Der Sultan des Weltkrieges.

I.

Auswärtige Politik in der deutschen Sozialdemokratie.
Persönliche Erfahrungen.

Am 30. Mai 1905 wurde der Reichstag plötzlich in die Ferien geschickt. Der deutsche Sommerschlaf begann, der von der Fortsetzung im gewohnten Winterschlaf sich dadurch unterscheidet, daß man in jenem schweigend träumt, in diesem aber sehr redselig aus dem Schlafe spricht.

Bald darauf erhielt ich von französischen Parteifreunden einen angstvoll beschwörenden Brief, der mir erklärte, warum der Reichstag vom Grafen Bülow beseitigt worden war: Der Kanzler wünschte ungestört mit dem Weltkrieg zu spielen. In solchen Zeiten kann man das Parlament nicht brauchen (auch 1914 nicht!). In Berlin wußte niemand - außerhalb des engen Zirkels der Pangermanisten, der hohen militärischen "Domköpfe", der führenden Rüstungs- und Schwerindustriellen -, daß sich irgend etwas Besonderes auf der Weltbühne vorbereitete. Der Pariser Brief, der mir die unmittelbare Gefahr des Ausbruchs eines Weltkrieges bewies und aus dem schaudernden Gewissen der Humanität das deutsche Proletariat um Hilfe anflehte, war für mich eine furchtbare Erschütterung. So also kam für uns der Weltkrieg, wie der Einbrecher in der Nacht, während wir ahnungslos uns im Bette streckten. In jenem Augenblick stand es für mich fest, daß die deutsche Weltpolitik nicht nur rhetorische Romantik sei, nicht nur schwärmende Ägirlogik und dilettierendes

326

Nibelungen-Ästhetentum, auch nicht nur unerschöpfliches Lieferungsgeschäft.

Auf meine Anregung luden die Berliner Partei-genossen Jaurès zu einer Versammlung ein. Jaurès sagte sofort zu. Aber Bülows Ausweisungsdrohung sperrte dem Sendboten des Völkerfriedens die deutsche Grenze. Die gleichzeitig geplante Reise August Bebels nach Paris scheiterte an dem Widerstand des deutschen Parteiführers; er war Aktionen abgeneigt, die ohne sein Zutun unternommen waren: er rebellierte zwar gern gegen "Instanzen", vorausgesetzt, daß er nicht selber diese Instanz war, in der ihm die Identität von Person und Sache mehr und mehr unlösbar verkörpert schien. Im Vorwärts erschien dann Jaurès' ungehaltene, aber auch im gedruckten Wort überwältigende Berliner Rede.

Seit jenen erregenden Wochen wußte ich, daß der Weltkrieg wie ein unentrinnbares Verhängnis sich heranwälzte, ungeschlacht, unbemerkt, unaufhaltsam. Ich war mir klar, daß das im eigenen Lande insgeheim gemästete Ungeheuer ein völlig ahnungsloses Volk eines Tages überfallen würde. Ich bemühte mich, die Gleichgültigkeit der deutschen Arbeiterschaft gegen die auswärtige Politik, soviel an mir lag, zu überwinden. Das war ein hoffnungsloses Beginnen. Das ganze deutsche Volk wußte nichts von auswärtiger Politik, wollte nichts wissen. Die Presse verarbeitete und verbreitete lediglich das Vorzimmergewäsch des auswärtigen Amtes wie Theaterreklamen der Direktorenbureaus; diese Dramaturgen der auswärtigen Politik und ihre gefälligen Preßhelfer sitzen zu oberst auf der Bank der Verantwortlichen. Im deutschen Reichstag wurde niemals eine Rede über Probleme der internationalen Politik gehalten, die von selbständigem Studium der Probleme zeugte. Als bester Kenner galt grundloserweise Herr v. Hertling, der es freilich verstand, nicht ohne elegante Bosheit den

327

Herrn v. Bülow kasuistisch in seiner Marokko-Blöße zu demonstrieren, aber gerade in dieser wirksamen Rede bewies, daß ihm die Kenntnis elementarer Dinge abging. Als einmal ein Parteijournalist in fremden Parlamentsakten las und einiges übersetzte als Material für die Etatsrede eines sozialdemokratischen Vertreters, erschien dieser Redner den Regierungskommissaren als ein unheimlicher Kenner und unterirdischer Inspirister, den sie fortan staunend und beklommen schätzten und fürchteten; diese zwar leicht beschaffte, aber unerhörte Aktenkenntnis wurde der Beginn seines späteren Aufstiegs.

