Die Tragikomödie des deutschen Liberalismus.

"Geist genug zu allen Fragen und Zweifeln und kein Genie zu ihrer Lösung."
Rudolf v. Bennigsen an seine Mutter.
17. September 1847.

I.

Vom deutschen Liberalismus der immer und überall dabei war und doch niemals zur Macht gelangte, erzählt Hermann Oncken auf fast anderthalbtausend großen Lexikonseiten, indem er aus den nachgelassenen Papieren Rudolf v. Bennigsens das Leben des liberalen Führers schreibt und die von ihm selbst nicht aufgezeichneten Memoiren eines im Vordergrund geschäftigen Daseins zu rekonstruieren versucht. Hermann Oncken hat damit ein Quellenwerk ersten Ranges für die deutsche Parteigeschichte geliefert und reiche Beiträge zu der Durchdringung des Problems gespendet, warum wir in Deutschland immer nur einen zugrunde gehenden, sich verlierenden, faulenden Liberalismus gehabt haben.

Wir kannten aus persönlicher Anschauung nur den Bennigsen des neuen Deutschen Reiches und des Reichstages. Auch damals unterschied sich der Führer der älteren nationalliberalen Generation noch wesentlich von seinen Epigonen, den platten politischen Geschäftsleuten von der Rasse der Paasche, Bassermann, Semler. Er hatte doch etwas von einem gebildeten europäischen Politiker, er hatte Kenntnisse, ein idealistisch gerichtetes Wollen, oder besser Wünschen, und durch seine blasse, ein wenig müde Rhetorik schimmerte doch zuweilen eine vornehme Gesinnung

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und feinere Geistigkeit durch, die sich an allerlei Schätzen der Kultur genährt hatte. Aber dieser Mann war schon zugrunde gegangen, als er im Deutschen Reich zu wirken begann, ein Liberaler, der am deutschen Liberalismus verkommen war. Er war von Haus aus in Wahrheit eine politische Natur. Der bei uns so seltene politische Dämon wohnte und wirkte in ihm, wenn auch ein deutschtemperierter Dämon. Aber diese Zeit politischer Kraft und geschichtlicher Charaktere lag längst hinter ihm, als wir ihn in der Nähe agieren sahen. Auch er war zerschellt an dem unpolitischen Krämer- und Philistersinn des deutschen Bürgertums. Er wollte kein Verbannter sein, wie die großen Vorkämpfer deutscher Freiheit, er wollte das Mögliche, das Erreichbare durchsetzen, und so riß er vom Liberalismus Stück für Stück los, bis er nur noch ein wirres Gefüge treibender Trümmer war.

Von zwei Klippen ist die deutsche bürgerliche Politik niemals losgekommen: von einem starren Doktrinarismus, der seine Feigheit tätiger Verantwortung hinter die Pflicht verschanzt, unantastbare Grundsatze in voller Reinheit zu erhalten, und von seinem Gegenspiel, wirklich grundsätzliches Handeln in eine überzeugungs- und richtungslose leere Betriebsamkeit aufzulösen, die immer siegt, indem sie nie eine Schlacht wagt. Bennigsen hatte in jungen Jahren diese beiden Todsünden der Politik erkannt, dann aber, um nicht doktrinär zu sein, ward er der machtpolitisierende Opportunist der Ohnmacht, der echte Irrealpolitiker im Wahne realistischer Politik.

Rudolf v. Bennigsen stammt aus einem uralten niederdeutschen Adelsgeschlecht. Die Bennigsen - nach einem Dorf, südlich von Hannover - sind schon als Herren von Bennucheshusen im 14. Jahrhundert nachweisbar; sie gehörten zu den 8o herrschenden Rittergeschlechtern, die Hannover als ihre Domäne ausbeuteten, wenn auch nicht zu dem Kern der 20

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Familien, die die Minister- und alle höheren Posten im Staate einnahmen. Sie waren mäßig begütert, leisteten vielfach Kriegsdienste im Ausland; der russische General v. Bennigsen gab 1801 das Signal zur Familienermordung des Zaren Paul I. Bennigsens Großvater war preußischer Offizier, der den ruhmlosen Feldzug gegen die französische Revolution mitmachte und dann 1806 zu den Kapitulanten von Magdeburg gehörte; eine in jeder Hinsicht zerrüttete und verbitterte Existenz, unglücklich in seinem Familienleben, gebrochen in seiner Laufbahn, von Schulden belastet, das Familiengut dem Konkurs ausliefernd. Sein Sohn, Rudolfs Vater, baute dann in zäher Hingebung die verfallene Familienexistenz auf, auch er ein Militär, in Wahrheit mehr eine humane Gelehrtennatur, beschaulich und philosophisch gestimmt, kein Sklave seiner Kaste und voll zärtlicher Sorgfalt für seine Söhne, deren freie Entwicklung er opfernd und verständnisvoll förderte. Von mütterlicher Seite hat Rudolf v. Bennigsen Hugenottenblut ererbt.

Die englische Fremdherrschaft ersparte Hannover das Schicksal der anderen deutschen Vaterländer, von ihren angestammten Fürstenhäusern ausgesogen zu werden; die fremde Monarchie kostete Hannover durchschnittlich nur 12542 Taler jährlich. Auch gestattete die englische Herrschaft eine größere geistige Freiheit. Auf der hannöverschen Universität Göttingen wirkte der erste liberale deutsche Publizist, Schlözer, der die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts mit seinem Ruhm erfüllte, und freilich auch gleich "nationalliberal" gesinnt war, mit seinem Kultus des "gemäßigten Fortschritts" und seiner Angst vor radikalen Forderungen und Taten als Teufeleien, die nur die "Reaktion" fördern. Aber die liberale Gesinnung war doch nur ein zartes Pflänzchen literarischer Zivilisation. Sonst drückte auf dem Staat eine extrem

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konservative Adelsherrschaft; zwei Drittel aller Rittergüter waren in den Händen des Adels, der alle Staatsstellen als seine Majorate erblich inne hatte.

Rudolf verbringt seine Kindheit in Hameln, Lüneburg, Hannover. Er ist eine "Primus"-Natur, ein ausgezeichneter Schüler, der in einem freien, geistigen und innigen Familienleben seine Gaben entfalten kann. Er ist ein Büchervertilger und Schillerschwärmer; Wilhelm Tell ist sein Held. Aber in dieser später so glatt harmonisch erscheinenden Natur geht doch ein Gespenst jäher Leidenschaft um: Der sechzehnjährige Knabe unternimmt einen höchst ernsthaften Selbstmordversuch, vermutlich in der Zerrissenheit einer jungen Liebe. Mit einem Reifezeugnis "erster Klasse" verläßt er das Lyzeum. Vier Jahre später nennt er die Schulmethode "geistestötend" und spricht von seiner "glänzenden Oberflächlichkeit", die für Genie gehalten worden sei. Er studiert in Göttingen die Rechte. Die Universität stand noch ganz unter dem Eindruck der Maßregelung der "Sieben" im Jahre 1837. Was da noch lehrte, war öde Mittelmäßigkeit; so bezog Bennigsen seinen ersten volkswirtschaftlichen Unterricht von dem jungen Roscher, dem Begründer der "historischen Schule", dem ebenso platten wie erfolgreichen übervulgären Kompendienschreiber der Nationalökonomie, der in seiner "Geschichte der Nationalökonomie" noch 1874 Karl Marx in einer Fußnote erledigte.

Bennigsen wird aus rein persönlichen Gründen Korpsstudent, obwohl er politisch zu den Burschenschaften neigt. Er ist lebenslustig, auch wild und stürmisch, macht Schulden, aber niemals roh und gemein. Als die Familie 1842 - der Vater wurde militärischer Bundesbevollmächtigter beim Bundestag - nach Frankfurt a. M. übersiedelt, gerät der Student in die liberale Luft der Heidelberger Universität, wo Gervinus und Schlosser wirkten. Er vertieft sich

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hier in politisch-radikale Schriften, ist empfänglich für den Romansozialismus Eugene Sues, dessen "sehr anregende Diskussionen über jetzige soziale Verhältnisse, besonders über die Erleichterung des traurigen Loses der arbeitenden Klassen" ihn mächtig bewegen.

Er verbummelt ein wenig, bleibt nicht ohne studentische Disziplinarstrafen, mit einem schlechten Zeugnis, der Wirkung eines alsbald von ihm selbst beklagten "wilden und leidenschaftlichen Studentenlebens" tritt er in die hannöversche Beamtenlaufbahn ein, die er unruhig und unzufrieden sofort wieder aufgeben will. Er denkt an den akademischen Beruf, er träumt von dem Professor als Schöpfer und Former eines neuen staatlichen und gesellschaftlichen Lebens: "Die Wissenschaft muß sich vom Schulstaub immer mehr befreien und nur in einer höheren Auffassung und Gestaltung des Lebens ihr Ziel suchen, dann hört sie aber von selbst auf, reine Theorie zu sein, und wird gewiß in edlerem Sinne "eine praktische" genannt werden können als die gesamte Beamtenschreiberei"' schreibt er 1846 an den Vater. Er sieht den Sturm kommen, der alle europäischen Verhältnisse aufzuwühlen droht und schwärmt: "Soll nicht zum zweiten Male in Europa eine jahrhundertelange Barbarei, folgend auf eine ebenso lange dauernde Umwälzung an die Stelle einer dem Untergange nahen Kulturepoche treten, so ist das nur durch eine Vereinigung der im Volke liegenden schöpferischen Kraft und noch ungebrochenen Leidenschaft und des wärmsten, aufopferndsten wissenschaftlichen Eifers aller derer aus unseren sogenannten gebildeten Klassen möglich, die für das Wohl der Menschheit noch einer Begeisterung fähig sind und die an einer glücklichen Entwicklung zu einer besseren Epoche noch nicht verzweifelt haben." Schon regt sich in solchen Wendungen ein radikaler Geist.

Aber Bennigsen ist schon früh ein Mensch von

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schnellem Verzicht. Die nebensächliche Hemmung, daß er als Beamter keinen Urlaub erhält, um sich auf die Universitätskarriere vorzubereiten, bestimmt ihn, den Plan überhaupt aufzugeben. Doch er geht von der Verwaltung in die freiere Richterlaufbahn über. Noch hat er einen Hang zur goldenen Mitte der Lebensauffassung. Er verabscheut in seiner religiösen Weltanschauung Atheismus und Materialismus, aber ebenso den Katholizismus und die protestantische Orthodoxie, und erwartet eine neue Reformation. Ein Besuch im Kölner Dom erfüllt ihn mit Widerwillen: "Kein Ende nahm das Knien und Knixen und Räuchern und Klingeln. Bequem ist die katholische Religion wahrlich, aber wo bleibt die menschliche Würde bei diesen Spielereien?" Und er sehnt sich nach einem Befreier: "Wann wird endlich der für das schwer ringende Deutschland so notwendige Genius erstehen, der au die Stelle des verfallenden, in dem Bewußtsein der größeren Menge der gebildeten Männerwelt wenigstens verloren gegangenen Christentums einen Ideenkreis von gleicher Fülle und Innerlichkeit und gleicher Gestaltungskraft für alle Lebensverhältnisse zu setzen imstande ist?"

II.

Die tolle Wunderkraft des Jahres 1848 läßt Bennigsens Ideen rasch zum äußersten Radikalismus klären. Er bleibt Zuschauer der Ereignisse, aber ein tief hingerissener Zuschauer. Er ist Republikaner, Demokrat, ein wenig selbst Sozialist. Er findet die bittersten Worte über die Monarchen und Monarchien, die herrschenden Klassen und Parteien. Aber er verbindet mit dem Enthusiasmus für die Ideen ein helläugiges Mißtrauen für die Menschen, die sie verwirklichen wollen - bis zur verzweifelnden Menschenverachtung, die ihn zugleich scharfsichtig macht und ihn bald den

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Zusammenbruch der überschwenglichen Hoffnungen voraussehen läßt.

Der Anfang des Jahres 1848 findet Bennigsen als Auditor in Osnabrück, wo mit ihm Windthorst und Planck, der spätere Hauptschöpfer des deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs, wirken. Mit 23 Jahren erlebt er die Revolution. Er neigt zum linken Zentrum in Frankfurt a. M. und dilettiert in sozialistischen Gedanken französisch-utopistischer Herkunft. Und am Anfang des Jahres erwartet er naiv die unblutige deutsche Revolution, die Deutschland die Einheit und Freiheit bringen soll, von den Fürsten, die sich freiwillig durch die Parlamente auf die Stellung englischer Lords herabdrücken lassen. "Wäre eine Politik, die freiwillig den Übergang von der Monarchie zur Republik herbeiführt, indem sie sich mit der Rolle eines konstitutionellen Königs begnügt, eines deutschen Königs nicht würdig...!" (6. März) Er hofft auf Männer wie Lamartine und Louis Blanc, deren Partei "durch den Sozialismus den Kommunismus und mit ihm die Anarchie" bewältigen könnte. Eine "großherzige Politik" vermöchte das mittlere und westliche Europa vor Kriegen zu bewahren "die endlich zu einem furchtbaren Prinzipienkampfe zwischen Dynastien und Völkern nicht bloß - da wäre der Sieg schon entschieden -, sondern auch zwischen Besitz und Arbeit führen, wo der geistige Kampf erst begonnen hat - also zur Barbarei". So trübe werde es jedoch nicht werden. Deutschlands Werk wäre es vielmehr, "nachdem ihm durch Frankreichs letzte Revolution die politische Entwickelung gesichert ist", jene "Einheit von Altertum und Christentum" heraufzubeschwören, die neue Religion einer praktischen Liebe, die von dieser Welt wäre und die die Aufgabe durchführte, "das physische und geistige Elend der arbeitenden Klassen durch die Energie der Vernunft und der Liebe in dem neuen sozialen Staate zu bewältigen".

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In dem Wirbelsturm der rasenden Ereignisse verwehen schnell solche Illusionen und Phantasien. Ganz anders schreibt Bennigsen wenige Tage später, nach den deutschen Märztagen, am 22. März: "Schwarz-rot-goldene Fahnen wehen von vielen Häusern, die deutsche Kokarde trägt beinahe jeder. Alle paar Tage große Volksversammlungen, sogar auf offenem Markte ... Mit Freiheit und Gleichheit wird man in den Schlaf gesungen und wieder aufgeweckt." Er berichtet begeistert der Mutter von der einstimmig angenommenen Petition um ganz allgemeines Wahlrecht und um sofortige Beeidigung des Militärs auf die Verfassung. Er interessiert sich für das Landproletariat: "Die Lage der hiesigen Heuerleute (Zeitpächter) den Kolonen (Grundeigentümer) gegenüber soll sehr drückend sein, die französischen sozialistischen Zusicherungen sind in gedruckten Proklamationen von der äußersten Partei auch hier schon unter das Volk geworfen." Er zeichnet mit unverhohlener Genugtuung dieses revolutionäre Erlebnis, das seinem Standesgenossen Schele-Schelenburg passierte. Der hat einem seiner bäuerlichen "Untertanen" einen Hund totgeschossen. Die Bauern lassen einen großen schönen Sarg für den Hund zimmern, legen ihn hinein, tragen ihn in feierlicher Prozession vor das Erbbegräbnis des Herrn v. Schele. Eine Deputation erscheint vor dem Herrn und fordert ihn auf: "Er möge diesen Hund zu den anderen Hunden in die Gruft stellen lassen."

