Rede Kurt Eisners auf der Arbeiter- und Sozialistenkonferenz in Bern,
3. bis 10. Februar 1919.

Dienstag, 4.2.1919, vormittags

Die Worte, die unsere französischen Freunde hier gesprochen, mögen vielleicht manchem streng geklungen haben, aber ich glaube, diejenigen, die feinere Ohren haben, die haben aus ihren Anklagen mehr Klagen gehört, und vor allen Dingen klang aus ihnen, darin glaube ich mich nicht zu täuschen, das tiefste Bedürfnis, daß aus dieser ersten Zusammenkunft der Internationale der Anfang des neuen Völkerbundes hervorgehen möchte. Ich habe die feste Zuversicht, daß diese erste Aussprache der bisher Getrennten nicht ohne Erfolg sein wird. Niemand von uns, glaube ich, hat einen so festen und sicheren Drang, daß wir uns verständigen, als diejenigen, die zuerst verlangten, daß Klarheit und Wahrheit sein müßten.

Ich stimme meinem Freunde Thomas zu, daß die Internationale ein wesenloses Werkzeug, ein neuer Trug wäre, wenn sie nicht beruhte auf dem sicheren gegenseitigen Vertrauen. Deshalb können und wollen wir Deutschen dieser Aussprache nicht ausweichen. Wir brauchen die neue Internationale, denn der Sozialismus pocht an die Türe, nicht mehr als Programm einer ferneren Zukunft, sondern als unmittelbare Aktion. In diesem weltgeschichtlichen Augenblick müssen die Sozialisten einig sein. Sie müssen sich klar sein über das, was wir wollen, wohin wir gehen, mit welchen Mitteln wir zu dem Ziele kommen wollen. Wenn diese Einigkeit nicht möglich ist - ich lege weniger Gewicht auf die formale Einigkeit, als auf die sachliche Einheit der Gedanken und des Willens - dann ist unsere Internationale verloren, dann diktiert man uns vielleicht den Völkerbund, aber nicht wir sind es, die ihn schaffen.

Die Aussprache, die wir hier als Eingang unserer Verhandlungen pflegen, sie sollte vor allem eines erreichen. Wir müssen uns herausdenken, wir müssen uns herausheben aus dem Wahnsinn und aus der Lüge dieser Zeit. Nur wenn wir uns so ganz herausgedacht und herausgehoben haben, ist es für uns möglich, zum neuen Aufbau zu schreiten.

Parteigenossen, es wird nicht leicht sein, heute zu sprechen. Ich gehöre einem besiegten Volke an, und so sehr ich vor einem Jahr bereit gewesen wäre, die schärfsten Anklagen zu erheben, so sehr widerstrebt es mir, heute nach dem Zusammenbruch die billige Arbeit zu leisten, Steine zu werfen auf das, was bereits tot ist. Aber noch aus einem andern Grunde widerstrebt es mir und wird es mir schwer, heute über diese Dinge zu sprechen. Ich bin im Innersten überzeugt, daß das deutsche Volk eine einheitliche Sozialdemokratie braucht. Es war mein erstes Wort, das ich in der Revolutionsnacht vom 7. auf den 8. November sprach, daß nun, nachdem das alte System gestürzt, es Aufgabe der Massen in Deutschland sei, einig zu sein. Wie ich vorhin als die Vorbedingung unserer neuen lnternationale die Einigkeit der Völker untereinander forderte, so ist eine Voraussetzung für uns in Deutschland - wenn wir nicht in Zukunft den Entbehrungen dieser Jahre erliegen sollen, wenn wir unsern Beitrag zum Aufbau des Sozialismus geben können und sollen -, daß wir einig sind. Wieder lege ich keinen Wert auf die Einigkeit in der Organisation, da mag (sic!) Hirn und Herz auseinanderstreben, aber wir brauchen die innere geistige Einheit. Und wenn ich einen Ehrgeiz hatte, so den, daß wir Deutschen unsere schwerc Schuld, die wir alle mitzutragen haben, dadurch sühnen, daß wir auf dem Wege zum Sozialismus voranschreiten, klar, besonnen, sicher unserer Ziele und sicher unseres Wegs. Das können wir nur gewinnen, wenn wir diese innere sachliche) Einigkeit erringen.

Und nun (soll) ich Anklage erheben gegen diejenigen, mit denen wir vor dem Kriege Schulter an Schulter kämpften? Ich glaube, Parteigenossen, Sie im Auslande haben die große Umwälzung, die in Deutschland stattgefunden, nicht recht erfaßt.