Mit dem November 1905 verlor ich den Vorwärts als Tribüne für meine Bestrebungen; die bekannten Vorgänge veranlaßten mich, die Redaktion niederzulegen. Das französische Gelbbuch über die Marokkoaffäre war erschienen und enthüllte die possenhaften Teufeleien der deutschen Diplomatie. In Berlin kannte und besaß niemand das Heft; auch die Parlamentarier nicht. Ich bemühte mich umsonst, mir das Gelbbuch zu verschaffen. Schließlich nahm ich die Dienste des französischen Botschafters Bihourd in Anspruch, der mir dann aus Paris ein Exemplar beschaffte. Anfangs des Jahres 1906 veröffentlichte ich die Geschichte der Marokkokrisis unter dem Titel: "Der Sultan des Weltkrieges. Ein marokkanisches Sittenbild deutscher Diplomatenpolitik." Es war wohl, in der neueren Zeit der deutschen Sozialdemokratie die erste Broschüre, die sich mit den konkreten Vorgängen der auswärtigen Politik beschäftigte. Jaurès interessierte sich für die Arbeit, in Deutschland blieb sie gänzlich unbeachtet. Der Vorwärtskonflikt ward Anlaß, daß mein Name und meine Sache wochenlang durch die gesamte Presse geschleift wurde; mein Bemühen, zu gleicher Zeit die Hirne und Gewissen zu den katastrophalen Weltfragen der Gegenwart aufzuraffen, zerrann spurlos - innerhalb und außerhalb

328

der Partei. Der Broschürenballen blieb in ungestörter Ruhe beim Verleger liegen. Zehn Jahre später, im Weltkrieg, begann man das Pamphlet zu lesen; es brachte manchem jähe Aufklärung. Heute ist es vergriffen.

Mir genügte aber nicht das gedruckte Wort. Als ich sah, daß sich niemand um diesen düster drohenden Verhängnisprozeß kümmerte, entschloß ich mich, meine Scheu vor öffentlichem Zurschaustellen zu überwinden. So kam es, daß ich mit vierzig Jahren meine erste Volksversammlungsrede hielt. Ich sprach über die Marokkopolitik. Vom ersten Wort fühlte ich den passiven Widerstand der Hörer. Das waren alles Dinge, die weit außerhalb ihres Interesses lagen. Und daß es mal Krieg geben würde, nun das wußte man ja ohnehin längst; übrigens hatte das noch Zeit, sich damit zu beschäftigen: der Krieg gehört zu den vielen Glaubensartikeln, an die man - nicht glaubte, oder vielleicht richtiger: an die man sich so als Versammlungs- und Zeitungsphrasen gewöhnt hatte, daß sie wesenlos geworden waren. In den Jahrzehnten der sozialdemokratischen Agitation war auch der Krieg, wie vieles andere in unserer Parteitätigkeit, zum bloßen dekorativen Wort verblaßt, das die Phantasie und den Willen nicht mit seiner Realität erfüllte. Man nahm nichts mehr ernst außer die allernächsten und allergröbsten Sorgen. Das radikal-ideale Bedürfnis befriedigte man in der Schwärmerei für Revolutionen, die andere Völker machten. Dafür bezahlte man auch begeistert und saß auch mit leidenschaftlicher Hingabe im Theater, um sich Revolutionsstücke vorspielen zu lassen. Ich gab gelegentlich das Rezept für eine deutsche Revolution: Man solle einige Zehntausend ausländischer Proletarier beschaffen und sie bei uns gegen anständige Diäten - unsere Kassen waren ja immer in Ordnung und Fülle - Revolution machen lassen. Es ist doch ein sehr merkwürdiges Kapitel der

329

Völkerpsychologie, wie ähnlich die geistige Entwicklung des deutschen Proletariats der des deutschen Bürgertums in seiner idealistischen Periode war.