Der ganz unwiderstehliche Zug der Bewegung werde nun auch dem Blindesten klar: Deutschland einig und das Volk frei! Eine Demonstration vor dem Schloß dünkt Bennigsen recht angenehm: "Tausende hatten das Schloß belagert. Als der König nicht nachgeben wollte, ist ein Zettel mit den Konzessionen dem Herrn v. Münchhausen (dem Kabinettsrat des Königs) übergeben worden mit dem Bedeuten, "wenn nicht binnen

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fünf Minuten alle diese Punkte bewilligt seien, so würde man das Schloß und Palais an allen Ecken anzünden". Diese Drohung hat durchgeschlagen. Zwei Jahrzehnte später durfte Graf Münster, der spätere Pariser Botschafter, an jene Hannöversche Schloßszene von 1848 in folgender Weise zu erinnern wagen - in einem Brief an Bennigsen: "Ich sehe den Mann (Münchhausen) noch immer, wie er ... . sich auf der Leinestraße durch zwei Hoflakaien auf einen Stuhl heben ließ und dem versammelten Pöbel, den hundert Bummlern, zweihundert Straßenjungen und einigen Zuschauern ... die verlangten Konzessionen ... in langer Rede im Namen des Königs zugestand". Pöbel, Bummler und Straßenjungen waren nach der Bismärckischen Restauration aus dem Volk von 1848 geworden, dessen Kundgebung damals Bennigsen so gewaltig schien, daß er die Frage aufwirft: ob der König, "überzeugt von dem Recht dieses übereinstimmenden deutschen Willens, die gänzliche Rettungslosigkeit seines Systems eingesehen und aufgegeben habe, um seinem Enkel den Thron zu sichern? Armes Kind! Wenn du erwachsen bist, wird es keinen Thron mehr zu besteigen geben". Eine Prophezeiung, die freilich nur für die Welfen, nicht für die Throne in Erfüllung ging. 1848 aber dachte Bennigsen über das Schicksal der Hohenzollern nicht anders, wie über das der Hannoveraner:

"Über das schändliche Verfahren des Königs von Preußen ist auch bei allen Konservativen nur eine Stimme. Diese unselige Nacht hat aber den großen Erfolg, daß keine freie Nation ihr Schicksal ferner dem Zufall der Geburt anvertrauen wird und einem solchen frömmelnden, unfähigen Scheusal die Macht gibt, ein Volk in den Abgrund zu stürzen. Während einer solchen Nacht hat sich seine Eitelkeit und Frömmelei endlich in ihrer wahren Nacktheit gezeigt. Die gezwungene Demütigung war aber auch

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eine furchtbare Rache für einen Frömmler." (Brief vom 22. März.)

Über das Recht der Revolution wird in diesen Frühzeiten Bennigsens nicht diskutiert; mit keiner Silbe wird darüber vernünftelt, die ganze Rechtsfrage fehlt so völlig in seinem Bewußtsein, daß er gar nicht an sie denkt. Alle Lügen des feudal-absolutistischen Zeitalters sind auf einmal zerstoben, die bewährten germanischen Gefühle für Thron und Altar, für Ordnung und Sitte entkleidet und verloren. Selbst der alte Vater bereitet sich ernsthaft auf den neuen Zustand der Dinge vor, er, der Militärbevollmächtigte des Deutschen Bundes, macht Vorstudien für eine Verbindung des stehenden Heeres mit der Volksbewaffnung. Seine Vorschläge wurden auch gedruckt, sie zielen zugleich auf höhere Wehrhaftigkeit, Beseitigung des militärischen Kastengeistes und eine innigere Verbindung zwischen Volk und Heer ab (Linie mit stark verkürzter Dienstzeit, Bürgerwehr, militärischer Unterricht in den Schulen, Abschaffung der Garde und der Kadettenhäuser). Der Sohn grübelt derweilen über die Demokratisierung der Rechtsinstitute. Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Strafprozesses ist nur ein Anfang. "Das Recht, wie es doch seine Natur verlangt, wieder vollständig in Volksbewußtsein und Sitte wurzeln, daher sein lebendiges Bestehen und seine gute Fortbildung nehmen zu lassen, das ist freilich das Ziel, in welchem alle einig sind." Die beginnende Wiederbelebung des Adels ist ihm ein Abscheu. Er ist mit den Demokraten, "die durch Eifer und Talent ihre Zahl verdoppeln", erbittert über den "krassen Egoismus der hiesigen Patrizierfamilien", und er legt das Bekenntnis ab: "Ich glaube jetzt an den Sieg der Freiheit in der Demokratie so fest wie an mein eigenes Dasein und nicht minder daran, daß wir nicht wie Frankreich 58 Jahre mit fünf Revolutionen mit Strömen von Blut

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zu demselben werden nötig haben." (16. Mai 1848.) Einen Monat später ist er mit der Politik der äußersten Linken in Frankfurt höchst unzufrieden, deren Ziele er sich doch zu eigen macht:

"Schade ist es immer, daß sich so kräftige Persönlichkeiten wie Hecker und Ruge bislang so traurige Rollen auferlegt haben, um so mehr, als man doch jede Stunde mehr sich überzeugt, daß das Prinzip der linken Partei Deutschlands, die reine Demokratie, und damit die frühere oder spätere Errichtung der Republik siegen muß. Was ist aus der Kaiseridee geworden? Was überhaupt aus den Doktrinen von Gervinus und Dahlmann ? Ohne Diskussion sind diese Gedanken eines konstitutionellen monarchischen Oberhauptes zu Boden gefallen, und doch ist es an sich klar und von der doktrinellen Partei evident bewiesen, daß ein republikanisches Haupt und monarchische Fürsten sich gegenseitig nicht dulden können. Wer aber da siegen wird, scheint mir trotz aller äußerer Eventualitäten bei der in geometrischer Progression täglich wachsenden Energie des demokratischen Geistes keinen Augenblick zweifelhaft. Umsonst hat die Nemesis der Geschichte nicht auf fast alle Throne Europas und speziell Deutschlands Fürsten gesetzt, entweder an Geist oder an Willen oder auch an beiden unfähig für die Bewältigung, und wäre es auch nur eine momentane, der heutigen Bewegung." (23. Juni 1848.)

Er eilt im Sommer 1848 nach Frankfurt, hört in fiebernder Erregung die Verhandlungen in der Paulskirche und denkt daran, in das Reichsministerium des Äußeren zu treten, wie der junge Chlodwig von Hohenlohe, ohne sich doch ganz die Laufbahn in Hannover verderben zu wollen. Der Septemberaufstand zerstört den Plan Bennigsens; er kehrt im Herbst in die Osnabrücker Gerichtsstube zurück. In Hannover vollzieht sich eine radikale Beseitigung der Junkerherrschaft. Die erste Kammer, bisher die unumschränkte Domäne

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der Ritter, wird eine "zweite zweite" Kammer, in der die Bauern die Mehrheit haben. Trotzdem ist sein Radikalismus nicht befriedigt. In verzweifelnder Resignation und doch zukunftsgläubig sieht er die neue Erde wieder im Nebel verschwinden. Sein enger Beruf ekelt ihn; wird er doch täglich, stündlich daran erinnert, "daß eine Welt in Trümmer geht, in der man doch lebte, wenn man sie auch haßte". Der Sieg kommt nicht so rasch. "Sind wir doch nur die vordersten Linien eines stürmenden Heeres, und erst wenn wir mit unseren Leibern den Graben ausgefüllt haben, wird es der nachdringenden Generation gelingen, über uns hinweg die Bresche zu nehmen. Den Staat der Liebe sollen wir gründen helfen, und unsere Waffen sind der Haß, unser Ziel die Vernichtung. Und alle träumten doch so schön, die Alten von ihrer demokratischen Monarchie, die alles versöhnen, und die Jungen Von der sozialen Republik, die den Himmel auf Erden verwirklichen sollte. Aber das Register hatte ein Loch." Den deutschen Fürsten und Aristokraten sei es ebensowenig ernst mit einer konstitutionellen Monarchie, wie Ludwig XVI., und trotz Louis Blanc und G. Sand sei der gemeine Mann ebenso roh wie die mittleren und höheren Klassen. Seine Bekannten wollten von seinen radikalen Grundsatzen nichts wissen, und mit den Osnabrücker Radikalen möchte er wieder nichts zu tun haben, da sie an Engherzigkeit und Roheit ihresgleichen suchen, klagt er der Mutter am 4. November 1848.

In düsterster Volksfeindstimmung beendigt er das Jahr der zertrümmerten Verheißungen:

"In unseren deutschen Angelegenheiten sehe ich auch täglich schwärzer. Der Enthusiasmus ist überall verflogen, und der Bodensatz, der geblieben, stinkt. Trunkene Reformatoren und jugendliche Helden haben wir gehabt, und den Intriganten und Jesuiten sind wir wieder in die Hände geraten. Nüchtern ist

23 Eisner, Gesammelte Schriften. I.

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man geworden; aber der Katzenjammer ist noch keine Klarheit. Und dazu als breiteste demokratische Basis unser deutsches Gelehrten- und Philistertum! Man könnte rasend werden... Wenn uns nicht bald große Ereignisse packen und zusammenschütteln, daß wir etwas munter und frisch werden, so liefern wir mit allen Märzerrungenschaften nichts als den allerelendesten Abklatsch des 16. und 17. Jahrhunderts. So ein Stück dreißigjährigen Krieges, im Lichte der neuesten Zeit. Wie würden unsere Nachbarn Chorus machen: Hot Österreich, hü Preußen, faß ihn, Protestant, pack ihn, Katholik! Für diese dicken, dummen deutschen Schädel ist nichts unmöglich."

Im März 1849, nach der Frankfurter Kaiserwahl, zuckt die Hoffnung wieder empor, um bald wieder für immer zu verlöschen. Schon taucht das national-liberale Dogma auf "von dem Grundübel der Deutschen, dem eigensinnigen Beharren auf der sofortigen und vollständigen Verwirklichung ihrer Prinzipien".

Noch aber ist er gegen die Gemäßigten. Unerbittlich werde die Geschichte die ins Deutsche übertragenen Girondiers richten, die sich so jämmerlich in der Nat ur der deutschen Fürsten getäuscht, die in feiger Verzweiflung den Platz verlassen, auf den das deutsche Volk sie gestellt. "Ich hasse diese Männer, und doch sehe ich klar, daß nur mit ihrer Hilfe Deutschland zu retten ist." Und zum erstenmal schaut er klarer in den sozialen Urgrund der Dinge: "Was bedeuten heutzutage das absolute Veto, die Monarchie selbst, wo in der nächsten Zukunft ein zufälliges Ereignis, ein paar Mißernten oder irgendein an sich gänzlich äußerlicher Umstand einen sozialen Kampf hervorrufen kann, in dem, so roh und aller organisierenden Kraft bar, wie die sozialen Lehren bis jetzt noch sind, alle Kultur und Menschlichkeit zugrunde gehen müßte." (22. Mai 1849.) "Auf die niederträchtigen preußischen Mittelklassen mit ihrer besonnenen Bettel-

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weisheit" kann er im Juni 1849 nicht mehr rechnen, und wie in einer Ahnung seines eigenen späteren Schicksals spottet er über die "politischen Handlanger, die ewig nur von einem Tage zum anderen leben", über die "Politik des fait accompli". Ja, er weiß auch die letzte Ursache des Scheiterns der Revolution:

"Da kam die Furcht vor der roten Anarchie, und die ewige Halbheit und süßliche Gutmütigkeit, alles läuft davon; die großen liberalen Blätter liebäugeln mit der Frankfurter Verfassung links und den Berliner Projekten rechts."

Sein Abschied von der Revolution ist bitter. Er sagt allen Hoffnungen auf Freiheit und politische Macht in Deutschland Lebewohl. "Denn was die Regierungen von geschenkter Freiheit halten, wenn an die Stelle der Furcht bei ihnen die Verachtung getreten ist, haben wir doch zur Genüge gesehen." (9. Juni 1849.)

III.

Auf den unerhörten Aufschwung des Revolutionsjahrs - mehr ein Aufschwung des Gefühls als der Tat - folgt die trostlose Zeit der reaktionären Starre, in der alles Hoffen versiegt und alles Handeln polizeilich verboten ist. Der unpolitische Deutsche pflegt sich in politischen Perioden, ohne sonderliche Ungeduld und Qual, in Philosophie, Kunst und Familienkultus zu flüchten. So folgen auch bei Bennigsen auf revolutionäre Ergüsse gänzlich unpolitische Liebesbriefe an die Verlobte, die bald sein Eheweib ward; Briefe von einer eigentümlichen kühlen Zartheit, ohne leidenschaftliche Ausbrüche, mehr Umschreibungen des bürgerlichen Rechts als Offenbarungen innerster Empfindungsglut. Es sind - fast möchte man vorausnehmend sagen - nationalliberale Liebesbriefe. Sie kennzeichnen in der Tat auch den Politiker und seine Partei: Die große revolutionäre Phantasie, die Grund-

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bedingung des starken, geschichtlich wirkenden Geistes, das Ungestüm, das brennende Hirn in der Verwirklichung seiner verzehrenden Gebilde zu löschen, ist ihm fremd. Der Mann, der einmal Raimunds Märchen- und Zauberspiele "scheußlichen Unsinn'" nennt - nach zwei Akten vom "Bauer als Millionär" wurde ihm übel und er ergriff die Flucht -, hatte nichts von einem Romantiker. Aber vielleicht gerade deshalb war er auch niemals das, was er sein wollte, ein Realpolitiker. Indem er immer auf Gelegenheiten lauerte, ergriff er keine. Sein jugendlicher, demokratisch und selbst sozialistisch gefärbter Radikalismus wandelte sich schnell in einen staatsmännischen Liberalismus, der idealer Zielgedanken nicht entbehrte.

Bennigsen wird der Gründer der ersten großen Parteibildung in Deutschland, des Nationalvereins, er ist sein Präsident von Anfang bis zum Ende, und er steht an seinem raschen, ruhmlosen Grabe, wie an seiner hoffenden Wiege. Der deutsche Liberalismus vor den Bismarckschen Kriegen hat noch politisches Feuer, aber es genügt gerade nur, um die öffentliche Meinung ein wenig anzuwärmen und im übrigen seinem Todfeind, Bismarck, damit das Brennmaterial zu liefern, mit dem er Deutschland anzündete, um Preußen auszubauen; mit dem er das liberale Bürgertum ausräucherte, um die dynastische Junkerherrschaft des Ostens zu verewigen.

Von allem geschah das Gegenteil des Erstrebten:
Das war das Schicksal des deutschen Liberalismus und Bennigsens. Einmal - 1866, am Vorabend des deutschen Krieges - trat an ihn das Angebot regierender Macht heran, aber in der Form einer schamlos entehrenden Bismarckschen Aufforderung zum Hoch- und Landesverrat; für solche Dienste war Bennigsen nun wieder zu wohlanständig. Und als schließlich der Traum seines Lebens sich erfüllte, die deutsche Einheit, da war es doch gerade nur das verhaßte und be-

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kämpfte Großpreußen ohne Freiheit, und Bennigsen selbst und seine Nationalvereinler waren, wie er in einem Brief vom 26. Juli 1866 schrieb, in dem entscheidenden Augenblick nicht die Sieger, sondern unter den Zuschauern.

In den wirren, ohnmächtigen und zielzittrigen Strebungen des Nationalvereins erkennt Bennigsen wohl bisweilen die Ursache aller Mißerfolge, und er sehnt sich nach der Hilfe der großen starken Volksmasse der Besitzlosen, aber er beruhigt sich doch immer gleich wieder bei jener redefrohen und kongreßlustigen Politik, die nicht einmal bürgerliche Klassenpolitik ist, sondern nur betriebsame Honoratiorenpolitik. Er schilt über dieses feige, unlustige, zu keinem Opfer fähige deutsche Bürgertum, aber er geht über seine Grenzen nicht hinaus. Er sieht wohl das schnelle Ende aller rein demonstrativen Politik, die bald die Grenze der Steigerungsmöglichkeit und damit des Erfolges erreicht, aber er stürmt doch nur - von Demonstrationen zu Demonstrationen. So ist der Liberalismus von Anbeginn der Lärm eines Dinges, das im Grunde nicht existiert. Nur eins mag ihm in seinen Anfängen zum Ruhm dienen: seine Anhänger wurden verfolgt und sie hielten den Verfolgungen stand...

Die preußische Reaktion, die nach Hannover übergreift, begleitet Bennigsen zunächst mit brieflichen Flüchen. Er versteht die Schandtaten der preußischen Machthaber; "der Ärger, vor einem so feigen Gesindel - den "konstitutionellen Helden" -, das freilich die Peitsche täglich verdient und freudig empfängt, jemals gezittert zu haben, mag groß genug sein", schreibt er Anfang 1850 an die Mutter. Eher werde der Prinz von Preußen eine Palastrevolution machen, "als die preußische konstitutionelle Partei mit ihrer langweiligen Philisterhaftigkeit und überklugen Feigheit das Verständnis erhält, daß man nach einem

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jahrelangen Nachgeben wenigstens in der einen Stunde eine so wohlfeile Festigkeit zeigen muß, wo es ... alles zu gewinnen und gar nichts zu verlieren gibt". Aber man brauche ihnen nur mit dem Arnim und Gerlach zu drohen: "Wartet nur! Seid artig, oder der Butzemann kommt! Und sie waren artig." - Die ewige liberale Furcht vor der noch schlimmeren Reaktion! Bald sollte Bennigsen selbst mit dem "Gesindel" Politik treiben müssen.

