Aus der Panther-Zeit.

I.

Sus - die deutsche Existenzfrage.

Ein sich als Marokkokenner aufspielender Schriftsteller, Herr Albrecht Wirth, stellt den demnächstigen Untergang der deutschen Industrie in sichere Aussicht, falls Deutschland nicht Marokko erwürbe. Das "ganze Krämchen" - nämlich die deutsche Industrie - sei futsch, und Millionen Arbeiter lägen auf der Straße, wenn Deutschland keine Eisenerze mehr hätte. Die Vorräte an Eisenerzen sollen aber nur noch für dreißig Jahre reichen. Da können nur die ungeheuren Eisenschätze Marokkos retten, die nicht nur 6o-1oo Millionen Mark, wie bisher angenommen, sondern eine volle Milliarde betrügen.

Die Schätzung der marokkanischen Eisenvorräte ist zwar nicht aus den dortigen Eisenerzen selbst, sondern aus den Fingern des Schätzers geschürft. Aber wir wollen die Milliarde glauben. Was hülfe sie, um das ganze Krämchen und die Millionen deutscher Arbeiter vor dem Untergange zu bewahren!

Wenn dieser Weltwirtschaftspolitiker sich in die Statistik des deutschen Eisenverbrauches statt in die Geheimnisse von Marokko versenkt hätte, so würde er bemerkt haben, daß Deutschland schon heute nur die kleinere Hälfte des Eisenbedarfs im Inlande gewinnt, dagegen für 125 und mehr Millionen Mark alljährlich aus dem Auslande einführt.

Die Rechnung ist demnach klar, die ebenso imponierende wie aus der Phantasie bezogene marokkanische Eisenmilliarde wäre weniger als nichts. Selbst unter

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der Annahme, daß der ganze Vorrat vorhanden wäre, daß er gefördert werden könnte und bis auf den letzten Rest, dank der Erwerbung Marokkos, nach Deutschland käme, so würde ja auch dieser marokkanische Zuschuß in weniger als einem Jahrzehnt, und unter der Voraussetzung, daß die deutschen Eisenvorräte erschöpft wären, in weniger als einem Jahrfünft verbraucht sein.

Der Bankerott des Krämchens würde mithin durch Marokko im günstigsten und märchenhaftesten Falle, wenn man nämlich alle Behauptungen der Marokkowippchen für bare Münze nähme, nur um ein paar Jahre hinausgeschoben werden.

Es scheint uns unter diesen Umständen denn doch das Risiko eines Weltkrieges in keinem Verhältnis zu der möglicherweise zu erzielenden winzigen Fristverlängerung für die deutsche Industrie zu stehen. Dann leben wir lieber im Frieden, und wenn nach dreißig Jahren das Krämchen der deutschen Industrie aus Mangel an Eisenerzen zu Ende sein sollte, dann wird Herr Albrecht Wirth auf alle Fälle bereit sein, aus seinen Fingern den weiter notwendigen Bedarf an Eisenerzen zur Verfügung zu stellen, sogar in Deutschland, wenn er sich nur einige Mühe gibt.

[30. Juli 1911.]

II.

Innere und äußere Kolonisation.

In einer kleinen politischen Satire nahm ich kürzlich die "diplomatische Verständigung" in der Marokkofrage vorweg; ich empfahl die Formel: "wirtschaftliche Aufteilung Marokkos", Südmarokko als deutsches Interessengebiet. Das sei, meinte ich, das günstigste diplomatische Kompromiß, weil es der Quell unendlicher neuer gefährlicher Verwickelungen werden müßte.

