Kant

Dieser Aufsatz erschien Februar 1904 zum hundertsten Todestag Kants im Vorwärts. Es war ein Versuch, die Synthese Marx-Hegel in die Verbindung Marx-Kant aufzulösen. Denn sachlich gehört Marx zu Kant, in die Reihe der großen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, wie tief und entscheidend er immer - viel stärker als man gemeinhin annimmt - nicht nur in der Methode des Denkens, sondern auch in dem ganzen Stil seiner Geistigkeit von Hegel beeinflußt ist.

I.

Der gewaltige Lebensstrom der Aufklärung, der, den Aufstieg des Bürgertums begleitend, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von England über Frankreich nach Deutschland braust, flutet in der französischen Revolution von der Philosophie zur Tat und findet, zum Ozean sich weitend, in dem Kantischen System seine wissenschaftliche Vertiefung und Vollendung. Die freie Vernunft, die in Deutschland vor Kant zum spießbürgerlichen Geschwätz einer nutzlosen Verständigkeit verflachte, wird zur Schöpferin einer in alle Fernen und Tiefen greifenden Weltanschauung. Die platte Schulweisheit unter sich lassend, meisterte sie auch die Dinge zwischen Himmel und Erde, nachdem sie den Himmel und die Erde in universaler Forschung das gesamte zugängliche Einzelwissen erfassend und im Denken zusammenfügend aus dem Chaos irrenden Phantasierens und ideenlosen Nichtsehens der Probleme in das Licht der strengen, einheitlichen und gesetzmäßigen Wissenschaft gehoben hatte.

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Kant ging in der Naturwissenschaft von Newton, der dem Weltall seine Gesetze fand, in der Wissenschaft der Menschheit und ihrer Bestimmung in der Gesellschaft von Rousseau, dem Propheten der französischen Revolution, aus. Natur und Menschheit band er in einem System, das die Kausalität der starr mechanischen Notwendigkeit in der Natur mit der ehernen Notwendigkeit einer Kulturfreiheit vereinigte. Und wenn er nicht alle wissenschaftliche Wahrheit erschöpfte und erschöpfen wollte - Kant zeigte gerade den Aberwitz solchen Beginnens -, so wies er doch den einzig möglichen Weg zur Wissenschaft, die, selbst in ewigem Flusse, niemals vollendet, immer zur Vollendung strebend, in der stolzen Arbeit der Menschengeschlechter aufwärts steigt.

Kants Werk selbst aber wurde in tragischem Geschick nach kurzem Weltwirken - ohne daß die Zeitgenossen es ganz auszuschöpfen vermochten - tief verschüttet. Die im 19. Jahrhundert aufrückende Reaktion begrub ihn. Nicht nur, daß er nicht zum Führer der revolutionären Tat ward - ausgenommen die schwachen Spuren in der sogenannten preußischen Wiedergeburt nach Jena - auch sein Gedankenwerk wurde vergessen oder verstümmelt. Die Reaktion konnte ihn nicht ertragen; so entstellte sie ihn. Und da dieser Denker - nicht ohne die eigne Schuld der Konzessionen an die Unfreiheit seiner Zeit - die herrschenden Wahngedanken durch Umdeutung zu beseitigen liebte, so konnte die Umdeutung zur Quelle von Mißdeutungen werden, die sich bis zum heutigen Tage durch die vulgären Lehrbücher schleppen und ihrerseits die Schriftsteller verführen, die aus solchen abgeleiteten Quellen schöpfen.

Kant hat seine wissenschaftliche Methode, die er die "transzendentale" nannte - die vom Denken zur Naturwelt der Erfahrung "hinausgehende" - in das schlichte Epigramm negativ zusammengefaßt: "Ge-

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danken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." Mit diesem Schlagsatz wies er einmal die Kopfspinnen ab, die aus dem Hirne nach der formalen Logik äußerlich zusammenstimmende Systeme wirrten, leere Phantasien gaukelten, mit dem Vorteil, daß sie die unsägliche Mühe der im Laufe der Jahrtausende gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnisse der millionenfältigen Experimente und der geduldigen, vorsichtigen und bescheidenen Beobachtung ersparten. Andererseits verwarf er mit seinem Worte die in dem Chaos zufälliger "Erfahrungen" ohne Leitung taumelnden und willkürlich Fetzen raffenden Vertreter der "reinen Empirie", jenen faulen und flachen Opportunismus des Denkens, der sich von den Dingen treiben läßt, ohne sie systematisch zu beherrschen.

Was nach Kant kam, war ein wildes Spiel solcher Leeren und Blinden: Eine in Nebeln fiebernde Natur- und eine mit "Ideen" prunkende Geschichtsphilosophie; daneben die Verächter der Theorie, die Praktiker, die Regenwürmer gruben und mit diesem Tun sich brüsteten. Es entstand jener konservative Historismus, der die Vergangenheit nur zu dem Zweck aufleben ließ, um zu beweisen, daß man gerade unter diesen oder jenen Königen und Ministern den Höchstgrad menschlicher Vollendung erreicht: Eine epidemische Geistesschwäche, die noch heute von den Verfechtern der herrschenden Ordnung gegen den revolutionären "Rationalismus" ausgespielt wird. So feiert z. B. ein viel gerühmter königlich sächsischer Philosoph unserer Tage gegenüber einer "abstrakten Nützlichkeitstheorie" den "organisch gewordenen, in den Lebensanschauungen und Sitten einer Volksgemeinschaft wurzelnden Staat, der nicht die geringste Bürgschaft für das dort vergeblich erstrebte Wohl der Gesamtheit in der Stetigkeit und Sicherheit seiner Entwicklung erblicken darf". Und diese "organische"

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Entwicklung, deren Hauptsache die Langsamkeit ist -gipfelt dann in der weisen Vorsehung des angestammten Herrscherhauses, "dessen Träger, durch seine Geburt schon über allem Streit der Parteien und Sonderinteressen erhoben, in seiner Person. symbolisch die Gesamtpersönlichkeit des Staates zum Ausdruck bringt und in seinem Streben und Wollen tatsächlich die Zwecke der Gemeinschaft zu seinem eignen Lebenszweck gemacht hat .