Als ich dann die Leitung des Nürnberger Parteiblattes übernahm, ging ich mit zäher Konsequenz daran, es zu einem Organ weltpolitischer Aufklärung zu machen. Das ging eine Weile ganz gut. Eines Tages aber gab es eine - sehr wohlwollende und freundschaftliche - Auseinandersetzung in der Preßkommission: Man sei doch ein deutsches, insbesondere ein bayrisches und ganz speziell ein Nürnberger Blatt, was sollten da die ewigen Artikel über auswärtige Politik. Es war die allgemeine Meinung. Ich antwortete, ich könnte keine Besserung versprechen, ich würde so fortfahren. Bald darauf trat die bosnische Annexionskrisis ein. Die Weltkriegsgefahr reckte sich blutig und nah empor. Jetzt fühlten auch die Massen seine Schauer. In der Preßkommission gab es für mich eine Überraschung. Es erhob sich einer und stattete mir den einmütigen Dank der Partei-genossen ab. Man habe eingesehen, daß die frühere Kritik an meiner Redaktionsführung falsch gewesen sei, sie hätte einen weiteren Blick bewiesen als sie selbst gehabt hätten. Diese ehrliche Bekehrung und ihr offenes Geständnis gehört zu meinen liebsten Parteierinnerungen, wenn auch mit dem Vorübergehen der Katastrophe das Interesse an der auswärtigen Politik wieder erlosch. Auf dem Leipziger Parteitag der Sozialdemokratie aber wurde ein Ulkblatt verbreitet, in dem die Nürnberger diplomatische Weltpolitikasterei und Kriegsprophetie verspottet wurde; der leitende Redakteur der Leipziger Volkszeitung war damals Herr Lensch!

Ich erzähle diese persönlichen Erfahrungen nicht, um mich zu rühmen, als ob ich in diesen Dingen eine besondere Leistung vollbracht hätte, sondern um aus der Kenntnis der inneren Vorgänge und Verhältnisse

330

begreiflich zu machen, wie die Partei dann, als die Katastrophe eintrat, jene Politik trieb, die zum Weltverhängnis wurde. Der Krieg überraschte sie, traf sie unvorbereitet, geistig völlig ungerüstet. Schließlich konnte es gar nicht anders sein. Die deutsche Verfassung ist eine Fiktion. In ihr leben, sie dulden, heißt auch die Massenpolitik zur Fiktion werden lassen. Erst wenn das Volk über sich selbst bestimmt und verantwortlich über sich entscheidet, können die Probleme der Politik zum triebkräftig bestimmenden Inhalt des wirklichen Lebens werden, des lebendigen Wirkens der Köpfe, Willen und - Arme.

Als urkundlicher Beleg für diese persönlichen Erinnerungen seien aus meiner Marokko-Broschüre von 1906 das Vorwort und das Schlußkapitel wiedergegeben.

[September 1918.]

II.

Vorwort.

Diese Flugschrift ist bestimmt. dem deutschen Proletariat und der deutschen Öffentlichkeit den Inhalt des französischen Gelbbuchs über Marokko zugänglich zu machen. Ich kenne keine Sammlung von diplomatischen Aktenstücken, die auf so erbarmungslose Weise das gemeingefährliche Wesen aller Weltpolitik bloßlegt, einer Weltpolitik, die aber zugleich in der deutschen Fassung den Schrecken mit dem Unsinn vereinigt. Keine Regierung eines zivilisierten Staates, in dem das Volk sein Geschick leitet, wäre nach derartigen Enthüllungen nur eine Stunde möglich. Bei uns hat es die durchweg von Galopins des Auswärtigen Amtes korrumpierte bürgerliche Presse erreicht, daß man in Deutschland nicht einmal ahnt, was geschehen ist; nur in der "Zukunft" wurden etliche Notwendigkeiten schart gesagt. Die Lächerlichkeit des deutschen Weißbuchs hat vollends die Un-