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Fast scheint es, als ob die Satire Wahrheit werden wollte. Aus Furcht vor der goldströmenden Agitation der Gebrüder Mannesmann besteht Deutschland auf der Überweisung des "souverän" bleibenden Südens Marokkos als eines wirtschaftlichen Ausbeutungsgebiets für deutsche Kapitalisten. Für die Anerkennung der wirtschaftlichen Gleichberechtigung Deutschlands in Marokko tritt selbst verständlich auch die Sozialdemokratie ein. Ebenso könnte an sich Frankreich, wenn es Bosheitspolitik treiben wollte, nichts lieber sein, als wenn es Deutschland versuchen ließe, den marokkanischen Alpenvölkern, diesem "unzähmbarsten Volk" der Erde, die vermuteten (niemals bewiesenen) Erzschätze zu rauben; es wäre ein furchtbares Verbluten deutscher Kraft. Wenn gleichwohl Frankreich und England dieser deutschen Forderung Widerstand leisten, so nur deshalb, weil eine solche wirtschaftliche Aufteilung nur ein lächerliches Vorspiel einer wirklichen Eroberung des Landes wäre. Wenn heute irgendein Agent eines beutelustigen deutschen Kapitalisten im Sustal lungert und dabei zu Schaden kommt, weil die Eingeborenen den Eindringling zu ihrem Glück nicht für notwendig halten, so hat Deutschland heute gerade auf Grund der internationalen Verträge nicht nur keine Pflicht, sondern gar kein Recht, für das Opfer seiner Spekulation einzutreten. Das Sus-Gebiet ist vertragsmäßig für Fremde gesperrtes Land, und wenn diese trotzdem sich hineinwagen, so müssen sie das auf ihre eigene Rechnung und Gefahr tun, und die deutsche Großmacht wäre ebensowenig genötigt, sich hinter einen solchen Abenteurer zu stellen, wie sie "aus nationaler Ehre" verpflichtet wäre, ihre Flotte nach dem Nordpol gegen die Eisbären zu senden, die einen deutschen Reisenden gefressen.

Anders aber liegt die Sache, wenn sich Deutschland mit Frankreich vertragsmäßig verständigt, daß der Süden Marokkos deutscher Ausbeutung vorbehalten

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bleibt. Wenn auf Grund dieser Abmachung dann deutsche Freibeuter in das Sustal eindringen, dann trifft in kurzer Zeit der Fall tatsächlich ein, den Deutschland bei der Pantherfahrt nur plump vor-getäuscht hat: Diese Deutschen riefen nach Schutz gegen die aufrührerische Bevölkerung. Sicher werden bald ein paar Deutsche von den berberischen Kunstschützen niedergeknallt, die keinerlei Verständnis für die Aufgaben der kapitalistischen Sendboten Europas haben. Und der Rachezug ist fertig. Ein Kriegsgeschwader schwimmt nach Agadir oder auch Mogador. Deutsche Soldaten werden gelandet. Das Gebiet wird von und für Deutschland militärisch besetzt. Damit ist nicht nur ein trotz ungeheurer Opfer aussichtsloses Unternehmen auf das deutsche Volk geladen, sondern die Gefahr eines kriegerisch-weltpolitischen Zusammenstoßes mit den europäischen Westmächten in unmittelbare Nähe gerückt.

Darum müssen auch die deutschen Sozialdemokraten sich gegen die wirtschaftliche Aufteilung wenden, die nur ein vorläufiger Humbug ist, und allein für die im Vertrag von Algeciras zugesicherte wirtschaftliche Gleichberechtigung eintreten. Darum aber müssen auch die europäischen Mächte, die den Marokko-Konflikt lösen, nicht verschärfen wollen, diesen deutschen Vorschlag ablehnen, der kein Ausgleich, sondern eine Täuschung, keine Erledigung alter, sondern ein Anfang neuer Händel ist.

Das deutsche Volk hat nicht das mindeste Interesse, sich mit den Bezugs- und Profitsorgen von ein paar deutschen Kapitalisten solidarisch zu erklären. Zudem ist es mehr als fraglich, ob auch nur diese Spekulanten auf ihre Rechnung kommen würden, wenn selbst das ganze Volk für sie zu bluten bereit wäre.

