Sozialdemokratie und Staatsform.

Eine öffentliche Diskussion zwischen Kurt Eisner und Karl Kautsky 1904.

Die Aufnahme dieser Diskussion, die mir mein Freund Kautsky gestattet hat, geschieht nicht, um alten persönlichen Streit zu beleben, denn heute besteht zwischen Kautsky und mir in fast allen Fragen der politischen Theorie und Praxis Übereinstimmung - sondern wegen der urkundlichen Bedeutung jener Debatte für die Erkenntnis der Parteientwickelung. Ich stand 1904 in der Partei, als Vorwärts-Redakteur, gefährlich isoliert, auf der Seite Jaurès'.

I.

Die deutsche bürgerliche und vor allem die reaktionäre französische Presse hat die Äußerungen Bebels*) über den plutokratischen Klassencharakter auch der bürgerlichen Republik dahin mißzuverstehen gesucht, daß Bebel oder gar die ganze deutsche Sozialdemokratie die Vorzüge der Monarchie gegenüber der Republik anerkannt habe, ja, zum Apostel der sozialen Monarchie geworden ist.

In der letzten Nummer der Neuen Zeit weist Genosse Kautsky diese tendenziösen Mißdeutungen der Bebelschen Bemerkungen schlagend zurück und gelangt dann zu folgenden Betrachtungen:

*) Auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Amsterdam, 1904.

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"Aber die Republik ist uns sympathisch nicht bloß mit Rücksicht auf den mehr oder weniger entfernten Zukunftsstaat der sozialen Republik. Auch als bürgerliche Republik muß sie dem sozialistischen Proletariat wertvoller sein als die Monarchie, so daß es sich für die Republik entscheidet, wo immer es die Wahl zwischen den beiden Staatsformen hat. Denn die bürgerliche Republik ist die Staatsform, in der der Entscheidungskampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie am ehesten und besten ausgefochten werden kann. Das wird aber bewirkt dadurch, daß der Klassengegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie in der Republik am schärfsten und klarsten zum Ausdruck kommt.

Wohl steht die Monarchie dem um seine Befreiung ringenden Proletariat notwendigerweise feindselig gegenüber, denn diese Befreiung erheischt die Aufhebung der Klassen, also die Aufhebung der Grundbedingung der Monarchie. Aber diese hat kein Interesse daran, eine andere Klasse zur Alleinherrschaft kommen zu lassen; die Macht der Monarchie ist am größten dort, wo die verschiedenen Klassen sich die Waage halten. Das kann eine monarchische Regierung unter Umständen dazu veranlassen, das Proletariat gegenüber der Bourgeoisie in Schutz zu nehmen.

Andererseits kann sich in einer Monarchie die Bourgeoisie unter Umständen durch die Regierung, die nicht direkt ihre Klassenregierung ist, mehr beengt fühlen als durch das Proletariat; sie kann es zur Schwächung der Regierung aufrufen und zu diesem Zwecke stärken.

Endlich findet in einem monarchischen Lande das Proletariat selbst zwischen sich und der Bourgeoisie die Monarchie, als einen von jener verschiedenen Gegner. Dadurch wird seine Aufmerksamkeit geteilt, die Schärfe des Klassengegensatzes vermindert, die Intensität des Klassenkampfes geschwächt.

Ganz anders in einer bürgerlichen Republik unter

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entwickelter kapitalistischer Produktion. Hier herrscht die Bourgeoisie direkt, hier stehen sich Proletariat und Bourgeoisie unvermittelt gegenüber, hier hat das Proletariat nicht die trennende Wand einer monarchischen Regierung zu übersteigen, will es der Bourgeoisie an den Kragen gehen.

In monarchischen Ländern - und das gilt um so mehr, je absoluter die Monarchie also am meisten für Rußland - ist das Proletariat oft gezwungen seine ganze Kraft auf die Bekämpfung der Regierung zu konzentrieren. Gelingt es ihm dort, die Staatsgewalt niederzuwerfen, so steht es nicht am Ende seiner Kämpfe, sondern nur am Beginn einer neuen, intensiveren Phase des Klassenkampfes. Gelingt es ihm dagegen in der bürgerlichen Republik, die bestehende Staatsgewalt zu stürzen, so hat es damit endgültig über die Bourgeoisie gesiegt, ihre politische Expropriation vollzogen und ihre ökonomische Expropriation unabwendbar gemacht.

Deshalb die große Bedeutung, welche schon die bürgerliche Republik für das Proletariat hat. Aber gerade deswegen ist auch in der Republik das Klassenbewußtsein und der Klassenhaß der Bourgeoisie gegenüber dem Proletariat mehr entwickelt, und ist dort die Bourgeoisie um so skrupelloser in ihrem Klassenkampfe gegen das Proletariat, unbedenklicher in der Wahl ihrer Mittel, sei es brutaler Niederwerfung, sei es heimtückischer Überlistung und Korrumpierung.