Noch sieht er bisweilen den Sieg der freilich schon geläuterten Revolution voraus. Der fürstliche Wahnwitz wird in wenigen Jahren auch die ruhigsten Männer zur Verzweiflung und Leidenschaft und an die Seite der Partei treiben, welche vor Jahren allerdings zum großen Teil aus unreifer Jugend, blinder Wut und entfesselter Roheit zusammengesetzt war, die aber dann auch gewiß durch äußere und innere Erfahrungen gekräftigt und geläutert den Kampf beginnen und den Sieg festhalten wird. (1. Juli 1850.)

Drohender klingt es am Ende des Jahres aus Bennigsens Briefen: "Die Ruhe unserer europäischen Königsgeschlechter über so viel Gräbern soll nicht durch böse Erinnerungen und Träume allein gestört werden. In höchstens einem Dutzend Jahren wird es ja wohl wieder gewittern und dreinschlagen, und von uns Jüngeren schwören täglich mehrere im stillen, daß man, einerlei ob Konstitutioneller oder Radikaler, durch elende Versprechungen im Augenblicke der Furcht sich nicht wieder täuschen lassen wird. Man wird die ganze Gesellschaft nach Amerika schicken und nachher sich zu einigen suchen, ob man sich einen König oder Präsidenten setzen will."

Doch diese königsmörderischen Stimmungen verebben mit den Jahren, und ein halb Jahrhundert später, beim Jubiläum der Revolution, war es Bennigsen, der gegen Bebels Verherrlichung der Märztage im deutschen Reichstage auftrat!

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Die äußeren Schicksale Bennigsens zeigen den Mann von Charakter. Er wird Richter und Staatsanwalt (1850-1856); einsam und unbefriedigt in kleinstädtischer Enge. Die Reaktion lastet auf seinem Gemüt. Scharf erkennt er im konterrevolutionären Preußentum den klerikalen Grundzug. Alle Reaktion in der modernen Zeit ist irgendwie klerikal. "Tut Buße, kreuzigt eure Vernunft und fallet vor uns nieder, predigen die Jesuiten schon am Rhein, in Münster, in Osnabrück. Das protestantisch pietistische Gesindel, welches freilich der Kreuzigung der Vernunft überhoben bleibt, drängt sich zu ihren Predigten ... Und der preußische Minister lächelt blödsinnig über die Niederlagen der Revolution und bereichert die Literatur mit albernen Gleichnissen und Noten, während die "Kreuzzeitung" lehrt, daß die Zeit erfüllt ist und die Rückkehr in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche kommt. Die Träume der Romantiker und die Phantasien von Radowitz erhalten Form und Wirklichkeit. In dem einen Jesuitenorden ist wieder mehr Wille und Kraft als in sämtlichen protestantischen Regierungen ... Was seine Macht nicht tut, bewirkt der entsetzliche Taumel und jene angstvolle Verblendung, die in einer Zeit, wo die Reiche zerfallen, die Kirchen sich auflösen, wo den Gesetzen die Furcht und dem Glauben die Hoffnung genommen ist, alle Menschen überwältigte, welche den festen Halt nicht in sich, sondern nur in äußeren Schranken und Mächten tragen." So schreibt er 1851 an die Mutter. Aber solche briefliche Geständnisse eines aufrechten Liberalismus hindern ihn doch wieder nicht, recht peinliche Adelsvorrechte für seine hannöversche Laufbahn eifrig nutzbar zu machen. Staatsanwalt in Hannover, geht er aus Gründen politischer Unabhängigkeit in das Richtertum über - nach Göttingen. Er neigt zur Menschenfeindschaft, verliert die Lust an Leben und Wissenschaft. Er tritt

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nicht öffentlich hervor. Die hannöversche Reaktion begleitet er zunächst nur als zorniger Beobachter. Dann aber wird er in die Verfassungskämpfe seines Heimatstaates hineingestoßen, unfreiwillig, und nun wächst er rasch zum tapferen Vorkämpfer des Liberalismus empor, wird der anerkannte Führer im Parlament und in der Parteibewegung, gehört zu den volkstümlichsten Gestalten der bürgerlichen Opposition in Deutschland und gewinnt europäischen Ruf. Als die Regierung ihm nicht erlaubt, sein Mandat in der Ständeversammlung auszuüben - das soeben oktroyierte Wahlgesetz forderte für die Beamten solche Erlaubnis -, zieht er entschlossen die letzte Konsequenz, scheidet aus dem Staatsdienst aus (1856) und widmet sich der Bewirtschaftung seines Familiengutes. Seitdem ist er ein unabhängiger Landwirt.

Die hannöversche Reaktion ist ein Werk des deutschen Bundes, der dort die vorher beseitigte Adelsherrschaft gewaltsam wiederherstellte, gerufen von einem geistig verwirrten Gottesgnädling auf dem Throne! Es ist der Fluch der deutschen Einheit, daß ihre Form immer ohnmächtig zu allem Guten und Freien war, dagegen stets brutal in der Exekution der Unterdrückung und des Rückschritts. Der preußische Bundesrat des Deutschen Reichs hat in dieser Hinsicht das Erbe des seligen Bundes angetreten: Die nationale Konzentration als Werkzeug reaktionärer Absonderung!

In den parlamentarischen Kämpfen verteidigt Bennigsen mit besonderer Energie die völlige Unabhängigkeit der Beamten. "Man will diesen unteren Organen" - ruft er dem Minister v. Borries entgegen - "alle eigene Meinung, Freiheit und Selbständigkeit nehmen und sie unbedingt der Willkür der konzentrierten Organe, speziell des Ministerii, preisgeben." Er weist auf das Beispiel Frankreichs hin: "Was nutzten die Maschinen, zu denen man die Staatsdiener herab

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gewürdigt hatte, als es ernstlich darauf ankam, die Monarchie zu stützen ?", Die Charakterfestigkeit, die freudige Erfüllung der schwierigen Pflichten müsse für den Beamtenstand verloren gehen, wenn man von ihm verlange, sich den Ansichten, den wechselnden Ansichten der Regierung stets unterzuordnen, wenn man ihm den Stolz nehme, selbständig zu handeln, wenn man ihn darauf hinweise, politische Belohnungen zu suchen, politische Strafe zu fürchten. Er fordert die Vereidigung der Beamten auf die Verfassung, die nicht Bediente des Königs sein dürfen.

Bennigsens hannöversche Opposition ist durchaus radikal. Er verweigert dem Staat 1857/58 die Ausgaben für Kasernenbauten, weil es sich bei derartigen Bewilligungen um die Gesamtheit des politischen Systems handelt, dem das Volk Opfer zu bringen hat. Er greift die Politik der Pfaffen, der "kleinen Nachfolger eines großen Apostels" an, die sich als diejenigen darstellen, "welche allein den Zorn und das Gericht Gottes zu verwalten haben". Er verteidigt das Recht auf Revolution: Die Inhaber der Gewalt verzichten nie freiwillig auf sie. Man muß sie ihnen entreißen. Wenn man derartige zwingende Verhältnisse als ein Unrecht auffasse, so hebe man damit die Möglichkeit aller geschichtlichen Entwicklung der rechtlichen und politischen Verhältnisse auf, man gebe sich dem Dogma unpraktischer Stubengelehrter hin, demzufolge lediglich die Gewalt der Stärkeren über den Schwächeren bestimmend sei. Bennigsen tritt für die Bürgerwehr ein. Wenn die Regierung so wenig Vertrauen im Volke genieße, daß man sich scheuen müsse, Waffen in den Händen der Bürger zu sehen, dann werde doch alles gar nichts helfen.

IV.

Die große europäische Krisis des Jahres 1859, in der die Marx, Engels, Lassalle den Weg des Sozialis-

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mus und der Demokratie kündeten, gedeiht für Bennigsen zur Schöpfung der Partei des Liberalismus. Der Nationalverein wird begründet.

Die große Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Österreich im Jahre 1859 brachte alle deutschen Fragen in Fluß. Die aufsteigende Bourgeoisie bedurfte für wirtschaftliche Zwecke der politischen Einheit. Darüber herrschte Übereinstimmung. Nur über Form und Mittel gingen die Meinungen immer weiter auseinander. Sollte Österreich ein oder ausgeschlossen werden? Sollte es die Führung übernehmen? War Süddeutschland einzubeziehen ? Oder mußte man sich vorerst mit der Einigung Norddeutschlands begnügen? Einheitsstaat oder föderative Verfassung? Monarchie oder Republik? Preußische Spitze oder rheinbundähnliche Organisationen mit süddeutschem Übergewicht? Einheit oder Freiheit oder beides zugleich oder in welcher Rangordnung, erst die Freiheit, dann die Einheit oder umgekehrt? Zwei Strömungen sonderten sich: Die großdeutschen Einheitsbestrebungen, demokratisch süddeutsch, alle deutschen Stämme um fassend. Die großpreußische Bewegung, nord- und mitteldeutsch, liberalisierend bundesstaatliche Verfassung mit gemeindeutschem Parlament und preußisch-monarchischem Oberhaupt. Die großpreußische Bewegung fand in der 1859 erfolgten Gründung des Nationalvereins ihre Parteiorganisation. Aber unter den Leuten des Nationalvereins war man wiederum in keiner Frage einig. Nur das Ziel irgendeiner Einheit stand fest. Mit den Vokabeln Einheit und Freiheit wurde jongliert, und die Freiheit ließ man gern auf den Boden rollen - Jongleur und Parodist komischen Ungeschicks zugleich. Auch über die preußische Vormachtstellung war man sich ziemlich einig, nur wollte man mit dieser Ehre nicht das wirkliche, das reaktionäre, verjunkerte und verpfaffte Preußen betrauen, sondern ein ideales Preußen, das man aus Illusionen auferbaute.

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Der Nationalverein begann seine die Gründung vorbereitende Tätigkeit mit jener Erklärung, die Preußen mit allen schönen Aufgaben vertrauensvoll belehnte:

"Möge Preußen nicht länger zögern, möge es offen an den patriotischen Sinn der Regierungen und den nationalen Geist des Volkes sich wenden und schon in nächster Zeit Schritte tun, welche die Einberufung eines deutschen Parlaments und die mehr einheitliche Organisation der militärischen und politischen Kräfte Deutschlands herbeiführen, ehe neue Kämpfe in Europa ausbrechen und ein unvorbereitetes und zersplittertes Deutschland mit schweren Gefahren bedrohen."

Eine Erklärung, die auf Preußen den Eindruck machte, daß der Versuch unternommen werden könnte, ein paar einflußreiche nichtpreußische Politiker für Preußen zu kaufen; Preußen treibt ja seit jeher den Ankauf nichtpreußischer Geheimagenten im großen Stil. Mit Bennigsen wurde durch den Staatsrechtslehrer Karl Aegidi verhandelt, der bis in unsere Tage als zählebiges, preußisches Reptil wirkte. So viel wurde erwirkt, daß man mit den preußischen Liberalen Fühlung bekam. Zudem wendete das herrschende Preußen den anderen, immer wiederholten Trick an, liberal zu schillern. Auf die wilhelminische "neue Ära" und den "völligen Umschwung" nach den Tollhauszeiten Friedrich Wilhelms IV. fielen alle liberalen Gründlinge gründlich herein. In der hannoverschen Ständeversammlung feierte damals Bennigsen das neue Preußen, das die Ideale von 1848 praktisch durchführe. Schon seien Konstitutionelle und Demokraten einig. Aber auf diese radikalen Preußenträume antwortete der Minister v. Borries (nicht mit Unrecht), das seien alles Utopien, und dazu strafwürdige Utopien, weil man an die Massen bis zu den "unteren Handwerkerklassen" hinab appelliere.

Der Koburger Herzog Ernst, der dem Nationalverein als gefürsteter "Volkstribun" betriebsam,

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eitel und ungeschickt voranmarschierte, wollte ursprünglich einen straff zentralisierten Geheimbund organisieren. Aber die Männer des Nationalvereins wollten in der Mehrzahl loyale Untertanen bleiben. So wurde er als öffentlicher Verein gegründet. Mit Bismarck, dem Erzjunker, versuchte man vergebens anzuknüpfen. Bald sollte der Sturz Bismarcks, als Vorbedingung jeden Einheitskampfes' die lauteste und wirksamste Losung der Nationalvereinler werden. Und Bismarck hatte man in Verdacht, daß er bereit sei, die nationale Todsünde zu begehen und das linke Rheinufer an Frankreich auszuliefern, um sich in Norddeutschland zu arrondieren. Der bekannte Professor Biedermann beruft sich in einem Brief an Bennigsen vom Februar 1860 auf derlei Pariser Informationen. Es sei darüber schon mit "gewissen diplomatischen Persönlichkeiten (nicht unmittelbar im Ministerium, aber demselben nahestehend) korrespondiert worden". Damit war Bismarck gemeint. Bismarck selbst hat das als eine vom Koburger Herzog ausgehende Verleumdung bezeichnet. Bennigsen jedoch war von der Richtigkeit eher Meldung überzeugt, sie hätte übrigens auch nur der hundertjährigen Tradition preußischer Politik entsprochen.

Die großdeutschen Demokraten bekämpfen die Gothaer: "Uhland ist mehr für Österreich und hat den Beitritt abgelehnt ... Auch jetzt spukt die rote Demokratie wieder allenthalben. Vogt in Genf ... empfiehlt jetzt einen Bund der Republiken und arbeitet gegen den Nationalverein, bei dem es ihm zu gesetzlich zugeht. Er, der mit fremdem Gelde nur aufwühlt, um keine Saat aufkommen zu lassen, findet aber Glauben bei vielen ..." So klagt es aus einem Briefe an Bennigsen. Aber ebensowenig Vertrauen haben die Regierungen zum Nationalverein. Warnend kündigt Gustav Freytag, zugleich Vertrauter des Koburgers, preußischer Agent und Nationalvereinler,

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die Exekution des Vereins durch den Bund an. Tatsächlich hat es ihm nie an Verfolgungen gefehlt, vor allem nicht von Preußens Seite, obwohl die leitenden Männer des Nationalvereins immer aufs neue zur "strengsten Legalität" auffordern und die "radikalen Elemente" zurückscheuchen.

Die Illusionen von preußischer Freiheit zerstieben bald, doch bleibt die "preußische Spitze" als Dogma des Nationalvereins. Man entwirft Programme und Resolutionen: Deutsche Einheit unter der Führung eines befreiten Preußens. Auf ein Ideal mehr oder weniger kam es so genau nicht an. Schon 1860 schreibt Bennigsen von dem "beschränkten spezifischen Preußentum", von seiner "unfähigen, erbärmlichen Diplomatie". In Berlin findet er das "alte Lied oder Leid, Überweisheit oder Beschränktheit des politischen Gesichtskreises bei den älteren, Mangel an Selbstvertrauen, an Beruf, selbständig aufzutreten seinen Ruf, seinen Einfluß einmal zu riskieren, bei den jüngeren Politikern, das Interesse für die preußischen Krisen ganz vorherrschend, das Verständnis und Pathos für Weltfragen kaum vorhanden oder zu gering, um zur Tat zu treiben". Die angestammte Regierung Bennigsens aber verhängte die Acht über alle Männer des Nationalvereins und spielte geraume Zeit hindurch mit dem Gedanken, Bennigsen wegen Hoch- und Landesverrats zu verfolgen. Das gelang nicht. Dafür ließ man den strebsamen, ehemaligen preußischen Regierungsassessor Oskar Meding (den späteren Verfasser vielgelesener "zeithistorischer" Kolportageromane) eine Schmähschrift gegen Bennigsen verfassen, die ihm den ewigen deutschen Vorwurf wider jede radikale Politik entgegenhielt: er habe sich "in dem Dienste der Negation" einen wohlfeilen Ruhm zu erwerben gesucht. Bennigsen wurde darin als blutiger Umstürzler behandelt: "Wenn Sie ... mit daran arbeiten, dem Bauernstande seine innere und äußere

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Grundlage zu zerstören und an die Stelle dieses gesunden Kerns der staatlichen Gliederung ein faules und nichtsnutziges Proletariat zu setzen, so werden Sie freilich - im Falle des Gelingens - ein vortreffliches Material der Revolution geschaffen haben ... Sie haben die misera contribuens plebs (die besitzlose, steuerzahlende Masse) gegen Adel und Beamtentum ins Feld geführt." Meding, der eben erst Hannoveraner geworden war, wütete ebenso als streng hannöverscher Legitimist wie die vielen Nicht-Preußen, die preußisch wurden, dann sich schwarz-weiß überschrien; man denke an den Sachsen Treitschke.