Freilich sagt man uns nicht, wir sollen unsere Söhne auf dem goldenen Altar der Gebrüder Mannesmann opfern, sondern man malt uns ungeheure Kultur-

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aufgaben vor, die geradeswegs aus dem windigen Gehirn des seligen Barons Münchhausen stammen. In einer alldeutschen Broschüre wurde es für die dringlichste Aufgabe des deutschen Volkes erklärt, die Sus-Wüste zu bewässern; denn wenn auch der Sus zumeist unterirdisch flösse, so sei doch nichts leichter, als das Wasser emporzupumpen. Ein anderer Alldeutscher, der kürzlich Sachsen unsicher gemacht hat, empfahl in einem von ihm verfaßten hirnverbrannten Wisch aus einem anderen Grunde die Besiedelung Marokkos:

weil dort die Menschen sich wie die Blattläuse vermehren. Der hochselige Massinissa habe es in Nordafrika fertig gebracht, mit 94 Jahren noch einen echten Sohn zu zeugen; Mulay Ismail, habe 1200 Kinder gehabt. Die Geschichte vom Greisensäugling des Massinissa ist zwar 2100 Jahre und mehr alt; immerhin, wes Lebensideal ist, noch mit 94 Jahren einen echten Sohn zu zeugen, der mag ruhig ins Sustal pilgern, aber einen Krieg brauchen wir doch wegen dieser Lendensehnsucht nicht gerade zu führen; eine fröhliche Berberin wird schon aus Neugier bereit sein, in friedlicher Verständigung sich für ein solch alldeutsches Experiment herzugeben. Die 1200 Kinder des Mulay Ismail würden uns erst dann imponieren, wenn behauptet würde, daß sie von Einer Mutter stammen; denn daß ein Vater so fruchtbar sein kann, das lehrt uns nicht erst Marokko, so etwas ist auch auf sächsischen Thronen schon vorgekommen.

Bis zu solchen Narrenspossen sinken unsere Kolonisationswüteriche. Je weniger es wirklich zu kolonisieren gibt, um so toller delirieren die bezahlten und unzurechnungsfähigen Agenten kapitalistischer Erzsucher, die - auf Kosten des deutschen Volkes -Erz billiger holen wollen, als sie es aus Deutschland, Schweden oder Spanien bisher beziehen. (Übrigens verlangt man doch auch nicht die Eroberung Schwedens und Spaniens, obwohl die deutsche Eisenindustrie

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auf deren Erzgruben angewiesen ist!) In Südmarokko aber ist überhaupt nichts zu holen, außer etwa berberische Flintenschüsse. Eines der am gierigsten nach Südmarokko lechzenden Blätter, das Organ der bayerischen Regierung, die "Augsburger Abendzeitung", mußte sich kürzlich dazu verstehen, sich von einem Sachkenner über das "Märchen vom Sus" belehren zu lassen. Der Gelehrte höhnte über den Schrei nach Marokko, der von den "Bramarbassen und Bratenbarden" täglich ausgestoßen werde. Es sei schleierhaft, wo in den Wüsten Marokkos das Heidengeld stecken solle. Die Kaufkraft der Eingeborenen sei lächerlich gering; unsere Kaufleute mußten allenfalls für ihre Waren Wüstensand in Zahlung nehmen. Der Erzreichtum sei ganz und gar problematisch. Bisher beziehe man in Südmarokko das nötige Erz - aus dem Auslande:

Aber selbst den Erzreichtum des Hinterlandes von Agadir als Tatsache angenommen, vermöchte dies uns besonders zu locken? Wohl kaum!

Die Franzosen haben für ihren Blumenkohl, den sie in Zukunft in Nordmarokko bauen werden, natürlich nur wenig die räuberischen Gelüste der Berber zu fürchten; Blumenkohl ist nun einmal kein Tauschobjekt für Halbwilde. Mit Erzen ist dies aber eine andere Sache. Jeder Kenner Marokkos versichert, daß Erztransporte im Sustale alle dreihunderttausend Berberkrieger zum "heiligen Krieg" gegen die Eindringlinge anlocken würden. Am besten wissen dies natürlich aber die Herren Mannesmann, denen es recht gelegen käme, wenn sie unter der Obhut des Reiches ihre jetzt sehr problematischen Schürfrechte ausüben dürften. Doch für das Reich wäre dies ein teurer Spaß; denn durch eine ständige "Schutzwache" von mindestens 20000 Mann würden sich die fanatischen Atlasstämme wohl kaum dauernd zurückhalten lassen."