Die Kapitalisten und Imperialisten der Entente haben unsere Revolution gar nur eine neue ekelhafte Form von Camouflage genannt. Das ist nicht wahr. Wer heute in Deutschland lebt, der weiß, daß die Massen im tiefsten umgewühlt sind, daß nirgends der Drang nach Demokratie so stark und lebendig ist wie bei uns, und nirgends der Wille und die Sehnsucht, die neue Volksherrschaft im sozialistischen Geiste zu realisieren. Wir sind neu geworden, und ich lege keinen Wert darauf zu behaupten, daß wir die Alten geblieben sind. denn dann wäre ja die Frage zu untersuchen, was wir Alten gewesen seien. Dieser Auffassung der Dinge in Deutschland widerspricht auch nicht die vielleicht überraschende Erscheinung, daß den größten Erfolg bei den letzten Wahlen für die einzelnen Landtage wie für (die Nationalversammlung) die Richtung der Sozialdemokratie gehabt hat, die die Kriegspolitik der gestürzten Regierungen wenn nicht gefördert, so doch, um ganz zurückhaltend zu sprechen, mindestens nicht gebrochen hat. Die (10-12) Millionen-deutscher Wähler, die für die Mehrheit der Partei gestimmt haben, sind die Schwurzeugen dafür, daß der Sozialismus in Deutschland seine Pflicht getan hat während des Krieges. Haben sie die Politik der Mehrheitspartei bestätigt? Wenn dem so wäre, dann würden die recht haben, die behaupten, es habe sich in Deutschland nichts geändert. Aber wer wie ich in die Wahlagitation gegangen ist und gerade in jenen Gegenden gesprochen hat, in denen bisher von Sozialismus keine Rede war, der weiß, daß die Massen aus ganz andern Motiven so gewählt haben, wie sie es taten. Sie haben nicht Führer gewählt, sie haben Sozialdemokraten gewählt, sie haben die Einheit der Partei gewählt, und weil es ihnen schien, als ob die dem Namen nach unveränderte Sozialdemokratie die Einheit darstellte, haben sie die Mehrheit gewählt, aber in diesen Mehrheitswählern verwirklicht sich die schärfste und schroffste Opposition gegen die Kriegspolitik, denn der Erfolg der Sozialdemokratie bestand darin oder wurde danach erzielt, daß die Agitatoren der Sozialdemokratie in den Wahlkampf gingen mit Anklagen gegen das alte gestürzte System.

So, Parteigenossen, erklärt sich die nicht ganz leicht zu verstehende Erscheinung. Draußen auf dem Lande bekümmerte man sich nicht um den Streit der Richtung, aber man wollte die Stimme erheben, gegen das, was geschehen war, gegen die Regierungen und Fürsten, gegen die Kriegspolitik, gegen die Kriegsschuldigen, und deshalb wählte man, ohne viel darüber nachzudenken, welche Richtung der Sozialdemokratie, sozialdemokratisch. Für die Richtigkeit meiner Behauptungen kann ich Ihnen einen Beweis geben. Mir selbst ist es begegnet, daß in einem bisher klerikalen Wahlbezirk die Parteigenossen, die auf der äußersten Linken standen und geneigt waren, sich Spartakisten zu nennen, bei den Landtagswahlen in Bayern die Mehrheit wählten und bei den Wahlen für die Nationalversammlung die Minderheit, die Unabhängigen, weil sie sagten, wir sind alle einer Meinung in Deutschland, und wir wollen alle die Einheit einer Partei, und deswegen kümmern wir uns nicht um die Zerreißung der Organisation und wählen binnen acht Tagen heute die eine Richtung und nach acht Tagen die andere, um gerecht zu sein. Aber, Parteigenossen, Sie haben die Rede von Wels gehört und nun werden Sie mich einen Optimisten nennen, denn die (Rede) des Parteigenossen Wels schien allerdings völlig alten Geistes. Ich weiß nicht, ob Wels mit dieser Rede in die Wahlagitation gegangen ist. Bei uns in Bayern hätte er damit sicher keinen Erfolg gehabt. Ich muß bekennen, daß die Ausführungen von Wels ihren Zweck nicht enthüllt haben. Was wollte er uns mitteilen? Welche Absichten verfolgte er? Wollte er uns erklären, warum die deutschen Parteigenossen sich im August 1914 geirrt haben? Das würde ich verstehen. Es haben sich viele geirrt, (vielleicht alle), aber guten Glaubens. Wollte er nur das sagen, oder wollte er sagen, daß - die Beweisführung schien beinah darauf hinzudeuten - im Grunde die Politik der Mehrheit richtig war, daß die deutsche Regierung nicht besonders verantwortlich war? Was hatten alle seine Zitate und Beweise für einen Zweck, wenn er das nicht zeigen wollte? Aber Parteigenossen, wenn er diesen Beweis heute führen wollte, welches moralische Recht hatte dann die revolutionäre Erhebung gegen das alte System? Dann sähe es ja beinah aus, als ob die Revolution nichts anders gewesen wäre, als eine neue Form des Krieges. Als die Herrschenden in Deutschland die Starken waren und als die kommenden Sieger erschienen, da ging man im Kriege mit ihnen zusammen, und als sie die Schwächeren waren, als sie zusammenbrachen, da versetzte man ihnen den Todesstoß, da verließ man sie. Das wäre doch die logische Konsequenz, daß man nicht aus moralischer Empörung das herrschende System in Deutschland gestürzt hätte, sondern nur die gute Gelegenheit benutzt hätte, als die Herrschenden ohnmächtig und schwach sich erwiesen. Was wollte also Genosse Wels? Wollte er Ihnen nur erklären, warum wir in Deutschland diesem Irrtum unserer Politik verfallen waren? Dieser Kampf gegen den Zarismus, der uns am Anfang des August 1914 gepredigt wurde, hat viele von uns verwirrt. Die deutsche Regierung von damals hatte ihre Netze listig genug ausgespannt. Bei uns in Bayern verkündete uns die Regierung in vertraulichen Besprechungen seit dem November 1912 den drohenden Überfall durch Rußland. Und als im Sommer 1914 die Ereignisse sich zusammenballten, als ich am Anfang der Woche, an deren Ende die Mobilmachung erfolgte, in München in einer Protestversammlung sprach, da war auch ich ganz von dem Gedanken erfüllt, daß uns ein Überfall durch den zaristischen Imperialismus drohe. Damals rief ich unsere französischen Freunde - acht Tage vor dem Kriege - auf, in der Annahme, daß uns unsere Regierung diesmal nicht angelogen habe, uns zu helfen gegen den Einbruch der Barbarei vom Osten. Sie sehen also, das konnte man begründen. Das wäre nicht unsere Schuld, und ich teile ganz die Auffassung, die gestern Freund Renaudel ausgesprochen hat, daß es die Aufgabe der Sozialdemokratie jeden Landes sei, sich gegen den Angriff zu wehren und die Regierung zu stürzen, die den Angriff vorbereitet. Darüber waren wir bisher auf allen internationalen Kongressen einig.