So hoch uns daher die Republik, auch die bürgerliche, steht, so wichtig sie uns für den Befreiungskampf des Proletariats erscheint, so darf uns das noch nicht blind machen gegen den arbeiterfeindlichen Charakter, den jede bürgerliche Republik und jede Regierung einer bürgerlichen Republik entwickeln muß. Gerade in dieser Erkenntnis unterscheiden wir uns von der bürgerlichen Demokratie, die der Republik eine geheimnisvolle Kraft der Schwächung der Klassen-

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gegensätze zuschreibt und wähnt, der republikanischen Bourgeoisie wohne eine weit größere Neigung inne, die Befreiung der Arbeiterklasse zu fördern, als der Monarchie und der monarchistischen Bourgeoisie.

Dieser republikanische Aberglaube gehört aber auch zu den Illusionen, die dank dem Revisionismus selbst in unsere Reihen hier und da Eingang gefunden haben. Da war es sehr am Platze, wenn Bebel demgegenüber wieder unseren Standpunkt darlegte, der den des Republikaners mit dem des proletarischen Klassenkämpfers vereinigt."

Indem Kautsky hier zutreffend darlegt, daß auch die bürgerliche Republik ihren Klassencharakter beibehält, sind doch zugleich seine Darlegungen über den - wie man aus einzelnen Wendungen schließen könnte, nach seiner Meinung - abgestumpften oder doch wenigstens verwischten Klassencharakter in der Monarchie und sein Wort vom republikanischen Aberglauben geeignet, neuer Verkennung Bebelscher und sozialdemokratischer Auffassungen wider die Absicht Vorschub zu leisten.

Es könnte der Anschein entstehen, als ob Bebel tatsächlich der Meinung wäre, daß in der Monarchie die Klassen nicht so unmittelbar und so brutal aufeinanderstoßen, wie in Republiken. Solche Meinung, die natürlich Bebel nicht hat und haben kann, wäre aber eine Konzession an jene grundverlogene "Theorie" dynastischer Hauslehrer des Staatsrechtes, die der Monarchie die geheimnisvolle Wunderkraft des Über-den-Parteien-Stehens und der zwischen den Klassen ausgleichenden Gerechtigkeit zuschreiben. Tatsächlich lehrt die geschichtliche Erfahrung und zeigt die innere Logik der gesellschaftlich-staatlichen Organisationsform, daß keine herrschende Klasse eine mit starker staatsrechtlicher Machtvollkommenheit ausgestattete Monarchie erträgt, die sich ihr nicht mit Haut und Haaren verschreibt. Deshalb gleicht eine Monarchie, sofern sie

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nicht zur bloßen dekorativen Formalität verflüchtigt ist, sondern mehr oder minder tief im Absolutismus stecken geblieben ist, nicht, in wenn auch noch so bescheidener Form, die Interessen zwischen den beherrschten und den herrschenden Klassen aus, sondern sie sucht lediglich die verschiedenen Interessen zwischen den herrschenden Klassen selbst auszugleichen. Sie muß fortwährend bedacht sein, die diversen "Stützen des Thrones" bei guter Laune zu erhalten, und deshalb muß sie ihnen - auf Kosten der proletarischen Masse - abwechselnd alle erdenklichen Vorteile zuschanzen. Die Notwendigkeit, sich auf die herrschenden Klassen zu stützen und die innerhalb der besitzenden Gesellschaft infolge der wirtschaftlichen Entwickelung vielfach ausbrechenden Gegensätze zu versöhnen, damit sie nicht selbst zwischen den herrschenden Klassen zerrissen wird, zwingt die Monarchie zu immer verstärkten Anstrengungen in der Verleihung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Privilegien.

Auf der anderen Seite werden die herrschenden Klassen im Wettstreit um die Gunst der Krone immer reaktionärer und, indem sie sich der höfischen Natur und der Art der für die dynastischen Bedingungen tauglichsten und stärksten Klasse anzupassen suchen, offenbart sich der Klassencharakter nicht nur in der rohesten, sondern auch oft in der ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen zuwiderlaufenden unsinnigsten Form. In keiner Republik ist deshalb der Klassenkampf brutaler und zugleich absurder, wie in dem monarchischen Preußen und in dem monarchischen Sachsen.

Während so auf der einen Seite die absolutistische oder halb absolutistische Monarchie ihre Politik auf den Ausgleich der Interessen der herrschenden Klassen zuungunsten des Proletariats richten muß, fühlen sich andererseits die herrschenden Klassen hinter dem

19 Eisner, Gesammelte Schriften I.

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Schutzwall einer starken Monarchie so sicher, daß sie gar keine Notwendigkeit einsehen, sich mit dem Proletariat zu verständigen, es durch Konzessionen zu befriedigen. Und wenn die Monarchie es für gut hält, dem Proletariat für den auf seinem Rücken vermittelten Ausgleich der Interessen der herrschenden Klassen untereinander auch einige Scheinkonzessionen zukommen zu lassen, so widersetzen sich solchen Versuchen die herrschenden Klassen aufs hartnäckigste. So wird schließlich nur so viel "monarchische Sozialreform" gewährt, als die herrschenden Klassen es gestatten. Es gibt deshalb nirgends so rückständig bornierte Klassenherrschaft wie sie das Junkertum und der mit ihm versippte bürgerliche Fabrikfeudalismus wiederum in dem monarchischen Preußen und in dem monarchischen Sachsen ausübt.