331

geheuerlichkeiten dieser Politik der Wirrnis und des Verderbens entblößt. Wenn es nicht mehr zu bezweifeln ist, daß Europa in den letzten zwölf Monaten zweimal, vielleicht dreimal, vor der unmittelbaren Gefahr eines Krieges stand, in den die Proletarier gegeneinander gehetzt werden sollten, ohne daß sie wußten, aus welchem Grunde und zu welchem Zweck, so ist es wahrlich Zeit, daß die Sozialdemokratie hüben und drüben rücksichtslos die Tollheiten einer frevelhaften und dabei zwecklosen Politik brandmarkt, die die inneren Tendenzen des Kapitalismus in blinden und perversen Leidenschaften ausprägt. Wir wollen uns endlich ein Vaterland erobern, indem wir es von der Tyrannei des blutigen Zufalls erlösen.

Die internationale Politik ist in Deutschland der Beeinflussung, ja selbst der Kontrolle und Kritik der Nation entzogen, die auf dem Proletariat ruht. Der Bundesrat versagt stets gegenüber der preußischen Barbarei, die Einzelstaaten, insonderheit Preußen und Sachsen, schließen das Volk von der politischen Mitarbeit aus, auch die Reichsverfassung ist immer noch nur eine Verkleidung des Absolutismus, in der man ein wenig das Recht hat, die eigene Ohnmacht zu kritisieren. So ist auch der Marokko-Skandal letztes Endes für Deutschland eine Wahlrechtsfrage, und es erhebt sich immer bedrohlicher die Entscheidung: Freie demokratische Selbstbestimmung oder Völkerkrieg.

Unsere Parteigenossen in Frankreich halten mit bewunderungswürdiger Selbstentsagung und großem Erfolg i h r e Diplomatie, als die Sachwalter des republikanischen Kapitalismus und Militarismus, am Zügel. Es ist unsere Pflicht, im Deutschen Reiche endlich die Hand zu legen auf die Entscheidung über unser Leben.

[Am preußischen Wahlrechtssonntage,

21. Januar 1906.]

332

III.

Ergebnis.

Wie eine läppische Phantasie aus Grauen und Gelächter ist dieser Marokkohandel in nüchternen Aktenstücken an dem Leser vorübergezogen, und er wird des öfteren den Zweifel nicht haben zurückdrängen können, ob denn das wirklich alles wahr sei.

Drohte wirklich der blutigste Völkerkrieg, den Europa jemals gesehen? Und warum? Wegen Marokko! Ja, nicht eigentlich einmal wegen Marokko, sondern wegen - ja, das ist nicht so einfach zu sagen.

Die deutsche Marokkopolitik hätte vom Standpunkt eines abenteuernden und brutalen Imperialismus wenigstens noch Zweck und Sinn, wenn Deutschland wirklich beabsichtigte, auf irgendeine Weise über Marokko in den Kreis der Mittelmeerstaaten einzudringen, wenn der Admiral des atlantischen Ozeans ein realer Begriff zu werden begehrte, nachdem freilich der Admiral des stillen Ozeans ganz still geworden ist. Eine solche Politik würde eine internationale Revolution bedeuten, wäre aber dann wenigstens aus den Tendenzen der kapitalistischen Weltraubpolitik zu begreifen. Aber Deutschland denkt ja, so schwört es, an nichts dergleichen, es tut auch nichts, um solche Pläne zu verwirklichen.

Warum also hat die deutsche Regierung nun das Schwert aus der Scheide ziehen wollen? Erinnern wir uns:

Erstens: Weil sie den französisch-englischen Vertrag nicht in einem besonderen an sie adressierten Briefe erhalten hatte. Aber sie kannte ihn schon vor der Veröffentlichung.