Ich erinnere mich an Jaurès' Ausführungen in Stuttgart. Jaurès hat damals auch das Kriterium angegeben, nach dem man sofort und sogleich entscheiden konnte, wer der Angegriffene sei und wer der Angreifer. Er sagte, wer in der Vorbereitung eines Krieges während der katastrophalen Zeiten vor der Katastrophe das Angebot eines Schiedsgerichtes ablehnt, der steht vor der Geschichte als schuldig und als Angreifer da.

Parteigenossen, ich sagte Ihnen, um Ihnen zu erklären, und damit Sie auch dem deutschen Volke Gerechtigkeit widerfahren lassen, damals im August, da konnten viele, vielleicht alle, im Irrtum sein, und wenn trotzdem schon damals in der sozialdemokratischen Fraktion eine Anzahl Mitglieder gegen die Bewilligung (der Kriegskredite) stimmten, so nicht aus der Beurteilung der Kriegsschuld, sondern aus rein grundsätzlichen Erwägungen. Sie wollten unter allen Umständen, gleichgültig, wie der Krieg gelagert war, gegen die Kriegskredite stimmen.

Parteigenossen! Ich war nicht in Berlin beim Ausbruch des Krieges, aber als ich das erste deutsche Weißbuch las, da war es mir schon beinah klar, daß wir getäuscht worden waren, und nach wenigen Wochen war ich über die Ursache, Schuld und Verantwortlichkeit dieses Krieges nicht mehr im Zweifel. Ich glaube, es gibt keinen Krieg der Weltgeschichte wie diesen letzten und furchtbarsten, in dem schon während der Kriegshandlungen die volle geschichtliche Klarheit über den Krieg jeder erkennen konnte, der sie erkennen wollte. Aber Genosse Wels scheint heute noch anzunehmen: Nun ja (überall) herrscht Kapitalismus; darin berühren sich unsere Mehrheitler mit den Deutungen der Bolschewisten, daß der Kapitalismus diesen Krieg gemacht habe, daß hüben wie drüben Schuldige und Verantwortliche und Mitschuldige seien, (daß wir eigentlich alle zusammen Sünder seien), also reichen wir uns die blutbefleckten Hände, als wäre gar nichts geschehen. Mit dieser Auffassung habe ich nichts gemein. Ich halte es für unmöglich, daß wir ohne klare Erkenntnis dessen, was war, ohne noch einmal in das Entsetzen zurückzublicken, ohne mit den Wimpern zu zucken, vorwärts kommen.

Parteigenossen! Jene merkwürdigen Ausführungen von Wels, die darauf hindeuteten, als ob wir alle schuldig seien, Franzosen, Engländer, Amerikaner und Italiener, weil überall der Kapitalismus herrscht und daß wir vielleicht, bedroht durch den Zarismus, noch die Unschuldigsten seien von allen - ich glaube, daß diese Auffassung von Wels noch weit zurück ist hinter der Auffassung unserer Bürgerlichen in Deutschland. Ich habe oft während der letzten Monate mit Bürgerlichen über die Schuldfrage gestritten, seit ich aus dem Gefängnis beurlaubt war, und was antworteten sie mir immer? Sie leugneten nicht mehr die deutsche Kriegsschuld, aber sie erklärten, ja was können wir denn dafür, daß wir viereinhalb Jahre angelogen worden sind? Das sagten selbst die Bürgerlichen in allen Schichten, und niemand war mehr unklar darüber, wie dieser Krieg über uns kam. Die Bürgerlichen wollten lieber als Einfaltspinsel und Schwachsinnige erscheinen als vor den Wählern die Verantwortung übernehmen, daß sie sehenden Auges die Kriegspolitik in vollem Bewußtsein ihres Wesens unterstützt hätten.