Umgekehrt sind in demokratischen Republiken und in den konstitutionellen Scheinmonarchien, wie England, die herrschenden Klassen genötigt, in ihrem inneren Interessenstreit das Proletariat durch Zugeständnisse auf ihre Seite zu locken. Die sozialen Konzessionen in diesen Staaten mögen nicht immer so aufdringlich sichtbar werden, wie die bureaukratisch-selbstgefällige Sozialreform in monarchischen Staaten, aber ihr innerer Wert ist vielfach überlegen. Und vor allen müssen die herrschenden Klassen in der Demokratie durch politische Freiheiten sich die Sympathie und Hilfe der für ihre Herrschaft unentbehrlichen Massen zu gewinnen trachten.

Es widerspricht den Tatsachen und stellt das wirkliche Verhältnis auf den Kopf, daß die reinere und schroffere Form des Klassenkampfes in den Republiken zur Geltung komme. In der bürgerlichen Republik und verwandten Staatsformen versucht man die Arbeiter durch Geschenke zu korrumpieren, in der absolutistischen Monarchie durch Gewalt einzuschüchtern. Der "republikanische Aberglaube" ist

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sonach eine recht revolutionäre, sehr radikale und in allen Fällen eine unbedingt notwendige Anschauung.

Der beste und einzige Interpret seiner Anschauung ist schließlich Bebel selbst. Gerade vor einem Jahre hat Bebel in seinem Aufsatz über die Vize-Präsidentenfrage mit großer Schärfe und durchaus zutreffend gegen die Genossen polemisiert, die nach seiner Meinung sich gegenüber der fundamental wichtigen Staatsform zu gleichgültig verhielten. Er führte in der Neuen Zeit vom 5. September 1903 unter der Kapitelüberschrift "Die Staatsform mehr Nebensache für die Sozialdemokratie" aus:

"Wir sollten nicht das Hauptgewicht auf die Staatsform legen und nicht annehmen, daß man durch eine Audienz bei dem Kaiser eine Art Reverenz vor ihm mache. Nicht auf die Staatsform, auf den sozialen Inhalt der Gesellschaft komme es nach unseren eigenen Grundanschauungen hauptsächlichen, rufen übereinstimmend Vollmar und Göre. Letzterer widmet diesem Thema in der Chemnitzer Volksstimme einen ganzen Leitartikel, aus dem ich die Überzeugung gewann, daß dem Genossen Göhre der Nationalsoziale noch sehr im Nacken sitzt.

Es fällt mir nicht ein, die Staatsform zu überschätzen. Aber sie ist sehr wesentlich. Es gibt allerdings Monarchien, wie zum Beispiel die englische, die ich mancher Republik vorziehe, zum Beispiel den südamerikanischen. Aber auch zwischen den Monarchien ist ein gewaltiger Unterschied. Eine starke Monarchie bedeutet ein schwaches Parlament. Und wenn das Königtum durch Heer und Flotte und Beamtenhierarchie usw. schon stark ist und durch die herrschen den Klassen noch besonders gestützt wird, dann ist es für jede Demokratie eine ganz besondere Gefahr! Daher ist die Monarchie in Preußen die Monarchie par excellence die es in der ganzen Welt nicht zum zweiten Male gibt. Und der jeweilige preußische

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Monarch, der zugleich deutscher Kaiser ist, ist auch der systematische Stärker des Junkertums, in dem er seine vornehmste Stütze sieht. Er ist es auch, an dem das Dreiklassen-Wahlsystem mit all seinen Ungleichheiten in Staat und Kommune für die Arbeiterklasse seinen Grund- und Eckstein findet, der alles billigt, was bisher die Sozialdemokratie in Preußen rechtlos gemacht und geschädigt hat...

Wäre dagegen Preußen-Deutschland eine Republik und wäre sie noch so blau, so besäßen wir höchst wahrscheinlich das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle Vertretungskörper, Diätenzahlung an die Abgeordneten, eine gerechtere Einteilung der Wahlkreise, womöglich das Proportionalwahlsystem, ein viel freieres Vereins- und Versammlungsrecht, eine größere Preßfreiheit, eine vollkommenere Sozialreform, für die dann unsere Macht ganz anders in die Wagschale fiele wie jetzt, ein demokratischer gestaltetes Militärsystem, eine dem Parlament verantwortliche Regierung, kurz, es wäre eine Reihe unserer nächsten Programmforderungen erfüllt, um die wir jetzt noch lange und voraussichtlich sehr schwere Kämpfe zu bestehen und große Opfer zu bringen haben.