Wie bürgerlich gemäßigt immer der Nationalverein begann - er radikalisierte sich erst in der Konfliktszeit -, so erweckte er doch die Angst der deutschen Fürsten. Das Jahr 1848 war noch nicht vergessen, und das Verlangen nach Wiederherstellung der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 dünstete für die höchsten Herrschaften den Ludergeruch der Revolution aus. Als der ehemalige preußische Minister Heinrich von Arnim 1860 eine Zusammenkunft aller Abgeordneten deutscher Landtage in Heidelberg anregte, schrieb der Prinzregent von Preußen, Wilhelm, in einem Brief an den Koburger Herzog, er würde solchem Plane einer Art von Vorparlament bestimmt entgegengeschritten sein, "weil dies die Repetition des schmählichen Anfanges von 1848 gewesen wäre und wir keine Repetition der Volksbeglückung von unten herauf brauchen können". Das schrieb der Heros liberaler Hoffnungen. Dabei trat das Verlangen nach der Reichsverfassung von 1849 erst später in den Vordergrund, als sich der Nationalverein dem Kampf gegen Bismarck anschloß. 1860 ersuchte Bennigsen seine Freunde noch dringend, "in dieser Sache sich nicht zu weit avancieren". Das Zustandekommen der Reichsverfassung ist mit so erbärmlichen Intrigen verknüpft. Von der preußischen Regierung zurück-

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gewiesen, von der Partei, welche sie schuf, im Stich gelassen, von der demokratischen als Vehikel benützt zur Erreichung anderweitiger Parteizwecke, durch Kot und Blut geschleift, hat sie der trüben Erinnerungen und gefährlichen Bedenken zu viel, um große Chancen zu bieten, unter ihrer Form eine Einigung zustande zu bringen."

Von den deutschen Fürsten hofften die Nationalvereinler nichts. Sie sind österreichisch und preußenfeindlich gesinnt. Bei der Zusammenkunft der deutschen Fürsten mit Napoleon III. in Baden-Baden (Sommer 1860) machen die deutschen Potentaten vor dem kleinen Napoleon, als ob er der große gewesen wäre, den "untertänigen Katzenbuckel, wie denn zum Beispiel der König von Sachsen im Wagen aufstand, um zu grüßen", schreibt Rochau an Bennigsen. Dafür bemühten sich die deutschen Fürst en um Einschränkung des Nationalvereins und seiner "boulevarsierenden Zwecke".

Doch worauf stützte sich denn nun der Nationalverein? Verfolgt man seine Tätigkeit an der ausführlichen Darstellung des Oncken-Werkes in all seinen Kreuz- und Querzügen, so büßt diese erste bürgerliche Parteibewegung Ruhm und Glanz völlig ein. Es sind die eifrigen Leute mit Namen, die der Reporter bei großen Leichen zu bemerken pflegt, die ihre Unterschriften unter gemeinnützige Aufrufe zu setzen pflegen: Höhere Beamte, Professoren, Publizisten, einzelstaatliche Parlamentarier, Industrielle bearbeiten unter duodezfürstlicher Protektion die öffentliche Meinung. Sie veranstalten Kongresse, Demonstrationen, Versammlungen; halten Reden und inspirieren Zeitungsartikel (für 3500 Gulden jährlich bearbeitete man auch die ausländische Presse!). Weder haben sie die Einheit der Überzeugung und des Ziels, noch irgendeine Klarheit über die Mittel. Das Ganze ist redselige Ohnmacht. Bennigsen selbst fühlt tief die

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politische Unfruchtbarkeit. Was seien Verfassungen, die man durch Verordnungen umwerfen könne! Der neue Versuch, den Kampfplatz auf das nationale Gebiet zu verlegen, sei recht schwächlich geblieben, "und der Rest des politischen Kampfes ist - selbst Preußen nicht ausgenommen - so durchaus unwahr und verlogen und so bar allen Ernstes, welcher Entscheidungen nicht scheut und herbeizuführen imstande ist ...", schreibt Bennigsen Weihnachten 1860, zugleich eine Kritik über die Tätigkeit seines Nationalvereins, für den er doch unermüdlich arbeitet. Schon zeigt sich auch bereits die liberale Klage über den schlechten Ton der Leute, der ein Zusammengehen hindere. Diese Klassengegensätze innerhalb der liberalen Schichten verkleiden sich von Anbeginn gern als Anstandsregeln. "Wir können mit Leuten nicht umgehen," schreibt ein Frankfurter Gesinnungsgenosse an Bennigsen, "die uns fortwährend feig, Kretin, Eunuch usw. benennen ... wir halten uns für zu gut, um mit derartigen Leuten innig zusammenzugehen." Und dabei waren die Nationalvereinler zum Teil Barrikadenkämpfer von 1848!

Schließlich erwartete man alles Heil von irgendeinem Umschwung draußen, in der Ferne, der ohne ihr Zutun wie ein Göttergeschenk kommen sollte. Irgendein äußeres Ungefähr mußte helfen. Deshalb hatte man kriegerische Stimmungen, man wollte einen nationalen Krieg. Waren einmal die Waffen losgebunden, so würde es sich auch im Innern wandeln; im Kriegstaumel brauchte man sich dann auch nicht vor Schutzmann und Staatsanwalt zu fürchten. Es kam ja dann auch die Umwälzung von einem Kriege, aber gerade einem, den sie nicht wollten, von dem Bruderkrieg 1866, in dem nicht der deutsche Liberalismus, sondern die preußische Reaktion triumphierte.

Der Nationalverein, als Organisation von Besitz und Bildung, widerstrebte der Masse; das wurde sein Ver-

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hängnis, wie das des deutschen Liberalismus. Und diese Massenscheu behauptete sich selbst in den Zeiten radikalster Opposition!

V.

Die liberale Furcht vor der Masse nahm dem Nationalverein die Macht. Wir finden in dieser Partei neben Radikalen wie Johann Jacoby und denn (später sozialdemokratischen) Schweriner Hofbaurat Demmler Großindustrielle wie Werner Siemens, Hermann Gruson, Georg Egestorff, den Begründer des Norddeutschen Lloyd H. H. Meier, Graf Henckel von Donnersmarck, Schriftsteller, Advokaten, Gutsbesitzer, Studenten und als breite Staffage den bürgerlichen Mittelstand. Aber die Masse fehlte und sollte fehlen, obwohl man sie doch wieder zu gewinnen begehrte als anspruchslose Gefolgschaft für gutbürgerliche Zwecke. Der hannoversche Industrielle Egestorff, der aus geschäftlichen Gründen für den anrüchigen Verein mit seinem Namen nicht hervorzutreten wagte, gab insgeheim Unterstützungsgelder zur Gründung eines Blattes für Bauern, Handwerker und Arbeiter; "denn in den Massen liegt die Macht". Der Nationalverein hat 1862 die höchste Zahl der Mitglieder erreicht, nicht viel mehr als 25000; mit der Unterdrückungs- und Abtreibungspolitik Bismarcks schmolz die Zahl rasch und unaufhaltsam zusammen - nach den kriegerischen Erfolgen Bismarcks war es mit Verein und Liberalismus gleichermaßen aus. Immerhin war es bis dahin in Deutschland unerhört, daß ein Agitationsverein über so große Geldmittel verfügte, die freilich an heutigen Verhältnissen gemessen, lächerlich gering waren: er nahm 1861 bis 1867 300000 Gulden ein. Die Presseunternehmungen gediehen nur kümmerlich.

Man sehnte sich nach den Massen und hielt sie doch künstlich fern. Deshalb lehnte man den Antrag

24* Eisner, Gesammelte Schriften. I.

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ab, den Vereinsbeitrag von einem Taler jährlich in monatlichen Raten zahlen zu lassen.

Das sperrte die Arbeiter aus, die man dann wieder durch so läppische Mittel zu ködern versuchte, daß man auf Kosten des Vereins zwölf richtige Proletarier zur Londoner Weltausstellung sandte.

So kam es, daß der Nationalverein in demselben Maße, als er sich während der Konfliktszeit radikalisierte - so daß ihn Gustav Freytag in einem Briefe an Treitschke aus dem Jahre 1865 "eine Kleinkinderbewahranstalt für zuchtlose Demokratie" nannte -, zerbröckelte statt zu erstarken. Zwar hielt es Bennigsen persönlich für erwiesen und erfreulich, daß der intelligente Arbeiterstand Deutschlands fähig und bereit sei, an den nationalen Bestrebungen teilzunehmen, aber er drang bei den Freunden nicht durch, denen vor einer Überflutung durch "Handwerksgesellen" bangte; und wenn ihm selbst eine Sache am Herzen lag, wie etwa die Angliederung von militärischen Turnvereinen an den Nationalverein (als eine Art Volkswehr), so möchte er am liebsten sogar den verdächtigen Nationalverein im Hintergrund halten. Bei solcher Gelegenheit schreibt er zum Beispiel einmal an den Sekretär des Herzogs von Koburg: "Soll die Sache in größerem Umfange ermöglicht werden, so müssen außer den Geldern, die der Verein zahlt, um die Sache in Gang zu bringen, Gemeindebehörden, reiche Privaten, womöglich auch wohlmeinende Regierungen sich der Sache öffentlich annehmen. Letzteres hat den großen Vorteil, der Sache in den Augen der Piepmeier jeden bedenklichen revolutionären Beigeschmack zu nehmen." Mit diesen Piepmeiern aber wollte Bennigsen Politik treiben, obwohl er über das deutsche Bürgertum keine Illusionen hatte. In einem Briefe vom Jahre 1862 schreibt er über den "empörenden Mangel an wirklichem Verständnis für das, was zu politischen Erfolgen nötig ist und an wahrer Opferwilligkeit". Er hält es

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für fraglich, "ob das deutsche Bürgertum für die Dauer zur politischen Herrschaft berufen ist", und er beweist sich als ein wahrer Prophet, wenn er dieses Zukunftsbild des deutschen Liberalismus malt: "Inmitten der kirchlichen und politischen Reaktion auf der einen Seite und der drohenden Arbeiterfrage auf der anderen, wird der deutsche Bürger sich bald entschließen müssen, die unendliche Wertschätzung seiner kostbaren Person und des nervus rerum etwas herabzusetzen, sonst wird er dem wohlverdienten Schicksal des französischen Bourgeois schwerlich entgehen. Feigheit und Geiz sind die verderblichsten Laster für jede politische Partei. Für eine Partei aber, die es darauf angelegt hat, durch ihre allgemeine Haltung - vorläufig also jedenfalls durch bloße Worte - ihren Gegnern zu imponieren, könnte schon der bloße Verdacht solcher Untugenden tödlich werden."

Aber es war doch wieder nur ein Ausdruck solcher bürgerlicher Angstpolitik, wenn Bennigsen selbst in den hannöverschen Parlamentskämpfen an der Spitze einer festen liberalen Majorität nichts Durchgreifendes zu unternehmen wagte, um nicht durch vorzeitigen Sturz des lauliberalen Ministeriums Erzreaktionäre von der Art des Grafen Borries wieder ans Ruder zu bringen. Damals - 1864 - verleidete ihm diese seine höchst fatale Stellung noch die ganze Politik. Er findet solche Diplomatie aufreibend und verzweifelt, und doch erscheint ihm die Politik des ewigen Abwartens als das einzig mögliche. So trieb man im Grunde doch nur von einer großartigen, aber wirkungslosen Versammlung zu einer noch großartigeren und noch wirkungsloseren. Nicht als ob man dem Aberglauben der unbedingten Gesetzlichkeit gefrönt hätte. Besonders war es Miquel, der nächste Gefährte Bennigsens, der die jugendlichen Aufstandsstimmungen seiner Briefe an Karl Marx durchaus noch nicht überwunden hatte und immer wieder leidenschaftlich mahnte, es

24*

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käme nicht auf Resolutionen, sondern aufs Handeln an: "Ehe wir an dem Erfolg der gesetzlichen Mittel verzweifeln, müssen wir mit nachhaltiger Kraft sie gebrauchen; schlägt dann ohne unsere Schuld der Versuch fehl, scheitert derselbe ... dann ... findet sich das andere." Aber das andere fand sich eben nicht, sondern es fanden sich nur abermals Resolutionen, Versammlungen, Kongresse, und zur Abwechslung höchstens Volksfeste. Deutsche Politiker sollten die Seiten 494 und folgende des ersten Bandes des Onckenschen Werkes gründlich studieren.

Es war ein Zusammentreffen von symbolischer Bedeutung, wie damals der künftige Massenführer August Bebel flüchtig an den schwankenden Kahn des Nationalvereins streifte. Von ihm als dem Vorsitzenden des Leipziger Arbeiterbildungsvereins unterschrieben, aber nicht verfaßt ist jener Brief vom 24. Juli 1865, in dem der Leipziger Verein den Ausschluß des Nationalvereins um 200 Gulden zur Unterstützung gegen die Agitation Lassalles bittet: "Denn das Gift jener Irrlehren schleicht sich unvermerkt in die Massen ein, und die grellen Farben, mit denen man das Elend der arbeitenden Klassen gegenüber der Tyrannei derer schildert, "die sich auf ihren Geldsäcken wälzen", der ewige Refrain, daß man "nicht dafür könne, wenn man zur Revolution gezwungen werde", dürften uns deutlich zeigen, daß die Fahne des roten Kommunismus nur auf die Gelegenheit harre, um mit all ihren Schrecken entfaltet zu werden." Bebels Dankschreiben für die Bewilligung der Summe stammt von ihm persönlich und enthält dergleichen Phrasen nicht, vielmehr versichert Bebel in taktvoller Klugheit dem Präsidenten des Nationalvereins, daß "eine solche Unterstützung der guten Sache das beste Mittel sein wird, diese häufig ausgesprochenen Vorwürfe und Verdächtigungen gegen den Nationalverein zu entkräften und dafür Hochachtung und Anerkennung zu verbreiten".

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Bald war Bebel Führer der Masse, während Bennigsen an der Spitze liberaler Piepmeier von der preußischen Gewaltpolitik elend zerbrochen wurde. Mit welchen Mitteln aber die Politik Bismarcks arbeitete, daran zu erinnern ist nicht unnütz in unseren Tagen, da die preußischen Junker und das liberale Bürgertum schon darüber aus den Fugen geraten, wenn Sozialdemokraten den Verfassungseid der Abgeordneten nicht höher einschätzen als was er ist: eine erzwungene Formel und Formalität.

VI.

Für Bennigsen ward mehr und mehr Bismarck das Hemmnis aller nationalen Einheits- und Freiheitsbestrebungen. Preußen, die einzige Macht, die er für fähig hielt, Deutschland zu einigen, mußte zunächst von Bismarck befreit werden. Die militärische Diktatur Preußens genügte ihm nicht; mit der Machtentfaltung müsse die freiheitliche Entwicklung Hand in Hand gehen. Er mißtraut auch den Rechten, die monarchisches Wohlwollen schenkt und die durch keine Anstrengung des Volks erworben. 1863 schreibt einmal Gustav Freytag an Bennigsen: "Das ganze Unglück der Preußen läßt sich in die Worte zusammenfassen, daß sie nach dem Eintritt der Bewegungszeit für Deutschland das große Unglück gehabt haben, zwei Fürsten zu erhalten, die in der öden Zeit Metternichs und der Karlsbader Beschlüsse aufgewachsen sind. Das hatte auch das Volk zurückgehalten. Der Kampf gegen eine abgestandene Generation, die gespensterhaft alle wichtigen Stellen des Staates besetzt hält, ist wie ein Kampf gegen Tote." Drohend antwortet Bennigsen auf diesen im Grunde doch byzantinischen Seufzer: "Wenn nicht in wenigen Wochen das Bismarcksche Regiment beseitigt ist und König Wilhelm oder sein Nachfolger sich für die Einberufung eines wirklichen (deutschen) Parlaments erklärt und wirksam

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auftritt, so steht für Preußen das Äußerste auf dem Spiele und der Verlauf der deutschen Geschichte wird auf Jahre hinaus ganz abnorm und unberechenbar. Halbe Maßregeln und Verbesserungen in Preußen würden höchst nachteilig sein."