Ich glaube, unsere Parteigenossen von der Mehrheit waren nicht gut beraten, als sie sich entschlossen, jene alten Reden zu wiederholen, die wir in zwei oder drei Kriegsjahren gehört haben, als sie ihre Kriegspolitik verteidigten. Daß sie zwölf Millionen Wähler hinter sich haben, das beweist nichts für ihre Politik. Die Wahrheit ist kein Multiplikationsexempel. Ich glaube, daß unsere Parteigenossen von der Mehrheit wegen des Zwanges der Verhältnisse, unter dem Drucke der Niederlage, unter den Forderungen dieser Stunde sich nicht widerwillig zu einem Zugeständnis bewegen lassen sollen. Das wünsche ich nicht. Die Sache ist zu ernst und zu heilig, als daß sich in diesem Augenblicke jemand widerwillig einem Zwange füge. Sie sollen nicht als Büßer hier erscheinen, das wünschen wir nicht, denn das wäre keine Reinigung unserer Sache, aber sie sollten sich, und darum bitte ich sie, überlegen, ob sie nicht wirklich viereinhalb Jahre in einem Taumel der Irrungen gefangen gewesen seien. Denn so, glaube ich, war es, und das erklärt vielleicht ihre Haltung. Nachdem die ersten falschen Schritte getan, da konnten sie nicht mehr los, und sie fürchteten sich, wenn sie doch umkehren würden, wenn sie in dieser schwierigen Lage Deutschlands in die Opposition gingen, dann würde das deutsche Volk, irre geworden an seiner guten Sache, zusammenbrechen. Vielleicht erklärt diese wohlwollende Deutung ihren Irrtum. Aber nun haben doch auch sie erkannt, daß man keine Welteroberungspolitik auf einer Lüge, auf einer Täuschung aufbauen kann. Sie haben erkannt, daß sie, wenn sie nicht getäuscht worden sind über das Wesen dieses Krieges, so doch sicher betrogen worden sind über seine Aussichten. Das Opfer ihrer internationalen Gesinnung, das sie gebracht haben und das sie vielleicht in guter Absicht gebracht haben, das war ja umsonst. Ja noch mehr! Sie haben durch ihre Haltung im Zusammenbruch Deutschlands noch zu Ungunsten des deutschen Volkes gewirkt. Sie haben den moralischen Kredit des Deutschen Volkes untergraben. Ich sagte schon im Herbst 1914, als ich in Berlin eine allgemeine Kriegsbesessenheit vorfand, wir wollen heute nicht entscheiden über das Wesen dieses Krieges, aber die Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie ist, wie immer die Lose des Krieges fallen mögen, im Augenblick der Entscheidung fähig zu sein - wenn Deutschland stürzt - moralisch zugunsten Deutschlands zu wirken, und diese stärkste Rüstung Deutschlands und des deutschen Volkes, die haben sie uns genommen. Ich mag nicht eingehen auf die Einzelheiten der Vergangenheit. Es steht heute fest, daß dieser Krieg von einer kleinen Horde (preußisch-)wahnsinniger Militärs in Deutschland, die verbündet waren mit Schwerindustriellen und Weltpolitikern, Kapitalisten und Fürsten, gemacht worden ist, und zwar ohne jede politische Voraussicht und ohne jede militärische Einsicht. Das Rätsel dieses Weltkrieges löst sich, wenn man die Seelen und die Gehirne unserer leitenden deutschen Militärs kennt.

Warum taumelten sie denn in den Krieg wie in ein Abenteuer? Weil sie so fest überzeugt waren von dem raschen Siege Deutschlands, daß sie es gar nicht für nötig hielten, politische und militärische Voraussicht zu bewahren.

Parteigenossen! Woher kam es denn, daß ich als einer der ersten dieses Verbrechen erkannte, das mit dem deutschen Volke, an dem deutschen Volke und an der Welt begangen ward! Weil ich die deutsche Militärliteratur studiert hatte. Sie verstehen diesen Krieg nicht, wenn Sie nicht die ungeheure Gewissenlosigkeit militärischer Besessenheit kennen. Lesen Sie heute jene wissenschaftlichen Leistungen unserer deutschen Militärs, die vor dem Kriege erschienen, damals als der Krieg als Stahlbad, als Jungbrunnen für die versinkende Menschheit gepriesen wurde und als einziges Mittel, um der aufsteigenden Flut der Sozialdemokratie Herr zu werden. Das haben sie alle offen ausgesprochen. Wenn eines der geistigen Oberhäupter der deutschen Soldateska, einer der schriftstellernden Generäle, kurze Zeit vor dem Kriege in einem dicken Buche mit mathematischer Sicherheit nachgewiesen hat, daß ein deutscher Weltkrieg von Österreich und Deutschland auf der einen und England, Frankreich und Italien auf der andern Seite - Italien war schon damals in den Berechnungen unserer Generäle auf der andern Seite - in dreizehn Tagen entschieden sein würde, so daß nach dieser Zeit kein englisches Schiff mehr auf dem Weltmeere und keine französische Armee vorhanden wäre, die nicht gefangen wäre, dann begreifen Sie, warum wir besinnungslos in dieses Weltabenteuer, das gräßlichste der Weltgeschichte, getaumelt waren. Wir waren im Irrtum am Anfang des Krieges, wir durften es nach vierzehn Tagen nicht mehr sein. Was wäre unsere Aufgabe gewesen? Wir wußten, daß, wenn der Krieg einmal da ist, jedes Volk zu seinem Lande stehen muß, und außerdem hat der einzelne Soldat keine Wahl, aber die Aufgabe der Sozialdemokratie lag auf politischem Gebiete. Sie mußte die deutsche Regierung stürzen, die politische Macht erobern und Frieden schließen. Das wäre die Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie gewesen. Dann hätten wir die Hände hinüberreichen können über die Grenze. Es war der sonderbarste Irrtum unserer Freunde von der Mehrheit und verrät einen solchen Mangel an Psychologie, an Kenntnis derer, die gestern unsere Freunde waren, zu glauben, daß man erst Krieg führen, erst durch Blut waten, erst alle Schrecken der deutschen terroristischen Kriegsführung mitmachen dürfe, um sich dann die Hände freundschaftlich zu reichen mit den Worten: Nun ist es genug, nun wollen wir Frieden machen. Nein, die Voraussetzung aller Friedensarbeit während des Krieges in Deutschland war der Sturz des schuldigen Systems. Unsere Revolution ist nicht, wie man gesagt hat, zu früh gekommen, sondern sie kam viereinhalb Jahre zu spät. Wäre sie damals, im Herbste 1914, gekommen, dann wäre es heute um Deutschland besser bestellt, und die Welt würde die deutsche Sozialdemokratie segnen, während sie heute in der deutschen Revolution nur den Ausbruch der Verzweiflung erkennt, nicht aber das kühne Aufbäumen eines tapferen Volkes, das sich die Freiheit erkämpft, sondern nur, möchte ich fast sagen, Fäulniserscheinungen des Zusammenbruches.