Wollen Vollmar und Göhre auch jetzt noch behaupten, daß die Staatsform mehr nebensächlich sei? Was werden die belgischen, französischen, österreichischen, italienischen Genossen denken, wenn sie ihre Ausführungen lesen?"

Man braucht nur an diese Darlegungen zu erinnern, um ein- für allemal der Legende der deutschen und französischen bürgerlichen Presse ein Ende zu machen, die der deutschen Sozialdemokratie monarchische Neigungen, republikanischen Skeptizismus oder auch nur Gleichgültigkeit gegenüber der Staatsform zuschreiben möchte.

Gewiß, es läßt sich denken, daß die Monarchie

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keine direkte Klassenregierung ist, es läßt sich denken, daß in der Monarchie der Klassenkampf minder rauhe Formen annimmt wie in der Republik; es läßt sich denken, daß in der Monarchie dem Proletariat ein größerer Schutz zuteil wird - und niemand wäre so zufrieden, wenn die Monarchie diese Eigenschaften hätte, wie die deutsche Sozialdemokratie. Aber, nach einem Philosophenwort: Ein gedachter Taler ist kein wirklicher Taler. Die Erfahrung lehrt das Gegenteil. Und Bebel, der vor einem Jahre den monarchistischen Aberglauben der Revisionisten oder doch den der monarchistischen Indifferenz bekämpfte, hat sich besser gegen falsche Interpreten gesichert, als sein heutiger Verteidiger, der vor dem Revisionismus des "republikanischen Aberglaubens" warnt. Beiderlei Aberglauben ist vom Übel - aber einstweilen steckt in dem "republikanischen Aberglauben" noch ein so schweres und unumgängliches Problem, daß es uns gar nicht wichtig genug sein kann.

Im übrigen scheint uns die binnen Jahresfrist so seltsam veränderte Umschreibung revisionistischer Ziele - vom monarchischen zum republikanischen Aberglauben - die Einsicht dafür zu schärfen, ob es der tieferen Erkenntnis und der fruchtbaren Klärung parteigenössischer Streitfragen dient, mit dem Stempel fester "Richtungsworte" allzu eifrig zu arbeiten.

II.

K. E. bringt im Vorwärts vom 30. August eine Polemik gegen meine Ausführungen in der Neuen Zeit über die Bedeutung der Republik für den proletarischen Klassenkampf. Ich hatte diese Darlegungen im Anschluß an Bebels Äußerungen in Dresden gemacht, K. E. aber glaubt nachweisen zu können, daß ich, statt Bebel zu interpretieren, mich in Widerspruch zu ihm gesetzt habe, der vor einem Jahre in

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der Neuen Zeit über die Republik ganz anders geurteilt habe, wie ich in meinem letzten Artikel.

Ich muß darauf bemerken, daß ich nicht den Artikel vom vorigen Jahre, sondern die jüngste Rede Bebels zu interpretieren suchte. Will K. E. behaupten, meine Ausführungen ständen im Widerspruch zu dieser Rede?

Ich glaube kaum; dann aber liefe seine ganze Darlegung auf den Versuch hinaus, indirekt einen Widerspruch zwischen dem Bebel von heute und dem vom vorigen Jahre zu konstruieren. Und allerdings, wer nur nach Äußerlichkeiten urteilt, mag leicht auf die Idee kommen, zwischen den beiden Darlegungen bestehe ein Gegensatz. Ganz anders, wenn man näher zusieht.

Es ist ein großer Fehler, der sich aber immer wiederholt und der namentlich bei den Beweisen für angeblich vollzogene Mauserungen der Sozialdemokratie eine bedeutende Rolle spielt, daß man Sätze aus einzelnen polemischen Reden oder Artikeln ohne Rücksicht auf den Zusammenhang, in dem sie stehen, und die Situation, der sie entstammen, gebraucht. Es ist klar, daß man in der Polemik stets diejenigen Seiten hervorhebt, in denen man sich vom Gegner unterscheidet. Wenn ich heute mit einem Anarchisten und morgen mit einem Konservativen polemisiere, werde ich jedesmal ganz andere Argumente gebrauchen, und wer diese ohne weiteres nebeneinanderstellt, kann dann oft Widersprüche konstruieren, wo in Wirklichkeit völlige Einheitlichkeit des Denkens besteht.

So auch hier. Was als Widerspruch zwischen dem Bebel vom September 1903 und dem vom August 1904 erscheinen mag, ist in Wirklichkeit ein Widerspruch zwischen den Genossen, gegen die er seinen Standpunkt zu verfechten hatte - Vollmar und Göhre einerseits, die da meinten, die Staatsform sei ziemlich

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gleichgültig, und Jaurès, der die Bedeutung der Republik überschätzt. Bebel bekämpft, und mit Recht, die eine Anschauung ebenso, wie die andere. Es ist jedoch klar, daß man nicht beide mit den gleichen Argumenten bekämpfen kann.