Zweitens: Weil die Souveränität des Sultans von Marokko auf alle Fälle geschützt werden muß. Aber der Sultan ist niemals Souverän im Vollbegriff des Wortes gewesen, sein Rest von Souveränität dient

333

nur zum Verderben des Landes, und Deutschland selbst wollte, wenn es sein müßte, durch einen Krieg, den Sultan unter die Vormundschaft einer - internationalen Konferenz stellen.

Drittens: Weil Herr Taillandier ein europäisches Mandat behauptet habe. Aber er hat es bestritten und maurische Despoten sind schlechte Zeugen.

Viertens: Weil die Handelsfreiheit und die deutschen Interessen in Marokko geschützt werden müssen. Aber diese Handelsfreiheit ist garantiert, und diese Interessen existieren nicht.

Fünftens: Weil dem Sultan von Deutschland Versprechungen gemacht worden sind. Aber diese Versprechungen, wenn sie wirklich erfolgt sein sollen, sind von keinem verantwortlichen Vertreter der Reichsgewalt gegeben worden. Die Nation haftet nicht für persönliche Zusicherungen eines einzelnen.

Sechstens: Weil nicht geduldet werden könne, daß Frankreich in Marokko eine singuläre Stellung beanspruche. Aber die deutsche Regierung hat schließlich wiederholt dieses Recht anerkannt.

Siebentens: Weil Frankreich erst die Konferenz annehmen und dann über ihr Programm verhandeln sollte, während Frankreich meinte, sie müsse erst den Zweck der Konferenz kennen lernen, ehe es für die Konferenz sich erklären könnte. Aber auch hier hat Deutschland schließlich durch die Tat den französischen Anspruch anerkannt.

Achtens: Weil Deutschland für Gleichberechtigung aller Nationen, für die Integrität in Marokko und gegen alle Annexionspolitik ist. Aber was liegt ihm dann überhaupt an Marokko?...

* * *

Das sind die Gründe, die von der Regierung des Fürsten Bülow öffentlich und amtlich als einzige Motive und einzige Zwecke ihres, selbst zum Kriege

334

entschlossenen Vorgehens bezeichnet wurden. Kann man sich vorstellen, daß irgendein Ausländer an solche Art zu regieren glaubt? So niedrig mag auch der Feindseligste nicht von der Regierung eines großen Kulturvolkes denken. Weltkriege provozieren, fortwährend mit den Waffen drohen, ohne irgendein Machtziel - nein, das ist selbst der Regierung des Fürsten Bülow nicht zuzutrauen. Nein, die reichlich albern ersonnenen deutschen Vorwände müssen nur machiavellistische Kniffe sein - so ist man überall überzeugt. Wozu baut sich Deutschland denn auch sonst seine Riesenflotte! Und man studiert die alldeutschen Marokkopläne, und diesen Text legt man den friedlichen Flötenliedern der deutschen Regierung unter, um zu erklären, warum die harmlosen und idyllischen Hirtengesänge auf einmal ohne sichtbaren Grund in wildem Schlachtenlärm endigen.

"Marokko verloren?" - so betitelt sich im Sommer 1904 "ein Mahnwort in letzter Stunde" von einem alldeutschen Rechtsanwalt Claß.

"Wir sehen uns übergangen, " schrie der Germane schmerzbewegt. "Auf eine Stufe mit Spanien gestellt, sehen wir uns betrogen um einen Besitz, auf den wir ebenso viel Anspruch hatten wie Frankreich - dies alles, obgleich dereinst verkündet wurde, keine große Entscheidung darf mehr fallen in der Welt, ohne daß der deutsche Kaiser mitredet."

Was ist das Ziel?

"Die deutsche Staatsleitung ist verpflichtet, von sich aus sofort die marokkanische Frage dadurch für uns zur Erledigung zu bringen, daß sie alles südwestlich der Wasserscheide liegende Land einschließlich der ganzen atlantischen Küste Marokkos für das Deutsche Reich in Besitz nimmt." Das sei unbedingt zu verlangen, "kraft des sittlichen, Rechtes der Notwendigkeit, die am letzten Ende allein der richtige Maßstab im Völkerleben ist und bleiben wird."