Wir Deutschen sind in einer (traurigen) Lage. Wir waren das Volk ohne Revolution und jetzt, wo wir das revolutionärste Volk geworden sind, da glaubt man uns diese Revolution nicht. Man glaubt sie uns nicht durch unsere eigene Schuld. Man hat mir vorgeworfen -und ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen, darauf zu antworten - daß wir, die wir darauf beharren, die Schuld Deutschlands festzustellen und zu beweisen, unser Volk verraten, daß wir die Gelüste der Imperialisten drüben verschärfen.

Als ich am Anfang meiner Regierung, wahrhaftig nicht auf eine Anregung Clemenceaus hin, sondern um das Auswärtige Amt in Berlin zu sprengen, aus meiner Aktenmappe jenes Dokument veröffentlichte, das nun für jeden, der nicht ganz verhärtet ist in Lüge und Verblendung, die direkte Schuld der deutschen Regierung nachwies, da war es der ehemalige Staatssekretär Solf, der sagte: Diese Veröffentlichung Eisners kostet Deutschland hundert Milliarden mehr! Genossen, Wahrheit muß sein, und wenn wir zugrunde gehen. Aber diese Wahrheit ist nicht einmal schädlich. Ich glaube mich nicht zu irren. Die Imperialisten drüben verwenden heute die angebliche Unbelehrbarkeit des deutschen Volkes genauso als Vorwand für ihre kapitalistischen Begierden wie das Schreckgespenst des Bolschewismus. Sie fürchten die Wahrheit ebensosehr wie wir. Wir wollen aber nicht zu den Imperialisten von drüben reden, sondern zu unseren dortigen Freunden, und wir wollen vor allem zu unserem eigenen Volke sprechen; sie sollen die Wahrheit kennenlernen! Viereinhalb Jahre hat man sich Tag für Tag, Nacht für Nacht anlügen lassen. So brach über das arme deutsche Volk das Unheil herein, noch ehe das Volk zur Besinnung kam.

Niemals ist ein so frevelhaftes Spiel mit einem Volke betrieben worden wie mit dem deut sehen, diesem unpolitischen Volke, von dem ich nur hoffen möchte, daß jetzt - leider erst unter dem Druck seines eigenen Schicksals - seine freiere und reinere Geschichte beginnt.

Wenn nun aber die Dinge so liegen, warum dann heute noch die Legende aufrechthalten? Parteigenossen von der Mehrheit! Sind Sie revolutionär, oder sind Sie es nicht? Wenn Sie es nicht (sic!) sind, dann gibt es für Sie keine heiligere Pflicht, als die Verbrechen des alten Systems zu züchtigen. Warum stemmen Sie sich dagegen? (WELS: Wir stemmen uns nicht dagegen!) Sie verweisen darauf, daß die Fürsten und Regierungen ja davon gejagt seien. Gewiß, aber begründet haben Sie dieses Davonjagen merkwürdigerweise damit, Sie hätten eine richtige Politik betrieben, indem Sie viereinhalb Jahre lang dieses verwerfliche System unterstützten. Darin liegt ein unlösbarer Widerspruch. (WELS: Keineswegs!)

Ich bitte Sie! Es ist keine Schande, sich zu irren und dies einzugestehen. Der Augenblick. wo man vom Irrtum erwacht, kommt nie zu spät. Ich bitte Sie wirklich, helfen Sie mit, die neue Internationale zu begründen, indem Sie nun endlich loskommen von Ihrer Befangenheit im alten System.

Es ist ja gar nicht wahr, und das wissen Sie selbst so gut wie ich, daß Sie während der ganzen Zeit des Krieges diese Kriegspolitik der Regierung bekämpft hätten! Sie sind mit gegangen bis zuletzt! Je nach der Kriegslage schwankte Ihre Gesinnung. Es gab Zeiten. wo Sie selbst hart in die Nachbarschaft der Annexionisten gerieten. Herr Wels sieht mich erstaunt an. Der Parteigenosse Wels wird von mir hiermit gebeten, jenes Protokoll zu lesen, das Mitte August 1915 angefertigt ist und das die Verhandlungen des Parteivorstandes und des Parteiausschusses wiedergibt. Ich ersuche den Genossen Wels, dieses Material vorzulegen, Sie haben es vielleicht mitgebracht. Es wäre wirklich sehr wünschenswert, wenn Sie nach dem vielen Unnützen, das die Mehrheitspartei verbreitet hat, einmal das Reinigungswerk vollbrächten, indem Sie dieses verstaubte Geheimprotokoll in die Öffentlichkeit bringen würden. Sie waren ganz und ganz verblendet, und ich glaube, die französischen Parteigenossen erweisen Ihnen und uns einen Dienst, wenn Sie von Ihnen verlangen, eine solche Erklärung über ihre Gesinnung zu hören. Niemand will Sie demütigen, aber wir brauchen freie Hand und reines Gewissen, um unsere Revolution weiter vorwärts zu treiben. So wenig man einen Krieg mit Lügen führen kann, so wenig läßt sich auch eine Revolution durch Lügen aufbauen.

