale Idee des freien Spiels der Kräfte zu realisieren. Aber wie verhält es sich mit der prinzipiellen Entscheidung? Ist der freie geistige Wettbewerb, der nur durch die natürlichen, immanenten Mittel bestimmt und bewehrt wird, auch der sozialistischen Weisheit bester Schluß, und sind die Nationen, die in London auch im Geistigen dem Prinzip des Manchestertums abschworen, Narren aus Nirgendheim und Phantasten?

Die Antwort ist nicht leicht, sie muß aber gewagt werden. Sie kann von der sozialistischen Anschauung der Gleichberechtigung aus, welche keineswegs die Gleichheit, sondern die Gerechtigkeit bedeutet, nicht anders lauten: Das Manchesterprinzip muß auch im Geistigen überwunden werden, sofern und soweit es sich in gesellschaftlichen Institutionen verkörpert. Scheidet man selbst die kapitalistischen Hemmungen aus und gelangt zu der sogenannten natürlichen Auslese der Kapazität, so ist damit eine neue und kaum minder schlimme Quelle der Ungerechtigkeit und Unterdrückung eröffnet. Der Begriff der Fähigkeit erschöpft sich nicht in einer Wesensbestimmung. In der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Fähigkeiten sind es keineswegs die wertvollsten Qualitäten, die in dem an schulmäßige Organisationen gebundenen geistigen Wettbewerb die stärksten sein würden. Der Zufall des Besitzes würde dann zwar, wenn das reine Bildungsmanchestertum zum Siege gelangt ist, als Hemmung natürlicher Auslese beseitigt sein, an seine Stelle würde der Zufall des Besitzes ganz bestimmter im geistigen Wettkampf überlegener Fähigkeiten treten und damit abermals eine höchst unnatürliche Auslese entstehen. So zeigt es sich, daß der Sozialismus es nicht nötig hat, sein Grundprinzip zu durchbrechen und in der Bildungsfrage das Manchestertum als fremden Gast zu beherbergen. Er kann und muß konsequent sein. Das freie Spiel der Kräfte darf niemals das Prinzip gesellschaftlicher Organisationen und Institutionen sein, es ist allein berechtigt als individuelle Triebkraft. Der Sozialismus ist nicht nur ein Ideal, ein schöner Traum, ein frommer Wunsch, er ist eine Notwendigkeit selbst dann, wenn er nur ein Notbehelf sein sollte. Garantierte jene manchesterlich organisierte, auf die Fähigkeit aufgebaute Schulordnung wirklich die natürliche Auslese, so wäre sie schließlich zu billigen, obwohl damit die sozialistische Anschauung durchbrochen wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Die sogenannte freie Konkurrenz zeigt auch hier ihre innere Unwahrheit und Absurdität, sie entpuppt sich nicht minder im Geistigen wie im Wirtschaftlichen als Truggebild, hinter dem die Unfreiheit, die Despotie der Willkür sich verbirgt. Es ist unmöglich, mit diesem Prinzip vernunftgemäß zu organisieren. Einrichtungen der Gemeinschaft können nicht auf ihm beruhen. So bleibt gar kein anderer Ausweg, mögen wir uns noch so sehr sperren, als prinzipiell anzuerkennen, daß alle Bildungsinstitute der Gesellschaft, von dem Kindergarten bis zur Universität, jedem Mitglied dieser Gesellschaft eröffnet werden, unabhängig nicht nur vom Besitz, sondern auch von der Fähigkeit. Nur so schrumpft die Ungerechtigkeit auf das Mindestmaß zusammen.

Daß diese Forderung auch den Radikalsten unerhört und unerfüllbar erscheint, das bezweifelt niemand, der da weiß, wie unausrottbar tief trotz aller sozialistischen Überpinselungen die manchesterliche Weltanschauung zäh in uns haftet. Gleichwohl ist sie unbedingt notwendig und, klar geschaut, auch keineswegs so ungeheuerlich. Sie verlangt nichts weiter, als daß die gesellschaftlichen Institutionen den Bedürfnissen der Gemeinschaft ohne irgendeine Ausnahme angepaßt werden. Die Differenzierung und Individualisierung ist Sache des Einzelnen. So wird auch jene konsequente Schulforderung so wenig zur Verflachung und Verödung führen, wie sie auf dem Irrgedanken schablonenhafter Gleichheit beruht; sie wird vielmehr erreichen, daß auf dem erhöhten Niveau der Gemeinschaft die Aussonderung der Einzelnen beginnt. Individuelle Steigerung entzieht sich schulmäßigem Betrieb, sie ist Kunst, Vereinzelung, die einzige wahrhaft natürliche Auslese. Gemeinschafts-Institutionen, Realschulen, Gymnasien, Universitäten, gehören der ganzen Gemeinschaft, jede Auslese innerhalb dieser Gemeinschafts-Institutionen ist unnatürlich, gemeinschaftswidrig, antisozialistisch, manchesterlich im schlechtesten Sinne. Die Individualisierung beginnt erst, wo die Gemeinschafts-Institutionen aufhören. Dort auf der Höhe, jenseits der Gemeinschaft und ihrer Einrichtung oberhalb der Massenvegetationsgrenze hebt erst das freie Spiel der Kräfte an, das nun nicht mehr gesellschaftsfeindlich wirken kann, weil es sich außerhalb der Gesellschaft mit ihren Rechten und Pflichten tummelt, im unumschränkten Machtbereich des Individuums. Das ist die einzige prinzipielle Möglichkeit, zu der sich der Sozialismus bekennen kann, jeder andere Weg führt in die Irre. Es ist aber auch klar, daß dieser einzig mögliche Weg zugleich aufwärts in der Kulturentwicklung führt, mag man immerhin in den individuellen Gipfelungen, nicht in der Höhe des Massenniveaus den Grad der Kultur ablesen wollen. Denn es ist ein Wahn, daß das eine ohne das andere möglich wäre.

Sollte man etwa den Einwand der mangelnden Begabung erheben, so gilt dieser ebensosehr auf der niedrigsten Stufe wie auf der höchsten, er spricht gleichermaßen gegen die allgemeine Volksschule wie gegen die allgemeine Universität. Man würde zweifellos auch den Gedanken der allgemeinen Volksschule für utopisch und naturwidrig erklären, wenn wir sie nicht zufällig besäßen, dank jener erleuchteten Zeiten, da man noch an Prinzipien und an Vernunft glaubte. Für schwachsinnige Individuen sind gesellschaftliche Institutionen ebensowenig geschaffen wie für geniale. Sie haben ihren Geltungsbereich in der breiten gemaßigten Zone des Normalen. Absonderungen unterhalb und oberhalb entwurzeln nicht diese Machtsphäre der kommunistischen Organisationen.

Dergestalt muß zugestanden werden, daß auf dem Londoner Kongreß die Mehrheit auch in der Bildungsfrage instinktiv das Richtige getroffen hat, wenn sie auch schwerlich den Horizont ihres Beschlusses gesehen hat. Als Augenblicksforderung mag die Anschauung der Minorität, welche von den Deutschen geführt wurde, zweckmäßig sein - das wäre noch näher zu untersuchen -, prinzipiell darf darüber füglich kein Zweifel sein, daß das Manchestertum auch in den Bildungs- und Erziehungsinstitutionen der Gesellschaft keine Berechtigung hat. Die Sozialdemokratie wird über dieses Problem, durch das sie heuer aus dem Hinterhalt überfallen wurde, einig werden müssen und, wenn sie klare Einsicht gewinnt, auch einig werden können.