Auf diesen Ton sind alle Äußerungen Bennigsens über Preußen und Bismarck in jenen Jahren gestimmt. Aber Bennigsen drohte doch wieder immer nur mit der Revolution, die andere machen würden, wenn man die Wünsche der Gemäßigten, die selber durchaus keine Revolution machen wollen und können nicht berücksichtige. Das waren Wendungen, die den Hohn Lassalles in seiner (sonst Höchstbedenklichen und offenbar krankhaft erregten) letzten Solinger Rede rechtfertigten, wenn er auch fälschlich den Anschein zu erwecken suchte, als ob der Führer des Nationalvereins mit seiner verhüllten Revolutionsankündigung für immer die Revolution abgeschworen habe: "Erheben wir also unsere Arme" - rief Lassalle den Arbeitern zu - "und verpflichten wir uns, wenn jemals dieser Umschwung, sei es auf diesem, sei es auf jenem Wege, käme, es den Fortschrittlern und Nationalvereinlern gedenken zu wollen, daß sie bis zum letzten Augenblicke erklärt haben: sie wollen keine Revolution! Verpflichtet euch dazu, hebt eure Hände empor." Der jähe Tod hat Lassalle vor dem furchtbaren Schicksal bewahrt, die demokratische und sozialistische Sache mit Bismarck gewinnen zu wollen; sein Zusammenbruch wäre noch verheerender gewesen als der des Liberalismus, der die Einheit und Freiheit gegen Bismarck zu erringen versuchte! Dennoch erkannte Lassalle durchaus richtig die Neigung Bennigsens zur "realpolitischen" Halbheit. Mußte doch selbst Miquel den Freund vor Konzessionen bei einem klerikalen Synodenentwurf warnen, indem er - Oktober 1863 - ihm schrieb: "Man ist im Volke durchaus nicht mehr auf dem alten, starren Glaubensgrunde,

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der in der Kirche noch zu Recht besteht. Wenn die Bewegung dies auch nicht laut proklamiert hat, so ist dies nur die Folge des richtigen Instinkts in den Massen, daß man erst die Pfaffenherrschaft brechen, sich selbst zum Herrscher machen und dann weitergehen müßte."

"Ist es nicht geraten, gegen diesen gemeingefährlichen Menschen alle Minen springen zu lassen," schreibt Bennigsen im Herbst 1863 als ihm kompromittierende Enthüllungen über Bismarcks Verhalten in der Holsteinschen Sache angekündigt werden. Der gemeingefährliche Mensch war Bismarck. Im Nationalverein war man damals dafür, in Schleswig-Holstein einen Aufstand zu entfesseln, ein Freikorps für einen Handstreich zu werben, und in der nationalen Begeisterung Bismarck zu stürzen. "Es gilt einen Generalsturm auf die Regierungen, vor allen anderen auf die preußische und hannoversche. In Preußen muß der Schrei: 'Nieder mit Bismarck!' organisiert werden," heißt es in einem Brief Rochaus an Miquel. "Preußische Spitze unter allen Umständen ist unser Programm nicht." - "Im Norden nimmt die Bismarcksche Richtung, das ist die Anbetung der militärischen Macht und diplomatischen Erfolge, in erschreckender Weise überhand." - "Eine militärische Vergewaltigung Nord- und Mitteldeutschlands von Berlin aus (wird) um so sicherer eintreten und um so länger die allgemeine Einigung Deutschlands aufhalten, je träger und gleichgültiger das Bürgertum den Akten und Erfolgen preußischer Gewalt zusieht oder je mehr eine feige Überklugheit dem Altpreußentum speichelleckt und auf Süddeutschland verzichtet" - so tönt es aus Bennigsens Briefen im Jahre 1864 Und selbst als Bismarck, am Vorabend der kriegerisch-dynastischen Revolution von 1866, plötzlich das Ideal des Nationalvereins, das deutsche Parlament auf Grund des allgemeinen Wahlrechts, zu seinem eigenen Programm

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erhebt, meint Bennigsen, er wolle der Frontveränderung Bismarcks, angesichts der Vergangenheit des Mannes, eine gewisse Großartigkeit nicht absprechen, "eine Großartigkeit, die aber zum Ridikülen (Lächerlichen) doch in einer näheren Beziehung zu stehen scheint als zum Tragischen". Am 15. April 1866 prophezeit Bennigsen: "Treibt Bismarck die deutschen Fürsten auf das unbeschiffte Meer, zerstört er die Fundamente und alle Prinzipien der konservativen Parteien, so kann sich daraus eine ungeheure Entwicklung gestalten, in der nicht allein Bismarck, sondern auch ganz andere Existenzen schleunigst verschwinden." Ja sogar nach 1866, als Bennigsen sich im treuesten Gefolge Bismarcks befand, konnte er über seine zu inneren Zwecken angestifteten Kriegstreibereien gegen Frankreich schreiben: "Er hat die Franzosen in einer ganz fabelhaften Weise hinters Licht geführt. Napoleon, früher in den Augen der Welt sein eigentlicher Lehrmeister, ist wie der dümmste Junge von ihm genarrt. Die Diplomatie ist eins der verlogensten Geschäfte, aber wenn sie im deutschen Interesse in einer so großartigen Weise der Täuschung und Energie getrieben ist wie durch Bismarck, kann man ihr eine gewisse Bewunderung nicht versagen." (Bennigsen an seine Frau, 8. April 1867.) Ein hübsches Beispiel zu dem unergründlichen Kapitel bürgerlicher Heuchelei: Ethik und Politik!

Für Bismarck gab es in der Tat keinerlei Skrupel in der Wahl seiner Mittel: er schoß wirklich nicht mit öffentlicher Meinung, wie die Liberalen, sondern mit Pulver und Blei, und obendrein mit Bestechung, Verrat, Treubruch, Lüge und jeglichem Verbrechen. Bismarcks plötzliche Bekehrung zum deutschen Parlament erregte gradezu eine Panik unter den Vorkämpfern dieses Ideal von 1849. War es nur ein listiger Trick, um die Gemüter für seine andern Zwecke preußischer Machterweiterung zu gewinnen? Das glaubten die

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meisten, und die wenigsten ahnten, daß es ihm ernst war, ganz ernst - mit dem Parlament des demokratischen Wahlrechts: Das Aufgebot der unaufgeklärten Masse gegen die bürgerliche Opposition, die pommerschen Grenadiere nicht nur gegen Österreich, sondern auch gegen die liberale Intelligenz!

Bennigsen aber begann, mit Bismarck zu rechnen. Und so wagte der hannoversche Politiker, nach dessen Vaterland Preußen bereits die Hand ausstreckte, im Mai 1866 den zwar nicht unehrenhaft gemeinten, aber höchst zweideutig wirkenden Besuch bei Bismarck, einer Einladung folgend. Bismarcks Absicht war, den Führer der hannoverschen Opposition für Preußen zu gewinnen. Zwar bot Bismarck ihm damals nicht die persönliche Mitwirkung an der preußischen Regierung an, aber er unterließ diese direkte Aufforderung zum Landesverrat nur deshalb. weil er an dem Verhalten Bennigsens merkte, daß er dafür nicht zu haben sei. Am 16. Mai 1866 "beruhigte" Bennigsen seine Frau mit der Mitteilung, "daß ich zwar bei meiner Ankunft eine bestimmte Nachricht aus dem kronprinzlichen Lager bekam Bismarck beabsichtige mich und Herrn N. N. (der ursprünglich hier geschriebene Name des Badener Staatsmannes Roggenbach ist durchstrichen) ins Ministerium zu nehmen, daß mir Bismarck selbst aber in der langen Besprechung ... kein solches Anerbieten gemacht hat". Jedenfalls gelang es Bismarck, durch diese Unterredung Bennigsen schwer zu kompromittieren. Als jedoch das Los Hannovers entschieden war, schreckte Bismarck auch davor nicht mehr zurück, dem Hannoveraner das äußerste Verbrechen anzusinnen.

Bennigsen lag ernstlich an der Rettung der hannoverschen Selbständigkeit. Nur war es eine Illusion, wenn er glaubte, sein Vaterland könnte sich durch neutrales Wohlverhalten retten. Die Frucht war längst reif für den preußischen Hunger - so oder so.

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Die hannoversche Regierung wußte es besser, als sie sich, gegen Bennigsens Rat, entschloß, an der Seite Österreichs das Waffenglück zu probieren; Bennigsens Neutralitätspolitik hätte Hannover nicht erhalten können, es wäre doch - unter irgendeinem Vorwand - verschluckt worden.

Unmittelbar vor der Katastrophe Hannovers bemühte sich Bismarck, den Führer der hannoverschen Opposition zu gewinnen. Zunächst beauftragte er den preußischen Gesandten, Prinzen Ysenburg, mit Bennigsen über die Übernahme der Verwaltung Hannovers nach dem Einmarsch der preußischen Truppen zu verhandeln; der wich, unter allerlei Vorwänden , der Aufforderung aus, den Kuppler solchen 1 Hoc h-und Landesverrats zu spielen. Dann schickte Bismarck den Bürgermeister Duncker aus Berlin zu Bennigsen. Der brachte ihm die Botschaft, die Besetzung Hannovers durch preußische Truppen und Errichtung einer preußischen Regierung stünde unmittelbar bevor. "Bismarck machte mir," so skizziert ein Jahrzehnt später Bennigsen seinem Freunde Lasker die Darlegungen Dunckers, "den Vorschlag, an die Spitze dieser Regierung zu treten. Ich erwiderte Herrn Duncker in continenti, daß ich die Proposition ablehnen und mir jede weitere Verhandlung darüber verbitten müsse. Nachdem ... Herr Duncker sich entschuldigt hatte, daß er mir den Vorschlag überbrachte, da er den Auftrag nicht gut habe ablehnen können, bat er um Erlaubnis, noch mit einem anderen Auftrag herauskommen zu dürfen, wogegen ich natürlich nichts einwendete. Bismarck wünschte eine Erklärung von mir, ob ich bereit sei, meinen Einfluß dafür zu verwenden, daß in Deutschland zu einem Reichstage mit allgemeinem Wahlrecht gewählt werde, wenn Preußen, in dem Kriege gegen Österreich siegreich, dazu auffordere."

Die Absichten der Bismarckschen Niedertracht

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waren offenbar. Einmal wollte er durch den Verräter im feindlichen Lager sich den Sieg erleichtern und dann zugleich in dem Verräter, nach dem Siege, die liberale Opposition für immer unschädlich machen! Bennigsen aber widerstand dem äußeren Verrat, jedoch nicht der inneren Unterwerfung.

Österreich wurde besiegt, Hannover wie Hessen-Nassau, Frankfurt a. M. von Preußen aufgezehrt. Bennigsen und seine hannoverschen Freunde waren Preußen geworden. Sie wußten, was bevorstand. Noch während des Krieges schrieb Planck an Bennigsen: "Daß Preußen, welches unter diesem Junkerregiment gesiegt hat, nach dem Siege von selbst eine liberale Regierung erhalten sollte, ist mir innerlich höchst unwahrscheinlich, und wir werden, wenn auch die Einheit erreicht wird, aber mit jenem bitteren Zusatze (des preußischen Junkerregiments), der der Masse des Volkes sofort fühlbar wird, während sie Segnungen) der Einheit nicht so bald fühlt, einen schweren Stand haben. Indessen ..." Ähnlich äußerte sich Bennigsen selbst; und auch er fügte das "indessen" hinzu, das heißt, den Entschluß nach dem Scheitern aller liberalen Jugendträume nun mit Bismarck im Tauschhandel den Liberalismus sacht in den Junkerstaat einsickern zu machten. Und während Bismarck nun die erste Probe jener echt preußischen Blockpolitik unternahm, die den Liberalen gestattete, konservative Politik zu treiben, begannen die deutschen Liberalen jene verhängnisvolle Taktik, ihre unvermeidlichen Siege zu organisieren, indem sie den Liberalismus Stück für Stück preisgaben. Jeder neue Erfolg der liberalen Führer ward eine neue Niederlage der liberalen Idee!

VII.

Es gehört zu den eisernen Geschichtshegenden, aus denen in Deutschland die Geschichtswissenschaft be-

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steht, daß die Gründung des Deutschen Reiches sich seit 1866 unter liberalem Gestirn vollzogen. Auch Oncken huldigt diesem Märchen, das ihm ja allein ermöglicht, seinen Helden - wenn zwar unter starkem Vorbehalt - liberale Siege gewinnen zu lassen. Das liberale Gestirn stand in der Tat prangend am Himmel. Aber es hatte ebensowenig Einfluß auf die Geburt des Deutschen Reiches, wie sonst ein Zusammenhang zwischen Sternen und Geburten besteht - trotz Horoskop und Hokuspokus.

Der Liberalismus in Preußen-Deutschland bestand zu jener Zeit genau in derselben Erscheinung wie vorher und seitdem: daß sich die preußische Politik durchsetzt im Kampfe gegen die Junker der rabiaten Färbung. Aber deshalb, weil die Regierung in Preußen stets mit den wilden Männern der feudalen Welt sich raufen muß, ist sie niemals liberal. Im Gegenteil:

die Reibereien mit den Junkern, die Verweigerung ihrer blödesten Tollheiten hat doch stets nur den Zweck und stets den Erfolg, das konservative preußische System zu erhalten. Dem deutschen Liberalismus ist die Aufgabe zugefallen, die konservative Sache gegen die Konservativen, das Junkerwesen gegen das Junkertum zu retten. Das war der liberale Sieg, der mit so viel staatsmännischer Selbstentäußerung erkauft wurde. Die Liberalen wurden Sieger, indem der Liberalismus besiegt wurde, und die liberalen Führer blieben, nach einem ebenso hübschen wie boshaften Wort Bismarcks - Bennigsen teilt die Äußerung seiner Frau in einem Brief vom 2. Dezember 1867 mit - "die Minister des Kronprinzen". In Wahrheit, das war die Rolle des deutschen Liberalismus: sie blieben immer die Minister des zukünftigen Herrn, und um diese große Gunst nicht zu verscherzen, opferten sie für die Gegenwart ein Stück des Liberalismus nach dem anderen. Die endlosen Reibungen Bismarcks mit seinen junkerlichen Standesgenossen, deren

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klügster er war, hinderten ihn ebensowenig deren sonst verlorene und verfallene Sache zu restaurieren, wie er auch die kirchliche Reaktion stärkte, obwohl er die Pfaffenmacht, persönlich ein Ungläubiger - trotz seiner angeblichen Jugendbekehrung nach wüster Gottlosigkeit - bekämpfte; wie er endlich die hoffnungslos erschütterte Monarchie wieder belebte, wenngleich er vor den Trägern der Krone nicht die mindeste Achtung hatte und weder vor dem Großvater, noch vor dem Sohne, noch vor dem Enkel, seinen drei königlichen Herren, Achtung hatte! Auch vor dem Heldengreis nicht! Bennigsen sagt die Wahrheit, wenn er 1867 seiner Frau schreibt: "Der König und er haben eher Haß wie Freundschaft gegeneinander; mit dem Nachfolger hat Bismarck ein ganz kaltes Verhältnis."

Die liberale Konzessions- und Kompromißpolitik blieb also ohne jede Frucht. Man erntete nur liberale Attrappen, die wie Früchte aussahen. Das zeigte sich sofort, als Bennigsen seine Wirksamkeit im Reichstage des Norddeutschen Bundes und im preußischen Landtag begann. Er und die Seinen hatten von vornherein alle weiterstrebenden liberalen Grundsätze als Ballast über Bord geworfen, um vorerst wenigstens ein paar "unveräußerliche" liberale Forderungen zu sichern. Aber auch diese setzen sie nicht durch, Bismarck bewilligte ihnen allenfalls einige personale Liebenswürdigkeiten - Sturz eines besonders dumm-reaktionären Ministers und dergleichen mehr! -, aber die konservative preußische Sache ließ er im Kern nicht antasten. So scheiterten die Liberalen sofort mit ihren beiden dringendsten Forderungen: mit den konstitutionellen Sicherheiten in der Reichs-(Bundes-) verfassung und bei der Regelung des Verhältnisses von Preußen zum Reich. Und wenn sich die Liberalen damals trösteten, das augenblicklich "Unerreichbare" werde durch die innere Naturgewalt der Dinge sich

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doch bald durchsetzen, so sind auch jene bescheidensten liberalen Forderungen von 1866 bis 1870 jenes liberale Mindestprogramm, bis zur Stunde so wenig der Erfüllung auch nur angenähert, daß es die Liberalen heute selbst nicht mehr fordern.