Sind aber seine Argumente in dem einen und dem anderen Fall verschieden, so sind sie nicht miteinander unvereinbar ; auch mit dem, was ich jetzt in der Neuen Zeit entwickelt habe, ist der Standpunkt, den dort Bebel vor einem Jahre darlegte, sehr wohl zu vereinigen.

Wie Bebel damals, erkläre ich jetzt, daß die Republik für das kämpfende Proletariat von äußerster Wichtigkeit ist, daß es dort seiner Befreiung näher steht als in der Monarchie. Was ich "republikanischen Aberglauben" nenne, ist der Wahn, "der republikanischen Bourgeoisie wohne eine weit größere Neigung inne, die Befreiung der Arbeiterklasse zu fördern, als der Monarchie und der monarchistischen Bourgeoisie".

Man muß scharf unterscheiden zwischen republikanischer Bourgeoisie und republikanischer Staatsform. Die Anerkennung der Wichtigkeit der einen für den Befreiungskampf des Proletariats darf uns nicht blind machen gegen die große Tatsache, daß, gerade weil die Republik diesen Befreiungskampf begünstigt, die Bourgeoisie in der Republik dem Proletariat gegenüber nervöser und skrupelloser verfährt als in der Monarchie - unter sonst gleichen Umständen, das heißt, bei gleicher politischer und ökonomischer Kraft des Proletariats.

In der Republik entwickeln sich bei gleicher ökonomischer Höhe die Klassengegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat früher und schärfer als in der Monarchie. Nichts ist irriger, als die Behauptung K. Es:

"Es widerspricht den Tatsachen und stellt das

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wirkliche Verhältnis auf den Kopf, daß die reinere und schroffere Form des Klassenkampfes in den Republiken zur Geltung komme. In der bürgerlichen Republik und verwandten Staatsformen versucht man die Arbeiter durch Geschenke zu korrumpieren, in der absolutistischen Monarchie durch Gewalt einzuschüchtern."

Ein Blick auf die Geschichte genügt, diese Schablone über den Haufen zu werfen. Es war die französische Republik, die Baboeuf köpfte, die die Blutbäder vom Juni 1848 und Mai 1871 auf dem Gewissen hat. Auf die Praxis der Schweiz, bei jedem erheblichen Streik Militär gegen die Streikenden aufzubieten, hat der Vorwärts erst jüngst aufmerksam gemacht. Und einen Kampf, wie er sich seit Monaten in Colorado abspielt, haben wir bei uns noch nie gekannt.

Es war andererseits die Monarchie, die versuchte, die deutschen Arbeiter durch die Geschenke des allgemeinen Wahlrechts und der Arbeiterversicherung zu gewinnen. Und wir haben in Preußen eine Steuergesetzgebung, die hoch über der französischen und amerikanischen steht.

Damit wollen wir natürlich nicht sagen, daß die Monarchie dort, wo sie sich bedroht fühlt, gegen ihre Widersacher weniger brutal vorgeht als die bürgerliche Republik gegen die Arbeiter. Es fällt uns nicht ein, die Unterdrückungsmethoden der Monarchie beschönigen zu wollen. Nur den Glauben an die Arbeiterfreundlichkeit der republikanischen Bourgeoisie wollen wir erschüttern und zeigen, daß mit gleicher Rücksichtslosigkeit, mit der die Monarchie den Republikanern aller Klassen, die republikanische Bourgeoisie dem Proletariat gegenübersteht, daß der Klassenkampf in der Republik daher ein energischerer, der Klassengegensatz ein schrofferer ist als in der Monarchie, wo er vielfach durch den Kampf gegen das monarchische System verschleiert wird. Das be-

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zeichnet keineswegs die Bedeutungslosigkeit, sondern vielmehr die große Bedeutung, welche die Staatsform für den Sozialismus hat.

Wenn aber der angebliche Widerspruch zwischen Bebel und mir oder zwischen dem Bebel, der Vollmar und Göhre kritisiert, und dem, der Jaurès kritisiert, sich in Wirklichkeit in einem Widerspruch zwischen Jaurès und seiner deutschen Gesinnungsgenossen auflöst - beweist das nicht, daß man unter dem Wort "Revisionismus" sehr verschiedene Anschauungen zusammenfaßt, die gar nicht zusammengehören? In der Tat meint K. E. am Schlusse seines Artikels:

"Im übrigen erscheint uns die binnen Jahresfrist so seltsam veränderte Umschreibung revisionistischer Ziele - vom monarchischen zum republikanischen Aberglauben - die Einsicht dafür zu schärfen, ob es der tieferen Erkenntnis und der fruchtbaren Klärung parteigenössischer Streitfragen dient, mit dem Stempel fester 'Richtungsworte' allzu eifrig zu arbeiten."