Es ist das weltgeschichtliche Verdienst des wissenschaftlichen Sozialismus, es ist das Werk von Karl Marx, daß er gegenüber der leeren Ideologie seiner Zeit und der blinden Empirie wieder in die Bahn der großen klassischen Tradition einlenkt, die allein zur Wissenschaft führt. Wenn Kant seine "Kritiken" eigentlich nur als methodischen Rahmen gedacht hat, in den alle Einzelwissenschaften einzuarbeiten seien, so füllt Marx diesen Rahmen auf dem Gebiete der Geschichte und Ökonomie, Kants geringe Andeutungen dieser Art zugleich weit überholend. Er bannte die ungeheure Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Erfahrung in dem Granitbau eines einheitlichen Systems, das nicht "Ideen" zusammenflicht und auch nicht bloße "Tatsachen" aneinander reiht, sondern die im Innersten revolutionäre Gesetzmäßigkeit des wirklichen Geschehens erkennt, deutet und gestaltet. Und glücklicher als der in dem engen Deutschland des 18. Jahrhunderts eingepferchte Denker wurde der Theoretiker der Geschichte und Wirtschaft unmittelbar zum praktischen Schöpfer einer geschichtlichen Bewegung von einer revolutionären Kraft und weltumspannenden Bedeutung, die ihresgleichen in der Vergangenheit nicht hat. Neben Kant tritt Marx, und der eherne Gleichklang der beiden Namen mag diesem Zusammenhang ein Symbol sein.

* * *

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Kants zugleich nüchternes und erhabenes Geschäft ist es, die Kriterien, Bedingungen, Schöpfungsmittel, Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis zu finden. Was ist Wissenschaft? Wie ist Wissenschaft möglich? Die Frage beantwortet er, indem er das ganze Gerüst des menschlichen Denkens aufbaut, so wie es sich in der Geschichte der Wissenschaft andeutet. Er schlichtet den Streit zwischen Denken und Erfahrung, zwischen Geist und Materie, Theorie und Praxis, Vernunft und Sinnlichkeit. An dem Modell der Wissenschaften, die absolute Gewißheit gewähren, prüft er die Leistungsfähigkeit der Vernunft, scheidet er die Gebiete ihrer Betätigung, weist er die Wege, die zur Wahrheit führen. Er taucht in die Urelemente der Erkenntnis und erobert von hier aus die Natur in ihrer Einheit.

Die erkenntniskritische Weisheit Kants war für die Entwicklung der Wissenschaften von unermeßlicher Bedeutung, und ihre Geltung wird erst erschöpft sein, wenn sie als selbstverständlicher Besitz alle Disziplinen durchdrungen hat. Das Erwachen von den Träumereien der spekulativen Naturmystik im 19. Jahrhundert wird durch die Besinnung auf Kant ermöglicht. Kein Mathematiker, der zu den letzten Fragen seiner Wissenschaft vordringt, der Kant nicht zu befragen hätte. Die Mechanik, die gerade jetzt wieder ihrer schweren Probleme bewußt wird, debattiert unausgesetzt mit Kant. Ein Naturforscher wie Helmholtz mühte sich um das Verständnis der "Kritik der reinen Vernunft".

Aber nicht nur im Felde der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft wirkt Kant in solcher Lebendigkeit fort, daß es scheint, als ob er erst am Beginn seiner Mission in der Wissenschaft stünde, sondern auch für den Fortschritt der beschreibenden Naturforschung ist Kant von bisher unerschöpfter Bedeutung. Die moderne Geographie empfängt von ihm