Es ist eine Eigentümlichkeit der ganzen viereinhalb Jahre, daß wir unser Gedächtnis verloren haben. Das Abendblatt wußte ja nie, was im Morgenblatt gestanden hatte. (Wels: Das war nun früher so.) Herr Wels leugnete gestern in einem Zwischenruf, daß Scheidemann vom Durchhalten bis zum Siege gesprochen habe.

Sollte er heute inzwischen sein Gedächtnis aufgefrischt haben, daß sich jene Wendung im Neujahrsgruß 1915 findet, den Scheidemann an seine Solinger Wähler gerichtet hat?

Aber solche Auffrischung ist nicht nötig. Es steht auf jedem Blatte der viereinhalb Jahre geschrieben, und ich erinnere mich gut, wie ich noch im Frühjahr des vorigen Jahres, als die Kriegslage für Deutschland wieder günstiger erschien, jene brüske Ablehnung des Londoner Manifestes las, und die deutliche Anspielung darauf, wie stark wir seien, und wie damals die Friedensbedingungen, die man in London aussprach und die für jeden Sozialdemokraten selbstverständlich waren, als phantastische Utopie verhöhnt wurden. So stand es im Vorwärts. Ich saß damals in der Gefängniszelle und schäumte vor Wut, nicht etwa über die Unmoral, sondern über die Dummheit dieser Politik. Denn damals mußte man schon klar sein darüber, wohin wir steuerten. Sie, Genossen der Mehrheitssozialisten, haben mitgeholfen, Deutschland in den Abgrund zu hetzen. (Sehr richtig!) Sie sind keine Patrioten, wenigstens keine hellsehenden Partrioten. Und wenn wir heute ganz allein stehen, wenn selbst das ganze deutsche Volk gegen uns wäre, so bekennten wir trotzdem offen diese Schuld. Soll ich Sie erinnern an jene Resolution Graf Westarp-Scheidemann über den U-Boot-Krieg, Sie daran erinnern, wie ohnmächtig Sie gegen Brest-Litowsk sich verhielten, während man ringsum die Welt erobern wollte? Das alles scheint man vergessen zu haben! Sogar für ein einfaches "Nein" für Brest-Litowsk waren Sie ohnmächtig, aber bei Bukarest waren Sie dann stark genug, ein kräftiges "Ja" auszusprechen. (WELS: "So?") Gewiß. Genosse Wels! Und nun protestieren Sie. Sie entrollen sentimentale Bilder vom deutschen Elend. Wir leiden schwer, das ist wahr. Aber haben Sie einen Grund, eine moralische Berechtigung heute zu irgendeinem Protest? Alle die Jahre verhallten die Proteste der feindlichen Länder. Mein international fühlendes Herz war durch diese Verblendung zerrissen, wenn Sie riefen, wir könnten uns glücklich preisen, daß der Krieg von unsern Grenzen fern gehalten worden sei. Ja, ist es denn für einen internationalen Sozialisten nicht noch viel schlimmer, einen Krieg in fremdes Land zu tragen, als ihn selbst zu erleiden? Sie waren es, die immer England der Hungerblockade anklagten. Ganz gewiß. Wir litten schwer und leiden heute unsäglich. Aber haben wir ein Recht zu protestieren? Daß im Kriege ein Land abgesperrt wird, ist ein in der Weltgeschichte anerkanntes - fast hätte ich gesagt - geheiligtes Kriegsrecht. Und schließlich waren es doch wir Deutsche, die im Jahre 1870 die Stadt Paris wirklich aushungerten. Eine Millionenstadt, in der nichts wächst, läßt sieh wirklich aushungern, ein ganzes Land nicht. Wer war es denn, der diese Hungerblockade völkerrechtlich forderte? Im Jahre 1907, Parteigenosse Wels, im Haag. Damals überraschten die englischen Delegierten die Welt mit dem Antrag, die ganze Contrebande-Politik sei aufzuheben, und sie forderten Freiheit der Meere, auch im Kriege. Wer war es, der gegen diesen Antrag stimmte? Deutschland! (Sehr richtig!) Und warum? Das haben die deutschen Delegierten damals nicht gesagt. Aber lesen Sie nur die militärischen Fachblätter. Dann wissen Sie's: weil bei einem Krieg zwischen England und Deutschland zwar England ausgehungert werden könnte, aber nicht Deutschland. Deswegen haben wir schon 1907 im Haag, verblendet, gegen den englischen Antrag gestimmt.