335

Und das Mittel?

Auf die Frage des im Frühjahr 1904 noch harmlos friedfertigen Bülow, ob wir denn um Marokko einen Krieg führen sollten, antwortete der Alldeutsche mit der Gegenfrage, "ob er den Frieden haben wolle, koste es, was es koste":

"Wenn die Ehre des Reiches angetastet wird, sollen wir dann vor einem Krieg zurückschrecken? Wir werden behandelt wie Spanien, greift das nicht an unsere Ehre? Das letzte Volksansiedelungsgebiet wird uns entrissen - verstößt das nicht gegen ein Lebensinteresse? Für was geben wir ungeheuere Summen jahraus jahrein für unser Heer, für unsere Flotte aus, wenn man von vornherein entschlossen ist, keinen Krieg zu führen? Dazu sind wir nicht reich genug, um beide für Paradezwecke zu unterhalten."

Schluß: Wir sollen unverzüglich den Südwesten Marokkos besetzen; um aber den Franzosen zu zeigen, daß wir auch noch da sind und daß man uns doch nicht ungestraft auf der Nase herumtanzen darf, heben wir auch gleich noch die Meistbegünstigungsklausel des Frankfurter Friedens auf.

Noch lauter forderte der Graf Pfeil zum Kriege auf, dem wir nebst Karl Peters durch eigenmächtige Flaggenhissung die erste deutsche Kolonie und damit den Anfang unserer Kolonialpolitik verdanken. "Warum brauchen wir Marokko?" fragte dieser immer noch frei umherlaufende, die Sicherheit nicht von ein paar Straßen, sondern von ganz Europa bedrohende Pizzarro in einer gleichfalls alldeutschen Flugschrift. Wir brauchen Marokko: was soll sonst uns eine Marine ohne Flottenstationen nützen! Wir brauchen es, weil es das Idealland zur Besiedelung mit Deutschen sei. Wir brauchen es, weil - man höre den grausamen Schwärmer für Steuergerechtigkeit in - Marokko! - "die Bevölkerung durch ein rücksichtsloses Steuersystem ausgebeutet (wird), so daß ihre

336

Kaufkraft sich jährlich mindert statt zu steigen" - Weil wir Marokko aber brauchen, missen wir es haben, und erhalten wir es nicht gutwillig, dann "tausendmal ja": Krieg! "Wir sind von Hammergottes-Geschlecht und es ziemt uns, mit dem Hammer Land zu erwerben." Unter dem Hammer meint der Wotangläubige aber nicht die produktiv schmiedende Arbeit, sondern Granaten, Maschinengewehre, Kavallerieattacken! Ohne kriegerische Unternehmungen würde es nun einmal nicht gehen: "Aber was schadet das?" Alles ist "seit langem vorbereitet" - also los!

Krieg! Krieg! Krieg! Während das offizielle Deutschland für die Souveränität des Sultans die Menschen und Kanonen übers Meer fahren lassen will, heischen die Kolonialpolitiker den blutigen Hammer-Gottesdienst, um die Herrschaft Abd-el-Aziz durch die des befreundeten Wilhelm II. zu ersetzen, wobei freilich dann die neuen Untertanen ein nicht sehr viel besseres Steuersystem eintauschen, dafür aber nach südwestafrikanischem Vorbild Gelegenheit erhalten könnten, ausgerottet, und mit Prämien auf ihre Köpfe (auch nach sultanischer Sitte) beschenkt zu werden.

Wenn nun das Ausland sieht, daß die Regierung des Fürsten Bülow tatsächlich im Laufe eines Jahres wiederholt mit dem Hammer politisiert hat, kann irgend jemand noch glauben, das Wort: Deutschland steht hinter Marokko, bedeute nur, daß wir für Abd-el-Aziz und für die 2 bis 3 Millionen deutschen Export sterben wollen? Oder wird man nicht vielmehr folgern, daß, wo die vom großen Pfeil angekündigten Mittel offenkundig angedroht werden, auch die Pfeilschen Zwecke vorhanden sein müssen!