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entscheidende Anregungen. Der "Vater" der neueren Physiologie, Johannes Müller, forscht im Geiste Kants. Der Begründer wissenschaftlicher Botanik, Schleiden der mit Schramm zusammen die Zellentheorie entdeckte, ist unmittelbarer Schüler Kants. Schleiden veröffentlichte 1842 seine "Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik" und diesem grundlegenden Werk schickt er auf zweihundert Seiten eine noch heute sehr lesenswerte methodische Einleitung voraus, die durchaus auf Kants Erkenntniskritik fußt. Mit ihr scheucht er den "Nebel phantastischer Kinderträume" (Schelling) und die Spekulanten, die "in arroganter Vermessenheit zum Gott aufschwellen wie die Anhänger Hegels". Er verlangt mit Kant die streng kausale mechanisch-chemische Naturerklärung, die durch keine mystische "Lebenskraft" unterbrochen werden darf. Und gegenüber gewissen Rückfällen, die heute wieder gefährlich drohen, sind die Sätze noch recht beachtenswert, die Schleiden damals schrieb: "Seit Aristoteles bis auf die neueste Zeit wagte kein Mann von Wissenschaft, die unbedingte Gültigkeit der . . . zuletzt durch Kant ausgebildeten Logik als Kathartikon (Reinigungsmittel) der Wahrheit in Abrede zu stellen, selbst die Männer nicht, weiche aus Mangel an logischer Ausbildung die schmählichste Verwirrung in der Philosophie anrichteten. Erst in neuerer Zeit hat uns Hegel seine Spielerei mit immer kauderwelschen und geschmacklosen, meist auch sinnlosen Formeln für eine neue, höhere Weisheit in diesem Felde verkaufen wollen in Schule und Kolleg hört man nun zwar, daß es eine solche Gesetzmäßigkeit unsres Geistes gibt, daß die tiefsten Köpfe ihr Leben daran gesetzt, diese Gesetze zu entwickeln und zu begründen, daß es ohne diese Gesetzmäßigkeit keine echte wissenschaftliche Tätigkeit gäbe; aber sowie man an einen andern speziellen Zweig des Wissens kommt, hat man alles wieder vergessen, von Anwendung des Gelernten

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ist keine Rede. Ja, man hört wohl gar: wozu die trockene Logik, die hat jeder gesunde Kopf von selbst. Kindische Eitelkeit, die sich einbildet, das so vorweg zu haben, an dessen immer weiterer Ausbildung und Begründung seit Jahrtausenden zu arbeiten, die scharfsinnigsten Köpfe, die ausgezeichnetsten Denker nicht verschmäht haben. Hier finde ich gerade den großen Grundfehler in der Bearbeitung unserer Wissenschaft, der alle unsre Bestrebungen so haltungslos und unsicher macht, daß die Systeme kommen und gehen wie Ephemeren (Eintagsfliegen), daß, was heute aufgestellt und bewundert die ganze Wissenschaft ergreift und beherrscht, morgen durch eine einzige tüchtige Beobachtung über den Haufen geworfen wird."

Ganz besonders merkwürdig sind Kants biologische Anregungen. Lange vor Darwin bekennt er sich zur Entwicklungsgeschichte der Natur, die von dem niedersten Wesen zum Menschen sich fortbildet, und klarer, wie Darwin und die Darwinisten, spiegelt er nicht eine angebliche kausalmechanische Erklärung vor - die er prinzipiell und ohne Grenzen fordert -, wo eine der mechanischen Kausalität fremde Zwecksetzung sich einschleicht. Daher denn auch der neueste Geschichtschreiber des Deszendenzgedankens in einem erst vor kurzem erschienenen Buch der Darstellung der kantischen Formulierung des Entwicklungsgedankens die Bemerkung anfügt, daß "hier ein Standpunkt vertreten ist, der in absehbarer Zeit wieder zahlreiche Vertreter finden dürfte und durch den die Grenzen des Naturerkennens ein für allemal bestimmt umschrieben sind".

Die Erkenntniskritik als Mittel aller wissenschaftlichen Methodik ist das eine unvergängliche Verdienst Kants. Indem er aber die Grundlagen des Denkens in der Erfahrungswissenschaft fand, reinigte er zugleich das Gebiet der Naturerkenntnis von aller übersinnlichen Metaphysik und die Metaphysik von allem An-

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spruch auf naturwissenschaftlichen Geltungswert. Er zerrieb die religiöse Mythologie zwischen der Naturwissenschaft, aus der sie exiliert wurde, und einer menschlichen Ethik, in der jene keinen Platz hat. Kant ist der Überwinder der metaphysisch-mythologischen Weltanschauung. Das ist seine zweite unsterbliche Tat.

II.

Mit gelinder Überspannung läßt sich sagen, daß Kant die gigantische Gedankenarbeit seiner Kritik aller wissenschaftlichen Erkenntnis - in elf langen mühseligen Jahren vollkommenen literarischen Verstummens durchdacht, dann, als jäh die Sorge sich erhob, der Tod könnte den Ertrag vor der Geburt ins Grab nehmen, an der Schwelle des Greisenalters hastend in wenigen Monaten niedergeschrieben - daß Kant die Kritik der reinen Vernunft entwarf, nicht sowohl um die Gewißheit und die Bedingungen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft zu erklären, sondern um die Waffe zu schmieden, mittels derer die theologische Metaphysik für alle Zeiten aus dem Reich der Wissenschaft verjagt werden möchte. Bis Kant war es das Hauptstück der Philosophen, die Überlieferungen der jüdisch-christlichen Mythe und Mystik mit den äußeren Mitteln leer formaler Wissenschaftlichkeit zu erhärten. Indem Kant nun bewies, daß es in Zeit und Raum keinerlei wissenschaftliche Erkenntnis außerhalb der Erfahrung geben könne, vertrieb er die theologische Metaphysik aus Zeit und Raum, er entkleidete die ersonnenen überirdischen Mächte somit aller Möglichkeit in der Natur der Kausalität durch Eingriffe, in der Menschheit durch Offenbarungen zu wirken, und wandelte sie in bloße Ideen - dafür setzte er auch das so schlimm mißverstandene "Ding an sich" - über die sich nichts beweisen lasse.