Diese "Einsicht" wurde bei mir leider nicht "geschärft", denn ich bin der Meinung, daß auch der Widerspruch zwischen dem "monarchischen und dem republikanischen Aberglauben" - um diese Terminologie beizubehalten - nur ein äußerlicher ist und bei "tieferer Einsicht" sich in eine höhere Einheit auflöst. Vor allem ist der Widerspruch kein zeitlicher, sondern ein räumlicher. Wir haben nicht vor Jahresfrist den "monarchischen Aberglauben" des Revisionismus und heute den republikanischen, sondern wir haben in monarchischen Ländern, so am auffallendsten in Italien und England, den monarchischen, in republikanischen den republikanischen "Aberglauben" des Revisionismus, das heißt, wir finden überall bei ihm den gleichen "Aberglauben", daß mit dem bestehenden Staatswesen sich auskommen lasse. Ja, wie finden, daß der Republikaner Jaurès

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selbst seinem "republikanischen Aberglauben" nur für die Republik huldigt, an deren Regierung er Anteil nimmt.

Derselbe Jaurès, der jetzt in seiner Humanité die Einigungsaktion damit einleitet, daß er als ihre Vorbedingung verlangt, die sozialistische Partei Frankreichs solle die Ausführungen über die bürgerliche Republik desavouieren, die Guesde in Amsterdam getan, er hat vor Jahresfrist die wärmsten Sympathien für die in Deutschland beantragte Hofgängerei an den Tag gelegt, er hat den König von Italien als Vertreter des italienischen Volkes begrüßt und hat Teil an seiner Tafelrunde genommen - um Gegensatz zu den Republikanern Italiens.

Löst sich also der anscheinende Gegensatz zwischen republikanischem und monarchischem Aberglauben im Revisionismus in die höhere Einheit auf, daß er trachtet, sich mit jeder jeweiligen Regierung abzufinden, so löst sich auf der anderen Seite der anscheinende Gegensatz zwischen der Bekämpfung des monarchischen und des republikanischen Aberglaubens dahin auf, daß wir überall am schärfsten jene bürgerliche Regierung bekämpfen, die uns gerade gegenübersteht, daß wir daher in der bürgerlichen Republik dem republikanischen Aberglauben ebenso zu Leibe gehen müssen, wie in der Monarchie dem monarchischen. Wenn Bebel in Dresden anders sprach als in Amsterdam, so erklärt sich das nicht daraus, daß er binnen Jahresfrist seine Auffassung vom Revisionismus geändert hat, sondern daraus, daß er das eine Mal zur deutschen, das andere Mal in erster Linie zur französischen Sozialdemokratie sprach. Der Gedanke, von dem er ausging, war aber jedesmal derselbe: Kampf gegen jedes bürgerliche Regime, Zerstörung aller Illusionen über die Möglichkeit, durch ein Abkommen mit einer oder der anderen Art bürgerlicher Regierung dem Proletariat größere Kraft zu verleihen.

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Ich hätte mir gern diese Erneuerung einer Revisionistendebatte erspart, nach der ich nicht das geringste Verlangen trage. Nachdem K. E. sie aber einmal aufs Tapet gebracht, war es notwendig, jedem möglichen Mißverständnis vorzubeugen. K.

III.

Kautsky stellt also eine "höhere Einheit" her, welche die von ihm aus scheinbar, als äußerlich zugegebenen Widersprüche zwischen der schroffen und unbedingten Verherrlichung der Republik im Vorjahre und der neuerlichen seltsamen Neigung, der Monarchie sogar einige Vorzüge gegenüber der Republik zuzugestehen, auflösen soll.

Eine "Einheit" mag Kautsky zustande gebracht haben, eine "höhere" aber ist sie sicher nicht. Denn wenn die Einheit lediglich darin bestehen soll, daß sowohl der republikanische wie der monarchische Aberglauben von Übel ist, so wäre das ein sehr mäßiger Ertrag dieser und der Amsterdamer Debatte. Daß die bürgerliche Demokratie keine sozialistische Demokratie ist, bedarf unter Parteigenossen ebensowenig einer Debatte, wie etwa die Weisheit, daß der Kapitalismus kein Sozialismus. Und daß die Monarchie nicht die Vorzüge hat, die etwa Nationalsoziale ihr beimessen, ist doch auch keine lohnende Erörterung für Sozialdemokraten. Es handelt sich vielmehr darum, ob es noch richtig ist, was Bebel vor einem Jahre schrieb, daß "eine Republik und wäre sie noch so blau", das heißt noch so kapitalistisch, aus unzähligen Gründen einer Monarchie von der Art der preußischdeutschen vorzuziehen und als proletarische Lebensfrage zu erstreben sei. Es handelt sich darum, ob in den demokratischen Republiken, zu denen auch England zu rechnen ist, oder den absolutistischen Monarchien der Klassenkampf schärfer und brutaler ist.