"Bismarck ist jetzt der Damm gegen das Hereinbrechen der Reaktion" - das ist der große Wahn (er ist schon im Herbst 1866 in einem Brief an Bennigsen in diese Formel gefügt!) -, mit dem die Liberalen unmittelbar nach dem preußischen Kriegserfolg ihr gründliches Umlernen rechtfertigen. "Die Zeit der Ideale ist vorüber. Die deutsche Einheit ist aus der Traumwelt in die prosaische Welt der Wirklichkeit hinuntergestiegen. Politiker haben heute weniger als je zu fragen, was wünschenswert, als was erreichbar ist," rief Miquel 1867 aus. "Das Erreichbare" das ist seitdem die Begräbnisformel geblieben, mit der jeder liberale Grundsatz zur Ruhe bestattet worden ist. Unerreichbar dünkte Bennigsen natürlich die parlamentarische Verfassung. "Die Physiognomie des Parlaments wird von der des achtundvierziger außerordentlich abweichen und dasselbe, nach dem damaligen Maß gemessen, eine sehr bescheidene Rolle spielen." Die Nation könne "vorerst gar keinen begründeten Anspruch erheben, von der preußischen Krone und dem deutschen Richelieu den Parlamentarismus und den ganzen Komplex von Freiheiten in Gnaden verliehen zu erhalten". Für die Durchsetzung des Erreichbaren wurde die nationalliberale Partei gegründet, deren Mission es wurde, das "Nichts" zu erreichen, weil sie das "Alles" schreckte. Nach den Wahlen für den konstituierenden Reichstag schrieb Bennigsen an seine Frau: "Sehr befriedigend wird das Resultat für die verfassungsmäßigen Rechte nicht werden. Dazu sind die Wahlen in Preußen viel zu konservativ ausgefallen." Aber als später die Wahlen ganz nationalliberal ausfielen, wurde der Liberalismus erst recht

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aussichtslos. Was man in der Ohnmacht nicht konnte, traute man sich nicht in der Macht. Zum Überfluß begann Bismarck gleich mit der Politik, durch Einfädelung auswärtiger Verwicklungen die innere Politik zu fesseln. Seit 1867 begann er die Kriegshetze gegen Frankreich. Er hatte immer eine Affäre bei der Hand, hieß sie nun "Luxemburg" oder sonst wie, und vor lauter Eifer in so kritischen Augenblicken national zu blasen, hatten die Liberalen keine Zeit und Kraft, liberal zu pfeifen. Die ganze Arbeit an der Verfassung des Norddeutschen Bundes - der heutigen Reichsverfassung - wurde durch auswärtigen Lärm eingeschüchtert. Bennigsen kannte die Triebfedern dieser Politik: "Hier (in Berlin) ist, wie überall, die Politik zu neun Zehnteln persönliches Interesse, was man auch, wenn man die Politik anders auffaßt und betreibt, sich stets klar und gegenwärtig halten muß, um nicht düpiert zu werden" (an seine Frau, 10. März 1867). Bennigsen trieb keine Politik persönlichen Interesses. Er ist auch aus der Gründerzeit unbefleckt hervorgegangen, und als man ihn solcher Gründungsgelüste beschuldigte, konnte er wahrheitsgemäß die Erklärung abgeben, die für die heutigen Liberalen tödlich sein dürfte: "Ich bin kein Geschäftsmann. Deshalb und mit Rücksicht auf meine öffentliche Stellung würde ich es für unpassend und für wenig ehrenvoll halten, wenn ich die Mitwirkung bei der Begründung einer Eisenbahn dazu hätte benutzen wollen, irgendeinen derartigen Geschäftsgewinn zu erstreben oder anzunehmen." Aber er machte auch für den Liberalismus keine Geschäfte. Er ließ sich düpieren!

Zwei "unerläßliche" Forderungen stellte Bennigsen für die Bundesverfassung auf: ein verantwortlich es Bundesministerium und Diäten für die Abgeordneten. Der Regierungsentwurf der Verfassung sah ursprünglich als Bundeskanzler nur eine Art untergeordneten

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Sekretär des preußischen Ministers der auswärtigen Angelegenheiten vor. Der Antrag Bennigsens auf Schaffung eines verantwortlichen kollegialen Bundesministeriums unter dem Vorsitz eines Bundeskanzlers brachte Bismarck auf den Gedanken, bloß einen "verantwortlichen Kanzler" zu schaffen. Damit wurde das Gegenteil der liberalen Absicht erreicht. Im Reichskanzler wurde das Reich nicht, wie die Liberalen wollten, verselbständigt, sondern zur Filiale Preußens. Statt einer wirklichen Verfassung bekam der Bund einen paragraphierten Menschen; ein zufälliger Mensch - Bismarck - wurde in der deutschen Verfassung staatsrechtlich verewigt. Dazu war dieser Kanzler nur auf dem Papier verantwortlich. Die nähere Regelung wurde einem besonderen Gesetz vorbehalten. Dieses besondere Gesetz gibt es noch heute nicht. Die Konzessionen der Liberalen haben das "Erreichbare" in Wirklichkeit für Generationen unerreichbar gemacht. Ebenso ging es mit den Diäten; Bennigsen beharrte auf ihnen. Bismarck weigerte sich. Bennigsen hielt es "für ein ganz bedenkliches Experiment, daß in einem deutschen Parlament die Diäten beseitigt werden sollen"; er hielt "die Folgen für durchaus unberechenbar". Dennoch überließ er und die Liberalen auch dieses "Erreichbare" der Zukunft, die erst unter dem Fürsten Bülow kam!

Es war auch kein Erfolg der Liberalen, daß Bismarck ihren Antrag des geheimen Wahlrechts akzeptierte. Denn Bismarck gewährte ja das Reichstagswahlrecht, um die unaufgeklärten Massen gegen die Liberalen auszuspielen. Und die Liberalen wußten das; es war im Gründungsprogramm der nationalliberalen Partei vom 12. Juni 1867 klar ausgesprochen worden: "Das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht ist unter unserer Mitwirkung zur Grundlage des öffentlichen Lebens gemacht. Wir verhehlen uns nicht die Gefahren, welche es mit sich bringt, solange

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Preßfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht polizeilich verkümmert sind, die Volksschule unter lähmenden Regulativen steht, die Wahlen bureaukratischen Einrichtungen unterworfen sind, zumal da die Versagung der Diäten die Wählbarkeit beschränkt." Man erkennt die ganze Entartung, der der Liberalismus seitdem verfallen : damals sah man noch die Gefahren für das allgemeine Wahlrecht und der durch die Reaktion bewirkten Unfreiheit des Gebrauchs ; heute bekämpft man es, weil das Volk den freien Gebrauch zu lernen begonnen hat.

Noch elender als im Reichstag war der Zusammenbruch des Liberalismus gleich in Preußen. Im nationalliberalen Programm hieß es: "Als Ziel schwebt uns vor, daß die parlamentarischen Funktionen des Staates möglichst vollständig in den Reichstag verlegt werden. Auch der preußische Landtag soll sich nach und nach mit einer Stellung begnügen, welche in keiner Weise geeignet sei, dem Ansehen und der Wirksamkeit des Reichstages Eintrag zu tun." man verlangte ferner "Ausbau und Revision der preußischen Verfassung", "Ausführung der in der Verfassung verheißenen Gesetze und die Reform des Herrenhauses als Vorbedingung aller Reformen", "Aufhebung der gutsherrlichen Obrigkeit und gutsherrlichen Polizei". Keine der liberalen Vorbedingungen ist bis heute erfüllt worden.

Noch schärfer, als im Programmentwurf' deuten Äußerungen Bennigsens auf das Ziel dieser annektierten Preußen hin. Sie erstrebten die vollständige Beseitigung der preußischen Zentralgewalt. Bennigsen war durchaus der Meinung seines Freundes Friedrich Ötker, der in der kurhessischen Opposition die Geschäfte Preußens besorgt hatte: die ganze preußische Landesgesetzgebung müsse allmählich zugunsten der Bundes- und der Provinzialgesetzgebung aufhören, also der Landtag allmählich trockengelegt werden. Man dachte sich die Vereinigung aller Zentralgewalt

25 Eisner, Gesammelte Schriften. I.

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im Reich und die Dezentralisation Preußens in provinziale Selbstverwaltungsgebiete. Die Provinzen erhielten ja allerdings eine Art Selbstverwaltung - Bennigsen selbst war zwanzig Jahre lang Landesdirektor in Hannover -, aber der preußische Landtag und die preußische Regierung, als Werkzeug des Junkertums, vereinigten immer noch die politische Macht in und über Deutschland. Trockengelegt wurde der Liberalismus und das Reich. Und die "Vollendung" der deutschen Einheit nach dem Kriege von 1870/71 war die Vollendung dieser Trockenlegung.

VIII.

Die Angliederung des deutschen Südens an den Norddeutschen Bund verstärkte keineswegs die liberalen Triebkräfte in der Politik des Reiches und Preußens. Vielmehr befeuerte sie nur den Eifer des Junkertums, in demselben Maße vorzudringen, in dem die Liberalen das Geschäft fortsetzten' die schweren Opfer ihrer liberalen Grundsätze gewerbsmäßig auf dem nationalen Altar darzubringen. Immer wenn die Liberalen gerade liberal sein wollten oder doch sein sollten, war irgend etwas geschehen, was ihnen zu Gemüte führte, "daß jetzt die Zeit nicht da ist", um liberaler Forderungen willen Konflikte zu versuchen. Bennigsen sprach dies Wort 1874 aus, als die Liberalen das militärische Budgetrecht preisgaben. Aber diese Zeit war nie da; immer gab es gerade Umstände, die für den Liberalismus hinderlich waren, liberal zu sein. Und wenn die Liberalen dergestalt sich überwunden hatten, so jubelten sie jedesmal, daß es den Gegnern nicht gelungen sei, sie auszuschalten - sie auszuschalten nämlich von der Möglichkeit, antiliberale Politik treiben zu dürfen. Dieses Argument des "Ausschaltens" finden wir in dem liberalen Sprach- und Denkgebrauch von Anbeginn. So schrieb damals - 1874-, als es gelungen war, durch das Septennatskompromiß den

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wichtigsten liberalen Grundsatz, das Budgetrecht, zu verraten, so ein Liberaler triumphierend in sein Tagebuch: "Beispielloser Jubel ... Wir freuten uns sehr ... Alle Gemüter waren voll davon, daß der vom Zentrum und den Konservativen gehoffte' von uns gefürchtete Konflikt vermieden ist. Die Konservativen sind wütend ... Die Wut der Konservativen, daß wir eine Verständigung herbeigeführt und daß der von ihnen sicher gehoffte Konflikt vermieden ist, übersteigt alle Grenzen."

Die Politik Bismarcks, durch äußere Verwicklungen die innere dynastisch-junkerliche Herrschaft zu) sichern, forderte ihren Abschluß durch den deutsch-französischen Krieg. Sofort nach 1866 sehen wir die deutsch-französischen Zwischenfälle aufwuchern, mit denen auch Bennigsen bewußt operiert. Dauerndes Kriegsgeschrei übertönt, verwirrt und verstümmelt die liberale Verfassungsarbeit. "Jetzt ist die Zeit nicht da!" ... In militärischen Kreisen wird sofort nach denn Siege von 1866 nur noch über den Termin des Losschlagens, nicht über die Notwendigkeit des Krieges selbst debattiert. Man will die Zeit wählen, wo Frankreich mitten in der Armeereform wäre. Wenn auch die letzte Entscheidung die Emser Depeschenfälschung brachte, so war dieses weltgeschichtliche Verbrechen nur die Krönung eines lang gesponnenen Komplotts. Das Kampfziel war weniger die Demütigung Frankreichs und die Annexion Elsaß-Lothringens' sondern die Demütigung des deutschen Bürgertums und die Annexion der Liberalen. Das war auch der Ertrag. 1870 liquidierte endgültig 18+8. Die aus wirtschaftlichen Gründen notwendige, nicht mehr aufzuhaltende Einigung Deutschlands sollte sich unter antiliberalen Sicherheiten vollziehen, und um diesen Erfolg zu erreichen, bediente sich Bismarck nicht der Konservativen, sondern eben der Liberalen. Seine diabolische Verachtung des liberalen Bürgertums wußte, daß nur eine Klasse, nur

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eine Partei bereit sei, jederzeit auf ihre Grundsätze zu verzichten: die Bourgeoisie und die Liberalen.

Als der Krieg ausbricht, eilen, schreiben, telegraphieren die Liberalen geschäftig im Lande umher, um dafür zu sorgen, daß in jetziger Zeit nicht von Freiheit geredet werde, sondern eben nur noch von Einheit. Am eifrigsten ist in dieser Abschnürung des zweiten Teiles des Parteinamens Lasker, der doch die "linke Seele" der Nationalliberalen darstellte. Als freiwillige Agenten Bismarcks suchen sie Bayern, Württemberg, Baden zum Anschluß zu gewinnen. Dabei werden sie von dem Bundeskanzlerübel behandelt. Glaubt er allein fertig zu werden so stellt er die ungebetenen Helfer bloß, und erst, wenn er Mißerfolge hat, ruft er sie, damit sie öffentliche Meinung fabrizieren und die "Tintenklexer" mobil machen. Und wenn es Bismarck nicht gelingt, die bayerischen Reservatrechte zu hindern, so beschuldigt er die Liberalen, daß ihr allzu weites Entgegenkommen an die bayerischen Forderungen ihm das Geschäft verdorben habe. Dabei mußten gerade bei den Reservatrechten die Liberalen gleich wieder ihre heiligsten Grundsätze opfern; denn ihren unitarischen Bestrebungen waren die Bismarckschen Konzessionen viel zu weitgehend. Und vertraulich telegraphiert Bamberger Ende November 1870, daß man die Bundesverträge trotz ihrer Mängel nicht verwerfen und auch nicht amendieren dürfe.

Auch für Bennigsen war der deutsch-französische Krieg ein gewolltes Mittel der inneren deutschen Politik, was immer er auch öffentlich über den gerechten Verteidigungskrieg reden mochte. In seinen Privatbriefen verschwindet die Kriegsglorie. So lesen wir in einem an seine Frau gerichteten Schreiben vom 2. Mai 1871: "Hört man von den zurückkehrenden Beamten manche interessante Details über den Krieg, so ist man doppelt froh, daß das Kriegführen unserer

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Truppen aufhört und die diktatorische Verwaltung zu Ende geht. Von Erschießenlassen und Niederbrennen der Dörfer erzählen die Herren mit größter Gemütlichkeit. Daß diese Maßregeln notwendig waren, begreife ich bei dem wahnsinnigen Verhalten der französischen Bevölkerung. Zuletzt stumpft sich das menschliche Gefühl unserer Truppen und Beamten aber doch in einer entsetzlichen Weise ab. Auch über die Zahl bedenklicher Krankheitsfälle in den Lazaretten bei verheirateten Landwehrleuten machte Prinz Hohenlohe sehr fatale Mitteilungen. Manches Hundert Landwehrleute wird ihren Frauen kein schönes Andenken von den liederlichen Französinnen mitbringen."