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Aber damit nicht genug. Von der sittlichen Seite angreifend, zerstörte er auch den Geltungswert der theologischen Ideen als Pfadweiserinnen im Bezirk der Vernunft. Er nahm ihnen nicht nur ihren naturwissenschaftlichen, sondern auch ihren moralischen Kredit. Die "Heteronomie" der Sittlichkeit, d. h. die von einer übermenschlichen Macht offenbarten und diktierten Gebote durchaus ablehnend, verkündete er die Autonomie der Moral, in der die Menschheit, die freie Menschheit aus eigner Vernunft und eignem Recht sich die Gesetze ihres Handelns erfindet und über sich stellt.

So wurden die metaphysischen Gespinste ihrem ganzen Inhalt nach in Nichts aufgelöst. Aber Kant ließ, zum Schaden der klaren Einheit seines Systems, hier und da die leeren Hülsen liegen, mit denen dann bis in unsere Zeit ein nachhaltiger Unfug getrieben worden ist. Dennoch kann über die wirkliche Meinung und Absicht Kants kein Zweifel sein. Nur muß man seine Sprache zu lesen verstehen. Jede unfreie Zeit schafft sich ihren eigentümlichen Stil, in der die lautere Wahrhaftigkeit der Überzeugung mit der durch die Zwangsgebote einer unüberwindlichen Gewalt auferlegten Vorsicht ehrlichen Ausgleich sucht. Kant schrieb unter der Zensur! Wenn er überhaupt zum Worte kommen wollte, mußte er, unbeschadet aller Aufrichtigkeit, gewisse stilistische Kautelen gebrauchen, die in der Folge dann zur Erstickung seiner eigentlichen Meinung gern benutzt wurden. Kant hat zu den größten schöpferischen Ketzern gehört, der vor keiner Konsequenz seines vorwärts stürmenden Denkens zurückbebte. Im vertrauten Kreise pflegte er über Welt und Dinge mit äußerster Rückhaltlosigkeit zu sprechen. Sein Tischfreund Hippel, der Bürgermeister von Königsberg und Verfasser genialischer Einfälle in humoristischer Romanform hat diese Gespräche Kants ohne dessen Wissen aufgezeichnet. Als

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aber Hippel starb und seine Erben diese Blätter entdeckten, erschraken sie so sehr über die vermessene gottlose Kühnheit dieses Revolutionärs - der trotz seines zurückgezogenen Lebens auch ein geistreicher Weltmann, wie nur irgendein Pariser Enzyklopädist war -, daß sie die Papiere verbrannten, damit wohl die wichtigste Quelle zur Erkenntnis kantischen Wesens zerstörend.

Dennoch hat er auch in seinen Schriften die theologische Metaphysik mit einer Rücksichtslosigkeit bekämpft, die noch heute, wo kein Staatsmann als ein Wöllner und kein Fürst als ein Friedrich Wilhelm II. gelten möchte, dem Autor leicht Unannehmlichkeiten zuziehen könnte. Was Kant mit gellendem Witz und mit dem ergreifenden tiefen Pathos seiner reinen wissenschaftlichen und sittllchen Weltanschauung über den gleichen Unwert aller Kirchen, vom Fetischismus und Schamanendienst bis zum Papstkult was er über die Dogmen, "Statuten und Observanzen" der offenbarten Pfaffenreligionen, über Gebet und Wunder geschrieben, macht ihn nicht nur zum bedeutendsten geistigen Überwinder, sondern auch zum wirksamsten Agitator gegen allen Klerikalismus, in welcher Form er sich immer zeigt.

Hundert Jahre nach seinem Tode aber herrscht der Klerikalismus in seinem Vaterland mächtiger denn je zuvor. Seine Bücher sind von der alleinseligmachenden Kirche noch immer verboten. Und Kant wäre ein Herrscher ohne Land, wenn nicht in der proletarischen Bewegung auch der geistige Befreiungskampf sich zum Siege durchringen würde.

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Die Ethik, durch die Kant der theologischen Metaphysik ihre letzte Zuflucht nahm, ist die dritte Tat seiner Weltwirksamkeit. Noch ist über sie Streit, und

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es ist hier nicht möglich, die Fragen irgendwie tiefer zu erörtern.

Die Ethik erhebt den Anspruch, nach "Art von Naturgesetzen" einen obersten Grundsatz sittlichen Handelns von unverbrüchlicher Geltung aufzustellen. Er konnte sie deshalb nicht begründen in dem Chaos menschlicher Psychologie, auch nicht in der schwebenden Unsicherheit individueller Glückseligkeit, sondern nur in der festen Form eines letzten Zweckes, eines Endzieles. Kants Sittengesetz der Freiheit ist eine Richtung gebende Aufgabe der Menschheit, es wurzelt in der Humanitätsidee und es hat in nichts seinen Beweis wie in seiner Möglichkeit und Fruchtbarkeit, zum Menschheitsideal zu weisen. Es ist ein Mißverständnis, wenn man Kant gegenüber der Ewigkeit seines Sittengesetzes auf die ewig in Zeiten und Ländern wandelnden Sitten aufmerksam macht. Das wußte Kant auch, und in seinem Lieblingsstudium, der Geographie, wies er scharfsinnig auf die Zusammenhänge der Sitten und der physischen Bedingungen hin, unter denen die Völker leben. Die Sittenlehre aber, die in ihrer kausalen Abhängigkeit zu durchforschen ist, nannte er Anthropologie, nicht Ethik. Die Ethik tritt als Gesetzgeber auf. Wie die Menschheit Naturgesetze entdeckt, um die Natur zu bändigen und Zu gestalten, so gibt sich die Menschheit für ihr gesellschaftliches Zusammenwirken aus eigner Schöpferkraft eine letzte, oberste Norm. Die Ethik erzeugt das Wert- und Entwicklungsgesetz der Gesellschaft nicht aus blauen Wolkenhöhen und auch nicht aus der sinnlichen Erfahrung, sondern aus der Vernunft, welche die Tiere zu Menschen macht, indem sie ihnen die Fähigkeit verleiht, sich selbst Kulturzwecke zu setzen.