Dürfen wir nun heute protestieren? Nein! Belgien und Nordfrankreich zeugen wider uns! Wir durften protestieren gegen uns, wir durften es im Jahre 1914, 1915, 1916, 1917 und 1918 bis Mitte September. Aber wir durften nach dem Zusammenbruch nicht anfangen, gegen die andern zu protestieren. So haben wir es in der Sozialdemokratie bisher gehalten: daß wir abrechnen mit unsern eigenen schuldigen Persönlichkeiten, unsern Kriegspolitikern. Auf diese haben wir einen Einfluß, auf die andern nicht. Ich bekenne die Schuld Deutschlands am Krieg und in der Kriegsführung. Deutschlands! Aber auch des deutschen Volkes? Des deutschen Volkes - nein! Das ist nicht verantwortlich für deutsche Kriegsführung. Das deutsche Volk ist nicht brutal. Alles, was die anderen Völker durch uns erlitten, war der Ausdruck jener deutschen Militärwissenschaft, die ein System aus dem Terror gemacht hatte, war eine Folge der Entwicklung der militärischen Theorie in Deutschland und Österreich, die auf dem psychologischen Rechenfehler begründet war, daß man die feindlichen Völker so sehr mißhandeln müßte, daß sie mit erhobenen Händen um den Frieden flehen. Dieses System wurde angewendet, nicht aber kam die Brutalität der Menschen zum Ausdruck.

Ich habe in den letzten Monaten oft gehört, wenn ich in Versammlungen sprach: Weh uns, daß man uns zwang zu solchem Tun! Wir sind ein Opfer der berühmten deutschen Organisation geworden. Wir haben uns selbst zu Tode organisiert, wir sind das Opfer unserer "wissenschaftlichen Gründlichkeit", unseres Systems geworden (Heiterkeit), jenes Systems, das im Grunde nur zwei Werkzeuge hatte: Kanonen und Geld. Was man nicht niederschlug, das sollte gekauft werden. Aber Parteigenossen! Das arme deutsche Volk hat mit alledem gar nichts zu tun. Wir wurden in der Tat angelogen, und es gehörte schon ein eigentliches Studium dazu, um jeden Tag die Lügen, die uns vorgetäuscht wurden, zu entlarven. Aber haben wir jetzt nicht doch ein moralisches Recht? Heute, nachdem wir unsere Könige und Kaiser davongejagt und ihre Regierungen gestürzt, die Demokratie aufgerichtet haben, um das Reich des Sozialismus zu begründen, hat da das Volk - nicht die Führer! - das Recht, an die gesamte Welt zu appellieren, daß der Völkermord beendigt werden soll, auf daß wir, alle Völker, gemeinsam am Aufbau der neuen Welt helfen? Haben wir nicht das Recht zu fordern, daß man uns heute zu leben ermöglicht und das Recht auf Freiheit gewährt und daß man uns nicht zum Schuldsklaven fremder Kapitalisten erniedrige. Ich sprach davon, wie man u n s angelogen hat. Man hat aber auch Sie, Genossen der andern Länder, angelogen! Von dem, was im deutschen Volke gärte seit dem Augenblick, wo in immer weiteren Kreisen klar wurde, welches Spiel man mit uns getrieben hat, erfuhren auch Sie nichts. Wir standen uns, Mehrheit und Minderheit, einander im Parlament gegenüber, aber in diesen Debatten erfuhren Sie nicht die Wahrheit. Was dort geredet wurde, verbitterte Sie eher. Aber, Genossen, das deutsche Volk hat in seiner Masse der Namenlosen in den Jahren des Krieges mehr geopfert in Auflehnung gegen den Krieg als vielleicht irgendein anderes Volk. Die Gefängnisse und Zuchthäuser waren voll von tapferen jungen Leuten, die sich gegen diese Kriegspolitik der deutschen Regierung auflehnten.

Nichts aber von alledem drang ins Ausland! Sie verbluteten alle stumm. Ein Fetzen Papier, beschrieben mit einem Protest gegen den Krieg, kostete acht Jahre Zuchthaus. So wurde alles schließlich hingemäht, was sich dem Krieg widersetzte. Und doch war diese Auflehnung unser bestes moralisches Recht! Sie begann schon im Herbst 1914, also verhältnismäßig sehr früh, trotz Zensur und Diktatur. Und schon damals war die Zahl derer groß. die bereit waren, sich für diesen Kampf zu opfern. Im Verlauf der folgenden Kriegsjahre herrschte bei uns sogar eine seltsame Unruhe, die sich nicht eher legte, als bis diese Menschen sich wirklich geopfert hatten. Es gab für uns alle in den letzten Jahren überhaupt keinen ruhigen Augenblick mehr. Wir waren verstreut, hier und dort, und konnten nicht zusammenkommen, aber es gab doch Tausende und Abertausende die entschlossen waren, lieber zu sterben als mitschuldig zu werden an der Fortsetzung des Krieges, an der verhängnisvollen Politik des deutschen Systems. Diese Leute vielleicht hätten das Recht zu protestieren. Ich wünschte mir, daß meine Freunde von der Mehrheit dieses Recht auch hätten! Sie haben nun hier, heute und morgen und in dieser ganzen Woche noch die Möglichkeit, dieses Recht sich zu erringen. Lassen Sie mich nur noch ein einziges Beispiel anführen. Sie kannten vor einem Jahre nicht den Sinn und die Tragweite unserer damaligen Streikbewegung in Deutschland. Wir wenigstens in München wollten schon im Januar vor einem Jahre die Revolution entfesseln, das alte System stürzen. Damals war die Revolution eine höhere Ehre als nachher. Denn damals stand Deutschland scheinbar auf der Höhe der Macht, damals war Frankreich bedroht durch das gleiche Schicksal, das im Herbst 1914 ihm erspart geblieben war. Damals erhoben sich bei uns die Arbeitermassen (Zuruf: in Berlin auch!) ja, auch in Berlin zum Streik, nicht aus Hunger, nicht um des Brotes willen, nicht weil die Niederlage drohte, sondern weil wir die Märzoffensive und Brest-Litowsk verhindern wollten. Die Arbeiter, die an diesem Streike teilnahmen, wurden an die Front geschickt, zum Tode verurteilt, ihre Führer in Gefängnisse und Zuchthäuser gesperrt. Leider taten diejenigen, es muß gesagt werden, die uns scheinbar bei diesem Streike unterstützten, im Gegenteil alles, um diese Bewegung zum Scheitern zu bringen. (Sehr richtig!) Ich habe es erlebt an meinem eigenen Leibe.