Nun meint Kautsky, im Dienste der "höheren Ein-

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heit" des scheinbaren Widerspruches, es sei ja selbstverständlich, daß man in der Polemik je nach dem Gegner die Argumente wähle und wechsle. In der Tat: selbstverständlich. Aber welche Argumente man auch immer vorzieht, das jeweilige Argument selbst muß richtig, eindeutig sein. Ein Argument ist entweder wahr oder falsch, niemals aber kann es im Kampf mit einem Gegner heute wahr, und im Kampf mit dem anderen morgen falsch sein. Würde man nicht nur die Argumente, sondern auch Wert und Inhalt der Argumente wechseln, so lassen sich mit dieser Methode vielleicht Augenblickserfolge in polemischen Schlachten erringen, aber sie wäre auch das Ende einer prinzipiellen und aufrichtigen Aufklärung und der Anfang geistiger Verwirrung und Meinungsvergiftung. Zum Glück wird niemand eine solche Methode anwenden und empfehlen.

Ich habe nun behauptet und nachzuweisen versucht, daß Kautskys jetzige Argumente mit denen Bebels vom Vorjahre nicht zu reimen sind, daß die jetzigen falsch, die damaligen der alten richtigen sozialdemokratischen Tradition entsprechen. Kautsky freilich meint, dann liefe die Polemik eigentlich auf die Behauptung von Widersprüchen zwischen dem Bebel von Dresden und dem Bebel von Amsterdam hinaus; er habe ja nur Bebels Amsterdamer Darlegungen interpretiert.

Ich gebe zu - weil ich das ehrlicher- und offenerweise muß -, daß einzelne Wendungen Bebels in Amsterdam befremdend klangen. Aber jedes Mißverständnis wurde durch die weiteren Ausführungen Bebels ausgeschlossen, in denen er vollständig seine Überzeugungen vom Vorjahre vertrat. Es wäre kleinlich gewesen, jene im Feuer des Geisteskampfes allzu stark geschmiedeten Bemerkungen - nichts begreiflicher als dies - hervorzuzerren, da an der Tendenz des Ganzen kein Zweifel war. Nachdem aber

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Kautsky gerade jene auffallenden Äußerungen in eine Art festes, wenn auch - ganz gegen Kautskys sonstigen Charakter - sonderbar schillerndes und schwankendes System gebracht hat, fühlte ich aus gewichtigen Gründen, die ich weiter unten erörtern werde, die Pflicht zum Widerspruch.

Ich habe in meinem ersten Artikel den Unterschied zwischen der bürgerlich-republikanischen oder auch nur parlamentarischen Demokratie und der im Absolutismus stecken gebliebenen Monarchie dahin präzisiert, daß in der bürgerlichen Demokratie aus ihren eigenen Existenzbedingungen heraus das Proletariat von den verschiedenen Gruppen der herrschenden Klassen weit intensiver umworben werden muß als in der Monarchie, daß daher in ihr der Klassenkampf verschleierter erscheint. In einer Demokratie, in der das allgemeine Wahlrecht für alle Körperschaften Grundbedingung ist, würde natürlich keine Gruppe der herrschenden Gesellschaft auch nur einen Tag an der politischen Macht bleiben, wenn sie nicht auf die Stimmen des Proletariats rechnen könnte. Daher das Interesse am Arbeiterfang! Welches Interesse aber hätte Junkertum und Bourgeoisie in Preußen oder Sachsen mit ihrem Dreiklassen-Wahlrecht, um die Freundschaft der Arbeiter durch Konzessionen zu buhlen? Andererseits ist die Monarchie gerade, sofern sie von starker staatsrechtlicher Machtvollkommenheit ist, der Gefangene dieser borniertesten Klassen, die es nicht dulden können, daß diese Macht gegen sie gerichtet sei.

Ich weiß nicht recht, ob Kautsky die Anschauung nicht auch hat; aber einzelne Ausführungen über militärische Aufgebote gegen Streiks usw. scheinen meiner Auffassung doch zu widersprechen. Man braucht aber nicht bis zur französischen Revolution, auch nicht bis zur Kommune zurückzuschweifen, um die Tatsache zu erhärten, daß es keine, borniertere und

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grausamere Klassenherrschaft gibt, als in der absolutistischen Monarchie. Das Erfahrungsmaterial der Gegenwart reicht vollständig aus, um den Beweis zu führen.