Das Sittengsetz Kants lautet in seiner fruchtbarsten Formulierung: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, je derzeit zugleich als Zweck, niemals

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bloß als Mittel brauchst." Dieses Gesetz übersteigt jenen einfachen Moralsatz der Reziprozität, den schon die chinesische Weisheit des Konfutse als goldene Moralregel aufstellte: Handle so, wie du willst, daß man an dir handle. Das ist Moral zum individuellen Privatgebrauch. Kants Satz dagegen legt die Menschheitsidee zum Grunde, er will der Kulturentwicklung der Menschheit die Richtung weisen.

Die Ethik Kants ist nur Gesetz, nur "Form" menschlichen Handelns. Lediglich in dieser Beschränkung legt die Geltung, das Recht und die Fruchtbarkeit des sittlichen Prinzips. Der lebendige Inhalt, der die Form erfüllt, steht durchaus im Fluß der Geschichte. Und hier weitet sich das Reich der kausalen Erklärung, hier waltet der Mechanismus der Wirtschaft, hier erweist die geschichtsmaterialistische Methode ihre unabweisliche Kraft. Die Ethik der Form besagt nichts weiter: Wenn denn die Menschheit eine Kultur will, wenn sie ein Wertmaß der gesellschaftlichen Organisation braucht, so kann das richtende und sichere Prinzip nur jener Moralgrundsatz sein. Er verbürgt den Aufstieg der Menschheit. Diese Ethik ist also kein Fremdenführer, der moralische Sehenswürdigkeiten erläutert, sie ist auch kein Pfaffe, der ewige Gebote inhaltlich und materiell bestimmt, unwandelbar im Namen Gottes befiehlt; sie ist ein Baumeister; der gleichsam die technischen Vorbedingungen, die Mathematik der Gesellschaft lehrt - das Bauen selbst unterliegt der Kausalität der Geschichte, der Arbeit der Menschheit. Und wäre dies Prinzip, weil sie nur Form ist, auch leer? Man prüfe jenen Satz an den wirtschaftlich bedingten Klassenkämpfen der Geschichte. Hat nicht stets jede revolutionäre Klasse in irgendeiner Formel jenes sittliche Programm als Recht und Ziel ihrer Empörung auf ihre Fahne geschrieben?

Begrenzt und versteht man den systematischen Wert

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von Kants Ethik so, dann ist sofort der Irrtum jener Kantianer offenbar, die den Philosophen wegen seiner Ethik zum Begründer des Sozialismus machen wollen. Als ewiger Grundsatz aller Sittlichkeit gedacht, kann er logischerweise gar nicht sich in einer bestimmten, zeitlich bedingten Gesellschaftsordnung manifestieren und erschöpfen. Diese Ethik steht über allen konkreten Gesellschaftsordnungen und sie bedingt an sich keine bestimmte Ordnung. Nur muß sich jedes Gemeinschaftswesen, wenn anders es sein Kulturrecht erweisen will, an jenem sittlichen Ideal messen. Und so wahr es ist, daß auf der heutigen Stufe der wirtschaftlich-politischen Entwicklung Kants Ethik nur im Sozialismus sich zu verwirklichen vermag, so fest steht es, daß Kant keine sozialistischen, sondern liberale Folgerungen aus seiner Ethik zog. Er lebte durchaus in der Weltanschauung der französischen Revolution, welche die Weltanschauung des Liberalismus, des freien Spiels der Kräfte war, dessen das Bürgertum bedurfte, um die Fesseln des Feudalismus zu sprengen.

III.

Die Auffassung, daß Kant in seiner politisch-wirtschaftlichen Theorie nicht über den Liberalismus der französischen Revolution hinausgekommen, scheint mit der Tatsache nicht übereinzustimmen, daß er als Erster an einer bedeutungsvollen Stelle der "Kritik der reinen Vernunft" mit ernster und ehrfürchtiger Begeisterung den als groteske Phantasie verlachten sozialistischen Staat Platos verteidigte. Indessen diese Verherrlichung, die er in einer seiner letzten Schriften wiederholte, gilt offenbar nur dem Gedanken der Möglichkeit eines Idealstaates an sich, ohne daß Kant damit die besondere sozialistische Organisationsform tiefer erfaßt oder anerkannt hätte.

Kant münzte seine Ethik in die Forderungen des Liberalismus, den er in die letzten Konsequenzen

12 Eisner, Gesammelte Schriften. II.

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verfolgt, dessen Grenzen und Widersprüche sich bereits ihm leise andeuten, ohne daß er sie schon zu überwinden vermag.

Zunächst verlangt Kant unbedingte Freiheit der Meinungsäußerung, was die Beseitigung der Zensur einschließt. Aber er macht eine eigentümliche Einschränkung. Im öffentlichen Gebrauch der Vernunft soll schrankenlose Freiheit herrschen, im Privatgebrauch dagegen sind Vorbehalte notwendig. Unter dem Privatgebrauch der Vernunft versteht er denjenigen, "den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte ... machen darf", und er erläutert diesen Unterschied an einem gegenwärtig recht aktuellen Beispiel: "So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinem Oberen etwas unbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehis laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegsdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen." (Was ist Aufklärung?)