Diese Darlegungen in dem sonst Marokkofanatischen

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bayerischen Regierungsblatt genügen allein, um die ganze Gefahr der "wirtschaftlichen" Aufteilung erkennen zu lassen. Es gibt nur eine für das deutsche Volk gedeihliche Losung: Weg vom Sus!

Alle Kolonialpolitik ist günstigsten falls ein Bereicherungswerkzeug für einige Kapitalisten und Abenteurer. Die bisherigen deutschen Kolonien haben uns im letzten Jahrzehnt 500 Millionen mehr gekostet als eingebracht. Damit einige Kolonialspekulanten verdienen, wurde der Hunger der Massen furchtbar besteuert, wurde die innere Kolonisation in Deutschland gelähmt.

Man rät uns, ferne Wüsten aus unterirdischen Flüssen zu bewässern und um dieses Zieles willen einen Weltkrieg zu wagen. Derweilen gehört Deutschland selbst noch zu den dürftig kolonisierten Ländern. Jeder Wolkenbruch schafft ungeheure Verheerungen, weil unser Wasserverteilungssystem noch in den Anfängen steht. Jeder regenlose Sommermonat verbrennt die Felder, weil die Bewässerung noch nicht durchgeführt ist. Wir könnten für ungezählte Menschen fruchtbaren Ackerboden dem Wattenmeere abgewinnen; dazu haben wir kein Geld! Wir haben in Deutschland 500 Quadratmeilen Moor, deren Kultur erst zum kleinen Teile durchgeführt ist. Wie traurig und armselig steht es um die deutsche Obstbaumzucht! Welche gewaltigen Flächen liegen brach und öde! Deutschland hat bei einer Bodenfläche von 54 Millionen Hektar 6,2 Millionen Brache und Ödland; Frankreich bei der gleichen landwirtschaftlichen Fläche nur 3,8 Millionen. Die weltpolitischen Milliarden für Deutschland selbst aufgewandt, und unser Vaterland könnte ein blühender Garten werden.

So sind unsere Alldeutschen in Wahrheit nicht die Mehrer, sondern die Zerstörer deutschen Volkstums. Damit einige Kolonialräuber die Welt für ihre schmutzigen Privatinteressen abgrasen können, wird deutsche

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Arbeit sinnlos vergeudet. Indem die internationale Sozialdemokratie aber diese "Weltpolitik" bekämpft, treibt sie echte Heimatpolitik.

[4. September 1911.]

III.

Frankreichs Friedensbürgschaft.

Am Ausgang der Marokkokrisis veröffentlicht Camille Pelletan im Matin Betrachtungen, die in Deutschland gehört und beherzigt zu werden verdienen. Um so mehr, als die deutsche Presse ihr skandalöses Sommertreiben eben damit beschließt, daß nach der Franzosenhetze jetzt Frankreich gegen England auszuspielen sucht, und die übereinstimmenden, der Auslassung Pelletans durchaus verwandten Urteile der englischen Zeitungen und Revuen als boshafte und gehässige, lediglich englische Verleumdungen denunziert.

Lange Zeit hindurch, schreibt Pelletan, hatte der deutsche Kaiser die Gewohnheit geübt, in recht nahen Zwischenräumen irgendein Drohwort auszusprechen, dessen Explosion die Welt alarmierte. Man hörte hin; unterrichtete sich; die Journale der ganzen Welt waren voll von Erläuterungen über die Redewendung, oder von mehr oder minder richtigen Informationen über ihre möglichen Folgen. Dann legten sich die Beängstigungen des ersten Augenblicks, und Europa wurde wieder ruhig.