Parteignossen! Ich wollte Ihnen du erzählen, um Ihnen zu sagen: Die revolutionäre Gesinnung in Deutschland ist nicht das feige Werk des Zusammenbruchs, sondern das Ergebnis einer im Stillen und Dunkeln unermüdlich vorwärts drängenden Arbeit, die gerade dann einsetzte, als Deutschland militärisch scheinbar das Übergewicht hatte. Für unsere Revolution in Bayern verbürge ich mich dafür, daß es eine wirkliche Revolution war, eine die Massen im tiefsten erschütternde Revolution, geistig vorbereitet seit Jahr und Tag und dann zur Tat gebracht im rechten Augenblick.

Wir leben noch und wollen weiterleben, aber nicht als die Alten, sondern als die von Grund auf Neuen. Wir wollen nicht mehr paktieren mit den Leichnamen der Vergangenheit. Wenn unsere Revolution trotz ihres großen Erfolges so menschlich verlief, so geschah das aus der Erwägung heraus, daß wir die fluchwürdigen Methoden der alten Zeit nicht hineinschleppen wollen in unsere neue befreiende Zeit. Das Verbrechen, das die alten Machthaber begangen haben, war so über alles menschliche Maß groß, daß nicht einmal der Schrei der Vergeltung, der Rache sie erreicht. Das möchte ich auch Ihnen raten. Denken Sie. französische und englische Genossen, nicht an Rache, an Vergewaltigung, sondern lassen wir unsere eigenen Schuldigen irgendwo im Verborgenen weiterleben! Das ist eine viel schwerere Strafe für sie als irgendeine andere. Wir wollen uns gar nicht beflecken dadurch, daß wir diese Sünder richten. Wir sind zu stolz, selbst um ihre Richter zu sein. Selbst das muten wir uns nicht zu. Vielleicht ist gerade das neue Denkart. Und nun helfen Sie uns! Wir sind heute das radikalste Reich der Welt. Wir sind eine Demokratie, die nicht nur formal besteht, sondern danach trachtet, daß ganze Volk mit-tätig heranzuziehen: denn wir stehen an der Schwelle des sozialistischen Reiches.

Parteigenossen! Darin sind wir alle einig: Wir wollen unsere Schuld sühnen, indem wir auf dem Wege zum Sozialismus vorwärtsschreiten. Und nun reichen Sie uns die Hand! Verbünden wir uns gegen Ihre Feinde, die auch die unsern sind!

Parteigenossen, ich stehe nicht als reuiger Sünder vor Ihnen. Ich würde mich auch nach der Niederlage nicht beugen vor der Gewalt der andern. Wenn man uns Unwürdiges zumutet, dann sage ich: Lieber untergehen, als sich auf unabsehbare Zeit fremden Kapitalisten auszuliefern. Das ist mein Patriotismus, aber ich denke an das Wort Jaurès, das er ausgesprochen hat: Wilhelm Liebknecht, der glückliche Vater des in der Revolution gemordeten Sohnes, sei so sehr ein Internationaler gewesen, daß er sich als Patriot aller Länder empfand. Das soll auch für uns Grundlage des neuen Völkerbundes sein: das Bestreben, Patrioten aller Länder zu sein.

Parteigenossen! Noch ein Wort von Jaurès, des Unsterblichen, der tief in meinem Bewußtsein weiterlebt, bin ich doch lange Jahre in Deutschland wohl der einzige gewesen, der sich Jaurèsist nannte. Ich erinnere Sie an die Ansprache Jaurès im herrlichen Rathaussaal zu Kopenhagen, beim letzten Kongreß der Internationalen, wie plötzlich sein Antlitz visionär aufglühte, wie er das Blutmeer verkündete, durch das die Menschheit noch werde hindurchschreiten müssen, aus dem dann die Erlösung der Menschheit emporsteigen würde. Jaurès war wie alle wahren Politiker ein Prophet. Das Blutmeer, das er vorausschaute, ist gekommen, aber es liegt hinter uns. Und nun helfen Sie uns, helfen wir einander, die Erlösung zu schaffen und die neue Welt aufzubauen. Gehen wir nicht auseinander, ehe wir uns gelobt haben: Bis zum Tode getreu der Sache der Freiheit, Menschlichkeit, des Sozialismus.

Wir haben keine Geduld mehr, unsere Träume vom Sozialismus in ferne Zeiten zu stellen; heute leben wir und heute wollen wir handeln. Handeln wir!! (Anhaltender brausender Beifall)