War der französische Krieg für Bismarck eine Notwendigkeit der inneren preußischen Politik, so war er insbesondere das letzte Mittel nicht nur, um die Reste einer bürgerlichen Opposition zu vernichten, sondern auch um sein "nationales" Programm eines Großpreußen durchzuführen und zu sichern. Der deutsche Krieg von 1866 hatte den deutschen Süden durchaus nicht preußisch gestimmt. Die Wahlen zum deutschen Zollparlament waren im Süden gegen Preußen ausgefallen. Der Norddeutsche Bund war eine durchaus preußische Organisation. Bismarck dachte niemals daran, ihn durch die Anfügung gleichberechtigter, unabhängiger Südstaaten aus dem Preußischen ins Deutsche übersetzen zu lassen. Dieser nationalen Auffassung von deutscher Einheit widerstrebte er aufs äußerste. Die Aufnahme Süddeutschlands war nur unter Formen zu dulden, in denen Sicherheit geboten war, daß die süddeutschen Staaten in einem schwachen Verbande nicht als Rivalen Preußens erstarken könnten. Die Überschreitung der Mainlinie auf dem Wege zur deutschen Einheit durfte nur den Zweck haben, die Alleinherrschaft Preußens auch im Süden zu gründen. Eine deutsche Verfassung, wie sie

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Bismarck dachte, war immer nur eine mildere Form der Annexion, die scheinbar freiwillige Unterwerfung unter die preußische Vormacht. Der Süden war aber für diese preußische Einheit nicht zu haben, und deshalb bedurfte Bismarck zur Krönung seines Werkes des nationalen Krieges.

Aus derselben Politik der Niederbrechung des nichtpreußischen Deutschlands, nicht etwa aus irgendwelchen . geistigen Idealen, entfesselte Bismarck dann auch den Kulturkampf. Die katholische Kirche wurzelte im Süden; sie war gegen das als protestantisch geltende Preußen gestimmt und war so eine ernsthafte und nicht leicht zu überwindende Schutzmacht für die Erhaltung eines selbständigen Südens; darum bediente sich Bismarck des Kampfmittels des Antiklerikalismus.

Wenn Oncken den Kulturkampf' trotz durchschimmernder besserer Einsichten, doch gern als eine weltgeschichtliche Auseinandersetzung zwischen Katholizismus und Protestantismus zu nationalen Zwecken der Einheit rechtfertigen möchte, so ist das unklare und phrasenhafte Mystik. Der Jahrhunderte durchgeführte Rivalenkampf zwischen Hohenzollern und Habsburgern war 1866 beendigt. Man hat mit Bayern ein Stück südliches Großdeutschland in das norddeutsche gefügte Reich bekommen, vielmehr gewaltsam gepreßt; denn nur mit dem Revolver in der Hand hatte man dem schon geisteskranken Ludwig II. von Bayern die Unterschrift für die "deutsche Einheit" abgerungen. In der katholischen Kirche organisierten sich diese zentrifugalen Kräfte. Also redete man auf preußische Weise mit ihr. Man dachte nicht daran, Deutschland vom Klerikalismus zu reinigen. Keine Trennung von Kirche und Staat, keine Trennung der Schule von der Kirche - wo herrschte mehr Klerikalismus als in dem protestantischen Ostelbien! - nur ein paar polizeiliche und staatsanwaltliche Schi-

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kanen für die Träger der kirchlichen Organisation, nur einige Sprengungsversuche ihrer unbequemen Macht - das war der so jämmerlich zusammenbrechende Kulturkampf.

Aber zugleich verfolgte auch hier wieder Bismarck die Politik der Ablenkung. Er warf den Liberalen den Kulturkampf hin, damit sie einen hübschen liberalen Zeit vertreib hätten, während der innere Ausbau des Deutschen Reiches sich reaktionär vollzog. Die Spekulation auf die liberalen Philister gelang. Die liberalen Führer freilich waren sich des Spiels zum Teil wohl bewußt. Zwar erfreute der Kulturkampf Bennigsens von Jugend an genährte antiklerikale Stimmung, seine Abneigung gegen die "Römlinge"; aber die rein machtpolitische Tendenz der Bismarckschen Ausnahmegesetze war ihm nicht verborgen. Das zeigt schon der Ton, in dem er über die klerikale Gefahr spottet, so wie die preußischen Polizeihirne und die von ihnen verdunkelten Leute immer Gefahren ausmalen, handle es sich nun um Demagogen, Demokraten, liberale Umstürzler, Sozialisten, Anarchisten oder wer sonst gerade als Feind der preußischen Ordnung zu kennzeichnen ist. Bennigsen schildert seiner Frau (am 1. Dezember 1874) seine Unterredungen mit Bismarck: "Er sprach wiederholt davon, daß er seine Entlassung nehmen müsse; er könne den Ärger am Hofe und mit einer unsicheren Reichstagsmehrheit nicht mehr aushalten. Zweimal sei bereits auf ihn geschossen. Täglich erhalte er jetzt Warnungen der Polizei, nicht mehr auszugehen oder im offenen Wagen auszufahren. Jetzt möge einmal ein anderer Kanzler von fanatischen katholischen Gesellen auf sich schießen lassen. Leider regen seine Frau und Tochter, wie schon in Kissingen, ihn hier mit ihrer Angst und Sorge wohl auch immer mehr auf. Die Fürstin Bismarck, mit welcher ich mich heute nach dem Diner längere Zeit unterhielt, glaubt erstens an

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eine große ultramontane Mordverschwörung, wo täglich neue Attentate auf Order erfolgen können. Der armselige Tiroler Priester Hanthaler war wie Kullmann im Komplott; darauf will sie einen Glaubenseid leisten" usw.

Über dieser klerikalen Gefahr war dann nicht die Zeit da, das Deutsche Reich liberal auszubauen. Man war sicher stolz darauf, daß man bei der Feststellung der Heeresstärke das verlangte Äternat durch ein im Grunde dasselbe besagendes Septennat ersetzte; denn ob man das Budgetrecht für "ewig" oder über sieben Jahre beseitigen ließ, war ein unerheblicher Unterschied. Und Bennigsen, der Vater dieses Kompromisses, wußte sehr gut, wie tief der monarchische Militärabsolutismus in Preußen eingefressen war. Schrieb er doch einmal (am 17. Dezember 1874) an seine Frau: "Soeben war ich auf einem Diner beim Kaiser, wo dieser sich mir dafür bedankte, daß wir die Offiziers- und Löhnungsverhältnisse der Garderegimenter intakt gelassen hätten ... Er könne sich doch jetzt vor seinen Garden wieder sehen lassen. Solche Dinge nimmt doch auch ein ungewöhnlicher Fürst, wie der alte Kaiser, seltsam persönlich."

Gleich unheilvoll war die liberale Kompromißsucht in den Justizgesetzen. Willig unterwarf man sich dem sich steigernden Anspruch Bismarcks, den linken Flügel der Nationalliberalen zu unterdrücken. So kam denn das unerhörte Schauspiel zustande, daß nicht nur der Führer der Partei, die Jahre hindurch sowohl im Reichstag wie im Landtag (Bennigsen war Präsident des preußischen Abgeordnetenhauses) die stärkste und schlechterdings ausschlaggebende Partei war, einmal in spottender Wehmut äußern konnte, daß die richtige konstitutionelle Theorie in diesem Jahrhundert nicht mehr vollständig realisiert werden würde (Brief vom 16. November 1873), sondern daß auch sein feiernder Biograph bekennen muß: "Von

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einer nationalliberalen Ära der siebziger Jahre im allgemeinen kann man nicht sprechen. Weder haben die Führer der Fraktion selbst an der Leitung der Geschäfte teilgenommen, noch hat die Politik im Reich und in Preußen sich in den Linien des nationalliberalen Programms bewegt." in der Tat war der höchste Erfolg Bennigsens, daß er einmal zum Nachfolger Bismarcks ernannt wurde, - aber nur von der "Wiener Neuen Freien Presse"!

Über den Kulturkampf verzichtete man auf die liberale Rechtsausgestaltung des neuen Reiches. Und als nun 1877/78 auch die liberale Wirtschaftspolitik verlassen werden sollte, warf Bismarck den Liberalen eine andere Schreckpuppe hin: die Arbeiterbewegung. Wieder wirkten die Liberalen, bewußt der Lüge, an dieser ablenkenden Politik Bismarckschen Terrors mit. In solchem äußersten Frevel ist denn der deutsche Liberalismus völlig verwest.

IX.

Der deutsche Liberalismus hatte am Ausgang seiner parlamentarischen, zahlenmäßig gegebenen Macht nur noch eins zu verlieren, den Lebens- und Wesenskern der liberalen Weltanschauung: die Erkämpfung und Verteidigung der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit. Diese Seele ihm aus der Brust zu reißen, war die Aufgabe Bismarcks, als er sich entschloß, mit den Nationalliberalen zu brechen oder, besser, den deutschen Liberalismus vollständig zu zerbrechen; was er als äußerlicher Freund der Nationalliberalen begonnen hatte, wollte er nunmehr als ihr Gegner vollenden. Es war die Zeit der agrarisch-schutzzöllnerischen Wendung in der Wirtschaftspolitik, als der Gewaltige sich entschloß, die Nationalliberalen an die Wand zu drücken, daß sie Sauce gäben! (So soll die vornehme Wendung in Wirklichkeit gelautet haben.) Diesem Bismarckschen Pogrom gegen die Liberalen

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ging ein Kaufversuch Bennigsens voraus, die ernsthafteste Verhandlung wegen Übernahme eines preußischen Ministerpostens.

Man konnte noch im Zweifel sein, ob nicht schon mit ihrer Zustimmung zu den Kulturkampfgesetzen die Liberalen die bürgerlichen Rechtsgleichheit verlassen hatten. Immerhin waren das eher Spezialgesetze gegen eine bestimmte Institution (wie etwa ein Börsengesetz), als Ausnahmegesetze. An dem Ausnahmecharakter des Sozialistengesetzes aber war kein Zweifel; es richtete sich gegen eine ganze Weltanschauung, gegen ei ne Klasse, gegen eine Partei. Gerade diesen Bruch der Verfassung, der Rechtsgleichheit diese Peitschung der Liberalen, mit denen er solange zusammengearbeitet hatte, wollte Bismarck. Als die Liberalen ihm ihre Bedenken gegen den (ersten) Entwurf äußerten, beharrte Bismarck auf seiner Ansicht - wie sein ehemaliger Chef der Reichskanzlei, Tiedemann, berichtet -, "daß man die Sozialdemokratie nur wirksam ins Herz treffen könnte, wenn man berechtigt sei, über die Barrieren hinwegzusetzen, die die Verfassung in übergroßer doktrinärer Fürsorge zum Schutze des einzelnen und der Parteien in den sogenannten Grundrechten errichtet habe". In Wahrheit meinte er: daß man die Liberalen nur wirksam ins Herz treffen könnte. "Das war die Kriegserklärung gegen den liberalen Geist, mit dem zusammen er die Verfassung des reiches aufgebaut hatte," bekennt Oncken.

Es gibt keine Veröffentlichung, in der die ganze Verruchtheit des Bismarckschen Spiels mit dem roten Schrecken so erschreckend grell hervorgeht, wie aus dem Bennigsen-Werk. Die Niederhetzung der großen Masse des Volkes war für den infamsten aller Terroristen nur ein taktisches Manöver. Man kann die Fäden dieser Verschwörung jetzt genau verfolgen.

Das Sozialistengesetz diente Bismarck dazu, einmal

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die liberale Partei zu sprengen, ihre Linke in die Opposition zu drängen, ihre Rechte als wehrlose Regierungspartei zu knechten. Zugleich galt es, gegen den Liberalismus die eigene Gefolgschaft aufzuhetzen. Das konnte auf keine Weise bequemer geschehen, als durch die Aufreizung der brutalsten großbürgerlichen Klasseninstinkte gegen die Arbeiterbewegung. Bismarck stellte mit diabolischer Kunst die Liberalen vor die Entscheidung: entweder liberal zu bleiben, die Verfassung zu achten, das Ausnahmegesetz abzulehnen und dann das liberale zahlungsfähige Gefolge zu verlieren, oder sich Bismarck zu beugen und damit den Liberalismus zu verlieren. Auf beiderlei Weise ward der Weg frei, die letzten Regungen eines politischen bürgerlichen Parteiidealismus zu vernichten und die Partei umzuwandeln in eine nackte Interessenvertretung von Berufsgruppen, denen das Parlament nur eine Tribüne der unmittelbaren Geschäftsförderung war: so konnte die Schutzzollpolitik möglich werden, gegen die sich ja auch die Arbeiterschaft

- durch das Ausnahmegesetz niedergeworfen - nicht wehren können sollte. Mit dem Sozialistengesetz begann jene Auflösung bürgerlicher Parteien in reine Geschäftsagenturen, die wir heute vollendet sehen. Es begann die Entpolitisierung des Bürgertums, die wieder anfing, noch ehe es zur Politik recht gereift war.

In dieses Intrigenspiel der Jahre 1877/78 platzt das Hödelsche Attentat so zur rechten Zeit hinein, wie auf das Stichwort im Komödienspiel, daß an einen Zufall zu glauben, das Bekenntnis zum Wunder zumuten hieße. Man wird den Verdacht nicht los, daß der höchst wahrscheinlich blind geladene Revolver des christlich-sozialen Narren ihm von Leuten in die Hand gesteckt war, die das Attentat brauchten. Das zweite ernste Attentat läßt sich durch den Nachahmungstrieb von Geisteskranken erklären, das die Re-

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gierung denn auch weit mehr - freudig - überraschte, als das erste, auf das man geradezu vorbereitet zu sein schien.

- Die "Gefahr der Sozialdemokratie" taucht erst genau in dem Augenblick auf, als der Terror gewünscht wurde. Auf all den Hunderten von Blättern des Bennigsen-Werkes, die vorausgehen, findet man nicht die leiseste Andeutung, daß der Führer der Nationalliberalen von dieser Gefahr etwas wußte. Über seine jugendlichen Sympathien für den utopischen Sozialismus war er freilich längst hinausgekommen, aber ein gewisses Verständnis für soziale Fragen, auch für die Arbeiterbewegung, war ihm geblieben. Jetzt sollt e er plötzlich nicht nur an die rote Gefahr glauben, sondern sie auch durch Preisgabe der elementaren liberalen Grundsätze zu bannen versuchen. Aber Bennigsen glaubte nicht an den Popanz' sondern er wußte vielmehr ganz genau, daß Bismarck den Liberalismus treffen wollte; und dennoch beugte er sich schließlich dem Bismarckschen Terror.

Mit den Reichstagswahlen von 1877 hatte der Zerfall der Nationalliberalen, der Aufstieg der Konservativen begonnen. Die nationalliberale Fraktion zählte immerhin noch 127 Mitglieder. Die Abrechnung mit den Nationalliberalen wurde eingeleitet durch Verhandlungen mit Bennigsen über seinen Eintritt ins Ministerium. Diese Verhandlungen sind zumeist, so namentlich von Eugen Richter, als ein nicht ernst gemeintes Manöver aufgefaßt worden, die den späteren jähen Bruch aus nationalliberalem Verschulden erscheinen lassen sollten. Das vorliegende Material zwingt, diese Auffassung preiszugeben. Bismarck wollte wirklich den einflußreichsten Mann des Liberalismus aus seiner Partei herausholen, und indem er ihm das Polizeiministerium anbot, wo jeder Mensch konservativ regieren muß - der liberale Bennigsen hätte gleich das Sozialistengesetz machen dürfen! -,

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hätte Bismarck den Liberalismus zugleich regierungsfähig und unschädlich gemacht. Der Plan scheiterte einmal an Bennigsen, der klug genug war, als Bedingung seines Eintritts den gleichzeitigen Eintritt zweier anderer Liberalen zu fordern und an der greisenhaften Halsstarrigkeit Wilhelms I., der wieder ganz zum Kartätschenprinz geworden war und in jedem Liberalen einen Revoluzzer sah. Als dem Kaiser die Verhandlungen mit Bennigsen zugetragen wurden, schrieb er dem Kanzler einen aufgeregten und groben Brief. Er verlangte von Bismarck, daß er die Gerüchte dementiere, "da niemand besser weiß, als Sie selbst, daß Sie mir keine Silbe über diesen Gegenstand mitgeteilt haben". "Dies hat mich denn doch in einem Maße frappiert, daß ich anfangen muß, zu glauben, es sei wirklich etwas derart im Werke, von dem ich gar nichts weiß." Der Brief schloß: " Ich muß Sie also ersuchen, mir Mitteilung zu: machen, was denn eigentlich vorgeht? Was Bennigsen betrifft, so würde ich seinen Eintritt in das Ministerium nicht mit Vertrauen begrüßen können, denn so fähig er ist, so würde er den ruhigen und konservativen Gang meiner Regierung, den Sie selbst zu gehen sich ganz entschieden gegen mich ausgesprochen haben, nicht gehen können." Damit war denn der Plan für Bismarck erledigt, ohne daß er es für nötig hielt, Bennigsen von dieser Wendung in Kenntnis zu setzen. Bismarck hat in seinen "Gedanken und Erinnerungen" diese Vorgänge geflissentlich falsch dargestellt - eine Kunst der Fälschung, die Oncken mit der bewundernden Wendung umschreibt: "Er macht Geschichte, auch wenn er Geschichte schreibt."