Auch in Deutschland war man über diese lärmenden Überraschungen wenig erfreut, und die öffentliche Meinung wünschte, daß der Kaiser auf solche Kundgebungen verzichte. Jetzt sei es nicht mehr der Kaiser, sondern sein Kanzler, der durch solche heftige Tamtam-Schläge die Welt störe. "Diesmal war der Lärm ernster, länger; er scheint jetzt fast vorüber; aber er hat lange genug gedauert, und was noch ärgerlicher,

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er droht zukünftig sieht zu erneuern." Beunruhigt fragt Pelletan, wie lange die jetzige Verständigung dauern werde. Man verspricht uns, fährt Pelletan fort (der übrigens ein Gegner der Expansionspolitik ist), die Vorherrschaft in Marokko. Ich fürchte ein wenig dies gefährliche Geschenk, wenn wir's haben werden, wird unsere Grenze nicht weniger offen sein; das kaiserliche Militärreich, das unser furchtbarer Nachbar ist, wird nicht weniger bewaffnet sein; und seine Regierung wird wahrscheinlich nicht auf die Tamtam-Schläge verzichtet haben. Nach Erwerbung eines Teiles des Kongo wird man nur um so mehr Lust haben, wieder anzufangen. In den wirtschaftlichen Zugeständnissen in Marokko, d. h. in den Konzessionen an einflußreiche Kapitalisten, wird Deutschland so viel Vorwände zur Klage und zum Konflikt finden, wie es wünscht.

Pelletan ist nichts weniger als ein Chauvinist. Aber er stellt doch fest, daß Frankreich in den letzten gefährlichen Monaten durchaus kaltes Blut bewahrt hat. Es ließ sich weder nationalistisch erhitzen, noch durch die Schrecken und Verwüstungen eines möglichen Krieges in Angst jagen. Selbst die Geschäftswelt blieb völlig ruhig. Das Kapital, das furchtsamste Ding der Welt, hat nicht das leiseste Symptom einer Panik gezeigt. Aber in Deutschland wurden Sparkassen gestürmt, aus den Banken die Gelder zurückgezogen, eine wirtschaftliche Deroute hervorgerufen. Und Pelletan weist sehr zutreffend auf die Ursachen dieses Unterschiedes hin:

"Es scheint mir schwer, unseren republikanischen Einrichtungen ihr Verdienst an dieser verschiedenen Lage zu verweigern. Frankreich weiß sich Herr über sein Geschick; es braucht nicht zu fürchten, daß eine Regierung, die es in seiner Hand hält, es in das Ungefähr eines Krieges stürzen könnte, gegen seinen Willen.

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Frankreich wäre wahrscheinlich weniger ruhig gewesen, wenn es noch einen Kaiser gehabt hätte, wie den, der unsere Heere nach Sedan geführt hat. Und man begreift, daß Deutschland nicht eben so viel Vertrauen gehabt hat, weil es nicht dieselben verfassungsmäßigen Garantien hat. Auf jeden Fall bezahlt Deutschland heute auf dem finanziellen und wirtschaftlichen Gebiete die Kosten der Krisis, die seine Regierung geschaffen hat. Ein solches Ergebnis ist ohne Zweifel nicht geeignet, Deutschland die Politik der Tamtam-Schläge lieben zu lassen."

[5. Oktober I911.]

IV.

Was nun?

Bis in die Reihen der Nationalliberalen hinein ist jetzt zugegeben worden, daß die Entsendung des "Panthers" nach Agadir ein Fehler gewesen ist. Das ist ein gefährlich verspätetes Zugeständnis, das erst unter dem Gefühle sich hervorwagte, daß die lärmende Aktion zu Anfang in keinem Verhältnis zu dem dürftigen Ertrag am Ausgange stehe. Aber erinnern wir uns: In jenen ersten Julitagen, da Europa bewußtlos am Abgrund des furchtbarsten aller Weltkriege taumelte, jauchzte die gesamte bürgerliche Presse, ohne Ausnahme, nur in verschiedenen Abtönungen über die befreiende Tat des 1 Herrn v. Kiderlen. Für eine befreiende Tat konnte das Geschehnis doch nur deshalb angesehen werden, weil man von ihr den Anfang weltpolitischer Besitzergreifungen erwartete. In jenen Tagen hatte alles tripolitanische Stimmungen, und alles Preßgesinde erklärte heldenmütig, daß das deutsche Volk zu den äußersten Konsequenzen entschlossen sei. Die Sozialdemokratie war in jenen Sommertagen mit ihren Protesten, ihren Warnungen, ihren Hinweisen auf die drohenden Katastrophen völlig einsam.