Daher vermutet man blutigen Ernst hinter den wirren Kreuz- und Querzügen der deutschen Diplomatie. Man glaubt, daß Deutschland nach Marokko, nach Kleinasien, ja nach Brasilien und Indien die Hände ausstreckt!

22 Eisner, Gesammelte Schriften. I.

337

Und das ist der drohende Quell steter Katastrophen. Wir haben gesehen, wie aufmerksam der französische Vertreter in Berlin die russische Krisis in die welt-politische Rechnung setzt.

Der ostasiatische Krieg und die russische Revolution hat das europäische Gleichgewicht gestört. Solange die ungeheuere russische Masse scheinbar unbeweglich durch die Gravitation des Kosakentums die Staaten Europas im Bann hielt, fühlt sich Deutschland und Frankreich sicher zugleich und gefesselt. Seitdem die russische Militärmacht ausgeschaltet ward, geriet alles in eine tolle Bewegung lüsterner Begierden und banger Furcht. Das Deutsche Reich hat so lange mit dem Dreizack drohend gefuchtelt, daß England ernstlich für seine Weltherrschaft bangt. Soll es ruhig zusehen, wie Deutschlands Flotte üppig wächst? Oder ist es nicht billiger, dem Spuk mit einem Male ein Ende zu machen? Auf dem Grunde des Meeres haben ebensoviel, wie auf seinem Spiegel wenige Panzerschiffe Platz! Nur der Tod kennt keine Konkurrenz.

Die französische Demokratie hat ihren Delcassé davongejagt. Der deutsche bürgerliche Scheinparlamentarismus sprach zu Beginn der Reichstagssession seinem Bülow das vollste Vertrauen der Nation aus, nachdem ihre schreibenden, telegraphierenden und telephonierenden Zeitungsritter vorher einen vergnügten parlamentarischen Abend bei ihrem Kanzlerfürsten angeregt verschwatzt und in gesegnetem Appetit verschmatzt hatten!

Nachdem die Welt die wilden sinnlosen Kriegsdrohungen um Marokko willen erlebt hat, kann kein Vertrauen und Frieden mehr werden. Geht Marokko vorüber, irgendwo taucht aufs neue eine Frage auf, bis einmal doch die verheerende Katastrophe losbricht. Der Hunnenzug und Südwestafrika, das waren schon Erdbeben der Weltpolitik. Marokko wäre beinahe

338

ein Weltbrand geworden. Was birgt nun das Morgen und welche Macht haben wir, um dem wahnwitzig schaltenden Ungefähr entgegenzuwirken?

Die Sphinx der Weltpolitik gibt uns nur das ungelöste Rätsel der inneren Politik dräuend auf. Lösen wir dies Rätsel, so stürzt jene sich in das Nichts.

Die französische Demokratie, die unter dem befruchtenden Einfluß der Sozialisten sich in der Geschichte wieder einmal als stärkste Kulturmacht behauptete, hat gegenwärtig den Kampf gegen die Maffia der Diplomatie aufgenommen. Auch die Volksvertretung der Republik hat bisher gar keinen oder doch nur sehr geringen Einfluß auf die auswärtige Diplomatenpolitik nehmen können, für welche der kriminelle Begriff der Verschleierung höchstes Gesetz und Wurzel ihrer Existenz ist.

Die bürgerliche Öffentlichkeit Deutschlands hat vollends den ganzen Marokkokonflikt tatenlos und unwissend verschlafen. Von irgendeinem obskuren Geheimrat läßt sich die ganze Presse der Bourgeoisie narren, der ihnen selbst die Traumtexte für den Schlaf fertig liefert. Aber das ist schließlich nur eine jammervolle Teilerscheinung der einen großen Tatsache, daß es in Deutschland überhaupt noch kein öffentliches, kein aktives politisches Volksleben gegeben hat. Deutschland ist noch lange kein Verfassungsstaat, und was die Bourgeoisie versäumt hat, wird erst das Proletariat erobern müssen. Die Marokkoaffäre hat gezeigt, was wir von einer in Klassen-Inzucht entarteten Bureaukratie zu erwarten haben, die nicht einmal fähig ist, das niedrige Handwerk einer kapitalistischen Geschäftspolitik mit leidlichem Anstand und rechnender Voraussicht zu bewältigen. Selbst mit dem rohen Appell an die Gewalt der Zerstörung hat sie nichts erreicht und viel verloren> Indem das deutsche Proletariat um die politischen Elementarrechte, um die Eroberung des Parlaments, um das demokratische Wahl