Wie die französischen Revolutionäre erkennt Kant das Eigentum an. Die Gleichheit der Staatsbürger, die er verlangt, "besteht aber ganz wohl mit der größten Ungleichheit, der Menge und den Graden ihres Besitztumes nach, es sei an körperlicher oder Geistesüberlegenheit über andre, oder an Glücksgütern außer ihnen, und den Rechten überhaupt". Aber auf dem Gebiete, wo sich ihm - nach dem damaligen Stand der Wirtschaft - die Ungleichheit des Besitzes als Hemmnis seiner sittlichen Ideale unmittelbar aufdrängt, gegenüber dem Feudalismus, da wirft er doch sofort, wenn auch nur scheinbar beiläufig, die Brandfackel der Frage hinein: "wie es doch mit Recht zugegangen sein mag, daß jemand mehr Land zu eigen bekommen hat, als er mit seinen Händen selbst

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benutzen konnte, ... und wie es zuging, daß viele Menschen, die sonst insgesamt einen beständigen Besitzstand hätten erwerben können, dadurch dahin gebracht sind, jenem bloß zu dienen, um leben zu können?"

Staatsrechtlich fordert Kant die konstitutionelle Republik: "Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen." Jedes Glied der gesetzgebenden Gemeinschaft, jeder Staatsbürger hat die "gesetzliche Freiheit, keinem andern Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Zustimmung gegeben hat". Er hat ferner das Attribut der "bürgerlichen Gleichheit" und drittens die "bürgerliche Selbständigkeit, seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines andern im Volke, sondern seinen eignen Rechten und Kräften als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können". Stimmrecht sollen nur die "selbständigen" Staatsbürger haben. Kant versucht den Begriff der Selbständigkeit an Beispielen zu veranschaulichen. Unselbständige, "passive Bürger" sind "der Geselle bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker; der Dienstbote' der Unmündige, alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eignem Betriebe, sondern nach der Verfügung andrer (außer der des Staats) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit". Indem er jedoch sich weiter in diese Begriffsbestimmung vertieft empfindet er den Widerspruch mit der Forderung der Gleichberechtigung aller Staatsbürger und gesteht, es sei "etwas schwer, das Erfordernis zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigner Herr ist, Anspruch machen zu können".

Aber auch die "passiven" Staatsbürger haben das gleiche Recht auf freie Entwicklung. Es darf nicht verhindert werden, "daß diese, wenn ihr Talent, ihr Fleiß und ihr Glück es ihnen möglich macht, sich nicht

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zu gleichen Umständen zu erheben befugt wären". Kein Vorrecht der Geburt, keine Hörigkeit. Kein Mensch kann durch "rechtliche Tat (weder seine eigne, noch die eines andern) aufhören, Eigner seiner selbst zu sein, und in die Klasse. des Hausviehes eintreten, das man zu allen Diensten braucht, wie man will, und es auch dann ohne seine Einwilligkeit erhält",

Wie Kant im Gebiete der Religion die christliche Barmherzigkeit, die Charitas, als beleidigend für die Würde der Menschheit bezeichnet, so bekämpft er auch allen Patriarchalismus: "Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, das ist eine väterliche Regierung, wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Vorteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gültigkeit zu erwarten, ist der größte denkbare Despotismus".

Das Prinzip der Freiheit weitet sich zum Kosmopolismus, der alle Völker im Bunde der Kultur um-fängt. So entwirft er seinen Traktat vom ewigen Frieden, indem er übrigens durchaus realistisch sowohl die Bedingungen des Friedenszustandes' wie die zeitlichen Notwenigkeiten von Kriegen untersucht.

Kant blieb im Bann des Liberalismus. Seine Ethik suchte ihre Verwirklichung nur in dem Sprengen von Fesseln. Aber seine Schüler zogen alsbald weitere Folgerungen. 1792 veröffentlichte Hippel seine Schrift "über die bürgerliche Verbesserung der Weiber", in der zum erstenmal die völlige bürgerliche Gleichberechtigung der Frauen bis in die letzten Konsequenzen proklamiert wurde; zugleich zog er die französische Revolution vor Gericht, weil sie zwar der

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Welt die Freiheit votiert, aber der größeren Hälfte der Menschen diese Freiheit ausdrücklich versagt habe. Im Weiterdenken der Kantschen Lehre wurde Fichte dann zum utopischen Sozialisten.

Kein Deutscher der Zeit hat die Bedeutung der französischen Revolution, deren echter Philosoph er war, tiefer erfaßt als Kant. Er fiel von seiner Begeisterung auch nicht ab, als die Ereignisse sich abspielten, die man als "Greuel" zu bezeichnen pflegt. Auch nachdem die Guillotine die Hinrichtung der alten Gesellschaftsordnung vollzogen, wagte Kant öffentlich die Revolution zu preisen als die "Begebenheit unserer Zeit, welche die moralische Tendenz des Menschengeschl echts beweist". Durch die umstürzenden Befreiungstaten der Revolution stärkte sich sein Glauben an die Möglichkeit und Wirklichkeit einer Menschengemeinschaft der Freien und Gerechten.