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All die deutschen "geheimen" Aufklärungen haben bisher keine Aufklärung über Grund und Absicht des Unternehmens gegeben. Herr v. Kiderlen hat immer wieder behauptet, niemals sei an eine Besitzergreifung in Marokko gedacht worden. Er hat jene unerhörte Aktion nur als so etwas wie einen ein wenig energischeren offiziösen Zeitungsartikel erklären wollen. Das ist natürlich eine so kindische Begründung , daß sie kein ernsthafter Mensch glaubt. Dennoch hat Herr v. Kiderlen wirklich vielleicht nicht mehr gewollt als eine schöne Geste. Die einzige Erklärung ist immer noch, daß sich die Berliner Regierung durch die falschen Berichte des unfähigen deutschen Botschafters in London, Wolff-Metternich, hat in den Wahn locken lassen, England sei unzufrieden mit der französischen Marokkopolitik und würde ein hemmendes Eingreifen Deutschlands nicht ungern sehen.

Indessen, es hat keinen Zweck mehr, über die fatalen Ursachen beispielloser Fehler zu grübeln. Das Unheil ist geschehen, es kann durch gar nichts mehr in seinen Wirkungen abgeschwächt werden.

Mag man jetzt Verträge schließen, Friedensreden halten und sich in Beteuerungen internationaler Loyalität überbieten, der "Panthersprung" wird niemals mehr vergessen und er wird überall in der Welt als ein erster, mißglückter Versuch aufgefaßt, die deutsche Weltherrschaft zu beginnen.

Wir debattieren nicht über das Recht, daß auch Deutschland sich eine Weltherrschaft gründe. Recht oder Unrecht - so viel ist sicher, daß unter den heutigen geschichtlichen Bedingungen eine solche Politik nicht durchgesetzt werden kann, ohne daß die Völker Europas in einen Krieg gestürzt werden, der einen Weltuntergang bedeutet. Deshalb ist jede imperialistische Politik für die Sozialdemokratie undiskutabel.

Das internationale Proletariat aber hat Eile, einen entscheidenden Einfluß auf das Schicksal der Völker

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geltend zu machen. Die Katastrophe lauert an der Schwelle. Die Gefahr ist größer denn je. Die Sozialdemokratie allein ist der Friede.

Der neue Reichstag wird sich bald nach seinem Zusammentritt mit einer neuen Flottenvorlage zu beschäftigen haben. Eine Flottenvorlage aber bedeutet mehr als eine neue schwere Belastung der Volksmassen. Eine neue deutsche Flottenvorlage wirkt als ein neuer, stärkerer Panthersprung, als eine abermalige Bekräftigung der internationalen Überzeugung, daß Deutschland sich heute noch nicht stark genug fühlt, den Kampf um die Weltherrschaft mit England zu beginnen, daß es aber morgen, übermorgen losschlagen wird. Diese allgemeine, und immer wieder durch die deutsche Politik genährte Überzeugung ist die furchtbare Gefahr, unter der wir leben. Denn dadurch muß bei den anderen Mächten der politische Gedanke die unheimliche Gewalt einer nie rastenden Zwangsvorstellung gewinnen, ob man so lange warten soll, bis die deutsche Rüstung vollendet ist, ob man nicht zuvorkommen kann.

Über diese Gefahr dürfen wir uns keinen Augenblick täuschen und beruhigen.