22*

339

System in allen gesetzgebenden Körperschaften ringt, arbeitet es zugleich für den Frieden und die Kultur Europas!

* * *

Und - schon genug deutsches Blut hat dieses Land der Ruinen und des Schutts, der versandenden Häfen und verfallenden Mauern, der Verwesung und des Kots getrunken. Mit dem Gestank menschlicher und tierischer Ausscheidungen, den jeder Regen wie aus den Tiefen und Anlagerungen von Jahrtausenden aufwühlt, scheint sich der Ludergeruch des nutzlos vergossenen Menschenbluts zu mengen. Alles, was eine unbewegte tausendjährige Herrschaft des weltlichen und geistlichen Despotismus an Entartung und Greueln hervorbringen kann, ist in diesem verfluchten Boden erstanden und versunken. Bei Alcazar brach 1578 Portugals Weltmacht zusammen; an diesem von der Dichtung versponnenen Kreuzzug Dom Sebastians nahmen auch 3000 Deutsche teil; sie verwesten unbeerdigt auf dem Felde der Dreikönigschlacht von Alcazar. Deutsche wurden ja immer für fremde Zwecke als Kriegstiere verkauft; auch die Weltpolitik von heute ist fremder Zweck! Hier sind ungezählte Deutsche in den Jahrhunderten marokkanischer Seeräuberherrschaft als Sklaven verreckt; Sultan Ismael, der Bluthund, hat allein in den ersten Jahren seiner Regierung 20 000 seiner Sklaven - welch herrliche Strecke! - mit eigner Hand erlegt. Von den Zinnen dieser westlichen Veste des Islam grinsen gerade deutsche Häupter! ...

Von dem bei Tanger *) kraft des ersten internationalen Marokkovertrags - von einem Franzosen -erbauten Leuchtturm bei Kap Spartel erzählt ein Marokkoforscher, wie die Vögelzüge, die im Herbst

*) Beiläufig: Sprich "Tandscha".

340

Europa verlassen, an ihm zugrunde gehen. In dichten Massen richten sie ihren Flug auf jenen hellen Punkt, und werfen sich in voller Wucht gegen den Turm, den sie umkreisen, einhüllen und an dessen starkem, die Laterne schützenden Drahtgitter die Vögel zerschellen, geblendet von dem großen und ungewohnten Lichte. Das Geschrei und die dumpfen Töne des Massenanpralls, die das Toben des Meeres selbst über tönen, hält stundenlang an, bis zuletzt die erschöpften Tiere weiterziehen. Ein furchtbares Schauspiel, am nächsten Morgen die entsetzliche Verheerung anzusehen; zu hunderten liegen die Vögel mit zerstoßenen Köpfen, gebrochenen Flügeln und zersplitterten Schnäbeln überall umher, oder hängen noch in den Drahtgittern...

Im Laufe dieses Marokkohandels hat es wiederholt geschienen, als ob es wirklich das Los europäischer Völker sei, an dem die Weltmeerstraßen des Kapitalismus lockend bestrahlenden Leuchtturm von Cap Spartel das Leben zu zerschellen! Schon glaubte man das Unheil zu sehen, wie diese wirren, ins Licht des fernen Gewinns treibenden, flatternden, taumelnden Zugvögel heranstürmen, nur daß es nicht freie Vögel waren, die den Sommer suchen und an Lichtgittern zerschellen, sondern wehrlose Schwärme, die blindlings hinausgestoßen -, gegen den Turm geschleudert werden sollten...

Proletarier Europas,
schützt die heiligsten Güter der Völker!

341