Kants Philosophie drang denn auch in das aufgewühlte Frankreich. Im Januar 1796 schreibt Karl Theremin, Bureauchef im Wohlfahrtsausschuß, aus Paris an seinen Bruder in Deutschland, er möchte versuchen, ein "Professorat über Kantische Philosophie" in Frankreich zustande zu bringen; er weist dabei auf Sieyes Interesse an der Philosophie Kants hin. Im November 1795 hatte schon Kants Vertrauter, Kiesewetter, der ihn namentlich ständig von den Vorgängen an dem Berliner Hofe unterrichtete, nach Königsberg im Hinblick auf die Schrift über den ewigen Frieden geschrieben: "Leid tut es mir, daß diese Schrift nur den Deutschen bekannt werden sollte, es finden sich unter uns noch manche Hindernisse, ich will nicht sagen, die Wahrheit zu erkennen, aber doch sie auszuüben; gewiß würde diese Schrift bei jener großen Nation, die so manche Riesenschritte auf dem Wege der politischen Aufklärung gemacht hat, viel Gutes stiften." Die Schrift wurde darauf tatsächlich übersetzt. Humholdt hielt Vorträge im Pariser National-

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institut über die Weltanschauung Kants, allerdings wegen ihres Verständnismangels nicht zur Zufriedenheit des Philosophen.

Bei solchem Enthusiasmus ist es nun ein seltsamer Widerspruch, daß Kant in seinen staatsrechtlichen Schriften scheinbar mit höchstem Nachdruck das Recht auf Revolution verwarf. Wenn man hier zitieren wollte, so würde man die muffige und ängstliche Luft der damaligen Amtsstuben zu verspüren meinen; alles scheint auf die demütige Forderung hinauszulaufen: "Sei untertan der Obrigkeit." Und dennoch, wenn man genauer liest, wenn man die Sprache Kants beherrscht, so mildert sich der Widerspruch, wenn er auch nicht ganz verschwindet. Einmal besteht Kant auf der Gesetzlichkeit, nachdem er die Möglichkeit gesetzlicher Entwicklung durch die freie Republik vorausgesetzt hat. Dann aber bestreitet Kant das Recht der Revolution, in letzter Absicht offenbar deshalb, um auch das Recht der Gegenrevolution verneinen und die Gesetzlichkeit der revolutionären Wirkung behaupten zu können. Denn nachdem er die Revolution aus Prinzip augenscheinlich sehr derb befehdet, fährt er gemütlich fort: "Übrigens, wenn eine Revolution einmal gelungen und eine neue Verfassung gegründet ist, so kann der Unrechtmäßigkeit des Beginnens und der Vollführung derselben den Untertanen von der Verbindlichkeit, der neuen Ordnung der Dinge sich als gute Staatsbürger zu fügen, nicht befreien, und sie können sich nicht weigern, derjenigen Obrigkeit ehrlich zu gehorchen, die jetzt Gewalt hat." Damit ist das Prinzip der Legitimität und der angestammten Monarchie von Grund aus preisgegeben, das in der Folge in der Reaktionszeit der heiligen Allianz die ideologische Losung der Knechtschaft ward. Kant gibt auch indirekt dem "entthronten Monarchen" den Rat; in den Stand eines Staatsbürgers zurückzutreten, seine und des Staates

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Ruhe dem Wagstücke vorzuziehen, als Prätendent das Abenteuer der Wiedererlangung der Krone zu wagen. Ebenso, ohne es wieder deutlich auszusprechen, leugnet er das Recht andrer Mächte, sich diesem "verunglückten Oberhaupt zum Besten in ein Staatsbündnis zu vereinigen, bloß um jenes vorn Volke begangene Verbrechen nicht ungeahndet noch als Skandal für alle Staaten bestehen zu lassen, mithin in jedem andern Staate durch Revolution zustande gekommene Verfassung in ihre alte mit Gewalt zurückzubringen".

Fichte führte dann alle diese beklommenen und verhüllten Andeutungen des Meisters mit rücksichtsloser Kühnheit aus. Aber auch bei Kant schimmert die Herzensmeinung deutlich genug durch.

Auf seine Zeitgenossen wirkte Kant vornehmlich durch seine Ethik und durch seine Ästhetik, die hier übergangen werden muß. Im Geiste Kants entwirft Schiller den Plan seiner Universalgeschichte, seiner ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts. Durch das Medium Schiller wieder wird Kants chiliastische Weltanschauung Musik in Beethoven und stürmt zum Himmel in dem Schlußchor der neunten Symphonie: Freude, schöner Götterfunken!

Wie tief Kant die Gemüter erschüttert, das zeigen Briefe Fichtes. Er lernt Kants Schriften ganz zufällig kennen. Halb verhungert, in den schlimmsten Nöten seines Daseins, muß er sie lesen, um Unterrichtsstunden geben zu können. Der Zufall wird ihm zum Schicksal: "Ich hatte mich" - schreibt er an seine Braut 1790 - "durch eine Veranlassung, die ein bloßes Ungefähr schien, ganz dem Studium der kantischen Philosophie hingegeben, einer Philosophie, welche die Einbildungskraft, die bei mir immer sehr mächtig war, zähmt, dem Verstande das Übergewicht und dem ganzen Geist eine unbegreifliche Erhebung über alle irdischen Dinge gibt. Ich habe eine andere Moral

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angenommen, und anstatt mich mit Dingen außer mir zu beschäftigen, mich mehr mit mir selbst beschäftigt. Dies hat mir eine Ruhe gegeben, die ich noch nie empfunden; ich habe bei meiner schwankenden äußeren Lage meine seligsten Tage verlebt." Und an seinen Bruder berichtet er: "Von einem Tage zum andern verlegen um Brot, war ich dennoch da-' mals vielleicht einer der glücklichsten Menschen auf dem weiten Rund der Erde." -Zur selben Zeit: "Es ist unbegreiflich, welche Achtung für die Menschheit, welche Kraft uns dies System gibt."