Ein französischer Offizier und Militärschrittsteller, Pierre Felix, veröffentlicht soeben in Paris eine Schrift, die für jene verruchten, aber nun einmal vorhandenen Stimmungen eine aufklärende Urkunde ist. Unter dem Titel: "Et maintenant ?" - "Und nun?" - veröffentlicht er Betrachtungen über die durch den französisch-deutschen Vertrag geschaffene Lage und er setzt bereits auf das Titelblatt die drohende Losung und Lösung:

"Le Désarmement ou la guerre" - Abrüstung oder Krieg.

Es hilft nicht, daß man den Verfasser als einen Nationalisten (klerikaler Färbung) abtut (der Sozialismus wird von ihm wie eine einfältige Utopie behandelt) - die Gedanken, die er entwickelt, haben ihre

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Logik, und was er schreibt ist Trotzdem herrschende Meinung.

Pierre Felix geht von der Vorstellung aus, daß Deutschland die Weltherrschaft erstrebt: "Was Deutschland noch zügelt, ist die englische Flotte..., aber in zehn Jahren wird sich die deutsche mit der englischen Flotte messen können." Dann ist Deutschland eine schlechthin unüberwindliche Macht. Also darf man nicht warten, also muß man heute handeln. Es gibt nur noch zwei Möglichkeiten: die gleichzeitige, allgemeine und vollständige Abrüstung oder den Weltkrieg mit all seinen unermeßlichen und unausdenkbaren Folgen. Man muß Deutschland zur Abrüstung zwingen, mit allen Mitteln politischen, wirtschaftlichen, militärischen Zwanges. Die Abrüstung aller Mächte muß vollständig sein. Zur Aufrechterhaltung der europäischen Sicherheit gegen plötzliche Störungen soll nur noch eine Art internationaler Gendarmerie gestattet sein: höchstens 100000 Berufssoldaten und vier Kreuzer, Macht genug, um Friedensstörungen abzuwehren, nicht stark genug, um zu erobern. Weigert sich Deutschland, sich diesen Abrüstung anzuschließen, so muß sofort die Entscheidung durch einen Krieg herbeigeführt werden, in dem Deutschland unterliegen muß, da es England, Frankreich und Rußland gegen sich, nur Österreich für sich haben würde. England soll alsbald diese Entscheidung herbeiführen:

Abrüstung oder Krieg!...

Weltfriedlich-blutrünstige Hirngespinste!. Gewiß! Wenn sie nur nicht zugleich bis zum Ende durchdachte tatsächliche Erscheinungen wären! Zum Glück hat die Beweisführung dieser (im doppelten Sinne!) Gewaltabrüstung doch eine Lücke; und der Verfasser fühlt sie. Darum schaltet er das Proletariat, die Sozialdemokratie, aus seiner Berechnung aus, wenn er auch Bebels Jenaer Kriegsschilderung ausdrücklich bekräftigt. Er will die proletarisebe Weltmacht

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nicht sehen, weil seinem reaktionären Kopf vor ihr graut.

Zum Heil der Welt ist diese Macht dennoch vorhanden. Pierre Felix hätte recht, wenn das Proletariat nicht vorhanden wäre. Gewinnt bei den nächsten Wahlen die deutsche Sozialdemokratie entscheidenden Einfluß auf die deutsche Politik, so wird sie ebenso sehr für die Entfaltung aller nationalen Kulturkraft im friedlichen Wettbewerb sorgen, wie sie - durch ihre unbezweifelbare Friedensentschlossenheit - das Weltmißtrauen gegen die finsteren Pläne des deutschen Imperialismus beseitigen wird nicht zum wenigsten dadurch, daß sie durch Sicherung der Volksrechte und durch ein Budget von Besitzsteuern den Friedenswillen des Proletariats betätigen, den Rüstungswahn der Herrschenden beugen wird.

Anmerkung 1918. Das ward am 28. November 1911 veröffentlicht. Die "nächsten Wahlen" ließ man noch zu; es kamen 110 Sozialdemokraten. Auf 200 Sozialdemokraten aber wollte man nicht mehr warten. Man wußte noch nicht, daß man auch mit 200 Sozialdemokraten im Reichsparlament ohne innere Schwierigkeiten einen Weltkrieg führen könnte.

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