Solange die Verhandlungen zwischen Bismarck und Bennigsen noch schwebten, solange also der Plan noch nicht gescheitert war, den rechten Flügel der Liberalen für die neue Wirtschaftspolitik hinüberzuziehen, wurde mit dem roten Schrecken noch nicht gearbeitet.

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Erst als Bennigsens Kandidatur unmöglich geworden war, begann das Spiel mit dem Umsturz.

Die nationalliberale Fraktion beschloß einstimmig, das erste Ausnahmegesetz abzulehnen. Bennigsen deutete in seiner Reichstagsrede vom 23. Mai 1878 an, "daß es bei dieser Vorlage weniger abgesehen gewesen ist auf wirksame Maßregeln gemeinschaftlich mit dem Reichstag gegen die Sozialdemokratie, als auf anderweitige politische Coups". Bennigsen verzichtete in dieser bedeutsamen Rede nicht auf Umsturzgeschrei und Klagen über sozialdemokratische Ausschreitungen, aber er weigerte sich, den Boden des gemeinen Rechts zu verlassen - seien denn "die Zustände in Deutschland auf einmal über Nacht so verhängnisvoll geworden, daß wir zu diesem äußersten und verzweifelten Mittel greifen müssen" - und er bewies sein Verständnis für den Sozialismus: "Unter diesen Zielen sind nun viele, von denen, ich möchte sagen, jeder Menschenfreund, jede wohlmeinende Regierung einen Teil auch unter ihre Aufgaben aufnimmt ... Wir haben auch gesehen, daß Ziele der Sozialdemokratie, wo es sich um Schonung der Gesundheit der Arbeiter, um Schutz der Frauen, der Kinder gegen Ausbeutung durch die Fabrikanten handelt - daß ebenso wie die Gesetzgebung anderer Länder auch die deutsche Gesetzgebung sich mit Aufgaben beschäftigt, die zugleich von den Sozialdemokraten unter ihre Ziele aufgenommen sind." Auch bekundete er Einsicht in die geschichtliche Wandlung aller wirtschaftlichen Produktionsformen.

Dann kam das Attentat Nobilings. Das erste Wort Bismarcks war: "Jetzt habe ich sie - jetzt lösen wir den Reichstag auf." Die "sie" waren die Nationalliberalen. Wir kennen die verschiedenen Entwürfe, die Bismarck bei der Reichstagsauflösung als Wahlanweisung für die Behörden ausarbeitete. Das Aktenstück wurde immer aufs neue so korrigiert, daß die

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Sozialdemokratie nahezu verschwand, und der linke Flügel der Nationalliberalen an ihre Stelle trat. Bennigsen wußte wohl, daß auch der zweite Entwurf ganz andere Zwecke verfolgte, als er vorspiegelte. Noch am 15. September 1878 schrieb er an seine

Frau: Die nationalliberale Fraktion werde sich bei der ersten Lesung möglichst reserviert halten, "da ihr die Entscheidung schließlich zufallen wird und wir auch gar nicht wissen was Bismarck eigentlich will, das heißt, ob es ihm darum zu tun ist, ein Sozialistengesetz zustande zu bringen, oder ,uns an die Wand zu drücken', wie sein beliebter Ausdruck sein soll." Dennoch unterhandelte er mit Bismarck und er hat schließlich die Annahme möglich gemacht, nachdem die Laskersche Forderung der zeitlichen Begrenzung von Bismarck zugestanden war; mit dieser Konzession beschwichtigten die Liberalen ihr Gewissen, in ihrer ewigen Kompromißpolitik hatten sie ganz das Gefühl verloren für den Schimpf und die Dummheit dieses Frevels. Sie wollten sich eben nicht ausschalten lassen, und so verteidigte Bennigsen, was er wenige Monate vorher verurteilt hatte. Damit begann der Zusammenbruch des Liberalismus. Das Ausnahmegesetz war, so gesteht Oncken' "vom liberalen Standpunkt eine weit größere Aufgabe ihrer Ideale, als der Partei bisher jemals zugemutet worden war".

X.

Die Bismarcksche Politik der achtziger Jahre hat zwei Jahrzehnte später durch den zwerghaften Plagiator des ersten Kanzlers, durch den Fürsten Bülow, ihre lächerliche Nachäffung gefunden. Die Reichsfinanzreform von 1909 hat ihr Vorspiel in der ersten großen Reichsfinanzreform von 1879. Zugleich mit dem Sozialistengesetz vollzieht sich die Abrüstung des Kulturkampfes und die Bildung des schwarzblauen Blocks, der Verbindung von Konservativen und Zen-

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trum. Schon diese erste Finanzreform, mit der die Massenbelastung durch Zölle und indirekte Steuern beginnt, wird von Konservativen und Zentrum gemacht, und die Liberalen werden rücksichtslos hinausgeworfen.

Nicht als ob Bennigsen Bedenken gegen die Schutzzollpolitik gehabt hätte. Der Hinweis auf die alten englischen Kornzölle sei eine ungeheure Übertreibung; damals hätte der Zoll für Weizen 2-4 Mark betragen, jetzt werde für Roggen nur 25 Pfennige verlangt. "Glauben Sie", führt er beruhigend aus, "daß es möglich ist, in Deutschland Kornzölle auf die Dauer einzuführen, die eine wesentliche Verteuerung der Lebensmittel herbeiführen, glauben Sie, daß solche Kornzölle irgendeine politische Komplikation überleben würden? Nein, ein wirklicher Schutzzoll auf Getreide, wenn Sie ihn einführen wollten, wäre von vornherein zum Tode verurteilt, und es würde nur auf die Umstände und Gelegenheit ankommen, einige Jahre früher oder später, wann das Todesurteil vollzogen würde. Der Schutz, der darin für die Landwirtschaft liegen soll, ist eine reine Illusion." War Bennigsen also für einen kleinen mehr Finanz- als Schutzzoll zu haben, so war doch der rein freihändlerische Teil der Nationalliberalen stark, und alle waren einig, daß man das parlamentarische Einnahme-Bewilligungsrecht nicht preisgeben, ebensowenig das Reich abhängig machen dürfe von den Einzelstaaten. Daher der Antrag Bennigsens, gewisse indirekte Reichssteuern jährlich zu quotisieren. Bei diesem Punkte brach der Konflikt mit Bismarck aus. Die Führung übernahm Windthorst, Bennigsens alter Gegner aus der hannoverschen Zeit, und mit der Franckensteinschen Klausel kettete er das Reich an die Einzelstaaten. Im Reichstag geht das Präsidium von den Nationalliberalen auf die Konservativen über. Die nationalliberale Partei zerfasert sich, erst bröckelt

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sie rechts, dann links ab. Bismarck verfolgt und ver-

hetzt die Liberalen, die er zerbricht, nachdem er sie all die Jahre hindurch entnervt hat. Der Kanzler arbeitet mit zwei Mehrheiten. Er macht den Nationalliberalen antiliberale Politik und mit dem Zentrum antiliberale Wirtschaft. Frühzeitig taucht aber bei Bismarck auch schon der mittelparteiliche Kartellgedanke auf. Unmittelbar nach dem schroffen Bruch läßt Bismarck Bennigsen durch einen Vetter die Botschaft übermitteln (September 1880): Er solle den Sezessionisten (den Lasker und Bamberger) die Türe zumachen. "Mit nur negierenden Parteien kann die Staatsregierung nicht gehen. Ich hoffe (meinte Bismarck), daß eine Einigung zwischen der nationalen Partei und den Konservativen, natürlich ausgeschlossen der Kreuzzeitungspartei, stattfinden wird." Über die Schutzzollfrage werde man sieht, meint Bismarck, einigen: "Findet eine derartige Einigung nicht statt, so treiben wir dem Absolutismus direkt entgegen. Ein Wechsel im System der Verwaltung ist von der Nation bedingt, hat längere Zeit Freihandel stattgefunden, so wird durch die unvermeidlichen Auswüchse desselben dem Schutzzoll in die Arme gearbeitet, wird der Schutzzoll längere Zeit eingeführt sein, so wird auch hier wieder ein Wechsel naturgemäß werden."

Dem Manchestertum war Bennigsen nie ganz verfallen. Deshalb wird es ihm auch leicht, Bismarck in seinen sozialpolitischen Täuschungsversuchen zu unterstützen. Aber wie zaghaft und mißtrauisch ist man damals, während man heute es den Sozialdemokraten als Verbrechen anrechnet, gegen jene ersten Entwürfe gestimmt zu haben. Noch 1881 wandte sich Bennigsen in einer Magdeburger Rede gegen den Gedanken einer staatlichen Alters- und Invalidenversicherung: Der Staat müsse sich auf Aufstellung gewisser allgemeiner Normen und gesetzlicher Vorschriften beschränken,

26 Eisner, Gesammelte Schriften. I.

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könne das Werk aber nicht in die Hand nehmen, sondern müsse die Durchführung Privaten, großen Fabrikanten, Aktiengesellschaften, Gemeinden, größeren Kommunalverbänden und Korporationen überlassen; dem deutschen Charakter sei so etwas, was aussieht wie Sozialbureaukratie, ebenso fremdartig wie Sozialdemokratie. Und von der "herrlichen" kaiserlichen Botschaft von 1881, die von dem "engeren Anschluß an die realen Kräfte des christlichen Volkslebens" frömmelte, meinte gar Bennigsen in einem späteren Brief an Hammacher, Bismarck sollte "solche Schleudercoups, wie die lediglich auf Windthorst zugespitzte kaiserliche Botschaft ... unterlassen. Mit solchen Kunststücken kommt er nicht zum Ziel." Aber dem Manchestertum ist er doch geistig überlegen, und 1882 (15. Juni) äußert er gegen Bamberger über die sozialdemokratische Bewegung: "Ich glaube nicht, daß wir es hier mit einer Bewegung zu tun haben, die nur durch Agitatoren hervorgerufen und unterhalten wird; ich glaube, daß wir hier an einem Wendepunkt der ganzen Geschichte der zivilisierten Menschheit in Europa angelangt sind, wo es notwendig ist, zu prüfen, was in diesen Bewegungen, welche so ungeheure Massen schon an sich gerissen haben, der gesunde Kern ist und was nur an Auswüchsen durch revolutionäre und agitatorische Arbeit hinzugetan ist." Man erkennt das liberale Verhängnis, die ewige unheilbare Erkrankung am "gesunden Kern". So verbindet sich die Fähigkeit weltpolitischen Erkennens mit der Zustimmung zu allen Verlängerungen des Sozialistengesetzes.

Unterdessen ist Bennigsen zum Führer einer kleinen Mittelpartei geworden. Die Wahlen von 1881 haben die Nationalliberalen zerrieben. Bennigsen leidet längst unter politischem Ekel. Bisweilen flackert noch ein gewisser liberaler Trotz auf, so wenn er die politische Freiheit der Beamten gegen Bismarck verteidigt

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Wiederholt will er sich vom politischen Leben zurückziehen. 1883 führt er den Entschluß aus, er legt die Mandate zum Reichstag und preußischen Landtag nieder und bleibt bis 1887 den Parlamenten fern. In demselben Jahre verläßt auch Lasker Europa und stirbt in Amerika. Als das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten denn Reichskanzler eine Beileidsadresse zur Übermittelung an den Reichstag übersendet, lehnt Bismarck diese "Briefträgerrolle" ab und schickt die Adresse, die seinem liberalen Helfer zur deutschen Einheit huldigte, nach Washington zurück!

Die liberale Führung gleitet jetzt von Bennigsen auf Miquel über, den durch keinerlei Grundsätze mehr belasteten Geschäftsmann, der in allen kapitalistischen Wässern sich gebadet hat und als preußischer Agrarier endigt. Erst bei den Septennatswahlen von 1887 - der Militärkonflikt ist von Bismarck lange, seit

1884, vorbereitet, um angesichts des zu erwartenden Thronwechsels und des fortschrittlich spielenden Kaiser Friedrichs sich mit einer konservativ-liberalen Mehrheit zu gürten - tritt Bennigsen wieder hervor. Aber zu liberaler Betätigung hat er keinen Raum mehr. Der kleine liberale Lärm gegen das christliche Volksschulgesetz, für das die Liberalen im neuen Jahrhundert dann doch stimmten, ist nur eine Tagesepisode geblieben. Endlich schließt Bennigsen auch Frieden mit den Klerikalen, und in den schwarzen Block, den er früher für ein "verrücktes Projekt" erklärt hatte, tritt er selbst noch ein. Bei den Verhandlungen über das Bürgerliche Gesetzbuch teilt ihm Karl Bachem mit, daß dem Zentrum die Zustimmung zu dem "großen nationalen Werk" nur durch "den selbstlosen Beirat der Jesuiten" möglich werde; Bennigsen solle nun dankbar für die Aufhebung des Jesuitengesetzes eintreten. Dies hübsche Aktenstück klerikaler Politik wird freilich von Bennigsen ablehnend beantwortet.

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Wie Schattenbilder gleiten die letzten Jahrzehnte flüchtig vorüber: Der Leichenhandel um Kaiser Friedrich, der Regierungsantritt Wilhelms II. (der Bennigsen gleich zum Oberpräsidenten von Hannover macht und Miquel das Oberpräsidium der Rheinprovinz anbietet, um seinen Liberalismus zu beweisen), Bismarcks Sturz, Caprivi, die Handelsverträge, die Umsturzvorlage, Hohenlohe, die Zuchthausvorlage. Die mitgeteilten Urkunden sind sehr instruktiv für die Erkenntnis der wirklichen politischen Beziehungen, die zum Beispiel Bennigsen mit dem Finanzminister Miquel verbinden , manche öffentliche Legende wird durch diese vertrauten Äußerungen vernichtet. Aber der Herausgeber hat hier sehr vorsichtige Auswahl getroffen; so teilt er nur einen Brief über die Zuchthausvorlage mit, der freilich schon beweist, daß Bennigsen hinter der Büsinggruppe stand, die den Kadaver zu retten versuchte. So sehr war Bennigsen jenseits aller liberalen Grundsätze abgeglitten, - trotz gelegentlicher Sehnsüchte nach einem kräftigen einheitlichen Gesamtliberalismus und obwohl es ein gütiges Geschick gefügt hat, daß er am Ende seiner politischen Laufbahn seine Entlassung als Oberpräsident nehmen mußte, weil er im Reichstag im Sommer 1897 für die Aufhebung des Vereinsverbindungsverbots (Antrag Rickert) gestimmt hatte, der sich gegen das preußische Vereinsgesetz richtete.

Im Kompromiß vollzog sich der Untergang des deutschen Liberalismus. Dennoch will Bennigsens Biograph gerade in dieser Vorurteilslosigkeit die staatsmännische Bedeutung seines Helden erkennen. Diese Ausführungen sind offenbar in den Honigmonden des Bülowblocks geschrieben, und der Verfasser hat sie später herauszukorrigieren vergessen, - das Lob "positiver Politik", die eben nur gerade für die liberalen Ideen ganz und gar negativ bleibt.

Versöhnend wirkt menschlich, wie der - am

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Schluß seines Lebens durch schweres Familienmißgeschick bedrängte - Mann nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik als greiser Student wieder zu den Füßen der Göttinger Professoren saß und Naturwissenschaften studierte. Und so beweist wohl dieser Ausgang eines tätigen, reich bewegten und doch innerlich unfruchtbaren Lebens wieder die Gemeineigentümlichkeit des deutschen Bürgertums und seiner vornehmsten Vertreter: weitschauende Ideen zu spinnen, um sie in der Praxis des Lebens zu verlieren. Das war Bennigsens Schicksal und zugleich das des deutschen Liberalismus, der mit seinem bedeutendsten Führer aufstieg, zerrann und endigte.

[1910.]

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