Kant wird auch in privaten Wirren Ratgeber und Beichtvater aller Welt. Als ihn das Religionsedikt trifft - das ihn, wie Kant melancholisch spöttelt -in "Staats- und Religionsmaterien" einer "gewissen Handelssperre" unterwarf, forderte ihn der Braunschweiger Schulrat Campe' heute noch bekannt durch seine Robinson-Bearbeitung, auf, zu ihm zu kommen:

"Sehen Sie ... sich als den Besitzer alles dessen an, was ich mein nennen darf." Zwar sei auch er, so heißt es in dem Briefe Campes' nicht begütert, aber er sei bedürfnislos, und so habe er "immer noch mehr übrig, als zur Verpflegung eines Weisen nötig ist"

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Der klassische Denker des Liberalismus hat mit dem heutigen Bürgertum nichts mehr gemein. Für das, was sich heute Liberalismus nennt, ist Kant nur ein Medusenschild. Will man die ganze Erniedrigung des bürgerlichen Geistes an einem, freilich unflätigen Beispiel ermessen, so mag man erwähnen, daß der heutige Inhaber des Lehrstuhls Kants in Königsberg ein Mann ist, der zwar nicht einmal in die Vorhalle philosophischer Erkenntnis eingedrungen ist, der aber die Barbarei der heutigen herrschenden Klassen hübsch in Paragraphen zu bringen versteht. Kants Humanitätsidee ist ihm tollster Unsinn, und indem

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er - der Name des Philosophen sei schamhaft verschwiegen - das klassische Humanitätsideal für eine teilbare Materie, wie eine Wurst ode? einen Käse hält, widerlegt er es durch die Bemerkung, daß die Menschheitsliebe "praktisch unmöglich" sei, "weil auf die einzelnen Individuen dann nur ein verschwindender Bruchteil von Liebe entfallen würde". Aber die allgemeine Idee der Menschheit sei auch nicht berechtigt und habe als solche gar keinen Wert. Es sei "gar keine moralische Aufgabe, sich ... über den Zufall der Geburt einfach hinwegzusetzen . Und Kants Nachfolger kann sich des edlen Gedankens "nicht erwehren, daß, wie viele von denen, die am lautesten die Humanität gegen die Verbrecher predigen,' dabei insgeheim von dem Gedanken geleitet werden, daß auch sie möglicherweise von dieser Humanität profitieren könnten, so auch viele von den Aposteln der allgemeinen Menschenliebe und Brüderlichkeit ein wohlverstandenes Interesse daran haben, die kräftige Geltendmachung nationaler Gesinnung zu bekämpfen,

- daher denn auch die Sozialdemokratie, der Anarchismus und das internationale Manchestertum ihre eifrigsten Anwälte sind*).

Das ist der Weg der hundert Jahre des herrschenden Geistes, von Kants Weltbürgertum bis zu dieser nationalen Gesinnung seines Nachfolgers. Alle lauten Kant-Feiern und alle Versuche, den größten Denker auf den Stand der heute regierenden Verwahrlosung fälschend zu senken, ändern nichts an der Erscheinung, daß der Philosoph des Liberalismus sein Asyl und seine Wirkung nur noch im sozialistischen Proletariat

*) Anmerkung 1918. Der Mann ist inzwischen gestorben, dessen Teilungsargument übrigens die Konsequenz hätte, daß der Patriotismus um so größerer Unsinn wird, je größer die Bevölkerung des Staates ist, dieweil dann der auf den einzelnen entfallende Anteil an Vaterlandsliebe immer mehr verdünnt wird.

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hat. Die Geschlossenheit einer, den ganzen Menschen und die ganze Menschheit umfassenden, nach Einheit und Gewißheit ringenden Weltanschauung, die unlösliche Verkettung wissenschaftlicher Erkenntnis mit allem politischen Handeln, die prinzipielle Auffassung der Dinge, die Überzeugung von der Erreichung des Zieles eines Vernunftstaates, die Ethik der Freiheit und Gleichheit, die bei allem idealistischen Schwung, dennoch fest und besonnen, ohne säuselnde Sentimentalität und wehleidige Gefühlsschwelgerei auf dem Erdboden erwiesener Tatsachen, kritisch prüfend, steht, das unbeirrbare Weltbürgertum*), das alles spottet des seichten, opportunistischen, an niedrigsten Einzelinteressen haftenden, ziel- wie ideallosen und zugleich leer romantisch aufgeputzten Geistes der bürgerlichen Gesellschaft, das alles sind aber auch die tiefsten Wesenszüge der internationalen Sozialdemokratie.

*) Anmerkung 1918. "Unbeirrbares Weltbürgertum"! - das klingt wie ein Märchen aus verwehten Zeiten; denn seitdem ist die deutsche Sozialdemokratie in ihrer bureaukratischen Hierarchie den Weg des deutschen Liberalismus gegangen.

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