Es ist immer dasselbe Argument der militärischen Streikbekämpfung und der preußischen Steuer-Gesetzgebung, welche gegen die französische Republik und für die preußische Monarchie angeführt werden. Es ist begreiflich, wenn solche dürftigen Schaustücke in dem französischen Parteistreit von französischen Genossen vorgetragen werden; aber es ist unverständlich, daß man in dem Deutschland des Sozialistengesetzes, der Zuchthausvorlage, der Gesindeordnung, des Kontraktbruchsgesetzes, in dem Deutschland von Löbtau und Laurahütte solche Argumente ausspielt. Hat man denn ganz vergessen, daß es der ewige Traum Bismarcks war, in einer blutigen Militärschlacht das deutsche Proletariat niederzuwerfen? Wenn in Deutschland gegen Streiks in der Regel kein Militär aufgeboten wird, so ist das das Verdienst des Polizeistaates und der wunderbaren Disziplin des sozialdemokratischen Proletariats. Die Polizei nimmt so rechtzeitig schon den ersten Demonstranten fest, daß das Militär gar nichts mehr zu tun haben würde. Auf wen sollte das Militär schießen? Es würde höchstens demonstrierende Arbeitgeber und Streikbrecheragenten treffen. Und die Sozialdemokratie hat das deutsche Proletariat dazu erzogen, sich dieser Polizeidisziplin zu unterwerfen und auf Demonstrationen zu verzichten. Wenn in Deutschland ähnlich wie in Chalons demonstriert werden würde, wie viele Jahre Zuchthaus und wie viele Tote würde es dann geben? Es ist keine Eigentümlichkeit der Republik, auf Streikende zu schießen und kein Vorzug der Monarchie, die Soldaten in der Kaserne zu lassen. Nirgends wird soviel Arbeiterblut vergossen wie in der österreichischen Monarchie.

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Aber weiter. Hat man denn wirklich ganz vergessen, wieviel Hunderte von Jahren Zuchthaus und Gefängnis deutsche Gerichte über Arbeiter verhängen, die im Kampf um ihre Existenz kaum auch die schärfste Polizeiverordnung nur ein wenig übertreten, wenn sie sie überhaupt übertreten. Hört man von solchen Bluturteilen aus Frankreich ? Im Gegenteil. Man hört vom "guten Richter". Diese blutrünstige französische Bourgeoisie hat ihre Richter so schlecht erzogen, daß sie ihr im Kampf gegen streikende Arbeiter nicht helfen und diese monarchisch abgeschwächte deutsche Bourgeoisie hat ihre Richter so vorzüglich ausgebildet, daß jede Strafkammer ein Regiment ersetzt. Mit dieser neuesten Legende sollte man also schnell aufhören. Das zweite Schaustück ist die französische Steuergesetzgebung, auch eine ganz neue Entdeckung. Eine Eigentümlichkeit der bürgerlichen Demokratie ist es nicht, sich gegen die direkte Einkommenbesteuerung zu sträuben. Das englische Bürgertum besteuert sich gegenüber dem deutschen in einer geradezu bewunderungswürdigen Weise. Es ist richtig, daß Frankreich eine starke Abneigung gegen die direkte Einkommensteuer hat, aber das ist nicht die Schuld der Republik, auch nicht der demokratischen Bourgeoisie, sondern die Folge der eigentümlichen sozialen Struktur Frankreichs. Ein wesentlich kleinbürgerliches Land, dessen Bürger den Ehrgeiz haben, Rentner zu werden, haben naturgemäß keine Vorliebe dafür, von ihrer Rente bare Abzüge an den Staat zu entrichten; und gar so schlimm ist die Besteuerung auch nicht.

Man bedenke, daß die Grundsteuer außerordentlich hohe Beträge in Frankreich liefert, während in Preußen die Grundsteuerregulierung auf eine Liebesgabe für die Großgrundbesitzer hinausläuft. Ferner ist zu bedenken, daß Frankreich große Erträge aus der Erbschaftssteuer zieht, jährlich etwa 200 Millionen

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Franks, in Preußen 15 Millionen Mark. Der Ertrag der französischen Erbschaftssteuer ist also größer als die berühmte preußische Einkommensteuer, die im Jahre 1901 185 Millionen Mark eingebracht hat, genau so viel wie in Frankreich die Grundsteuer ergibt.

Aber, so sagt Kautsky, die deutsche Monarchie versucht, die Arbeiter durch die Arbeiterversicherung zu gewinnen. Auch dieser Hinweis ist eine bedenkliche Revision unsrer bisherigen Anschauung. Bisher pflegten wir zu sagen, daß die ganze Arbeiterschutz-Gesetzgebung nicht so viel wert ist, wie ein freies Koalitionsrecht und eine Verkürzung der Arbeitzeit. Beides haben wir in Preußen und Deutschland nicht, dagegen erfreut sich das französische Proletariat des freien und geschützten Koalitionsrechts, das auch auf die Staatsbetriebe ausgedehnt ist. Die französischen Arbeiter haben zum größten Teil den Zehnstundentag gesetzlich festgelegt erhalten und für die Staatsbetriebe ist der Achtstundentag durchgeführt. Ich meine, Bebel hat recht, daß auch die blaueste Republik in Hinsicht der sozialen Reform unendlich der Monarchie überlegen ist. Was die Monarchie, was der Imperialismus oder Cäsarismus leisten kann, das ist einmal sehr lebendig gezeichnet worden: Die widerspruchsvolle Aufgabe einer solchen Monarchie erkläre die Widersprüche ihrer Regierung: "Das unklare Hin- und Hertappen, das bald diese, bald jene Klasse bald zu gewinnen, bald zu demütigen sucht und alle gleichmäßig gegen sich aufbringt, dessen praktische Unsicherheit einen hochkomischen Kontrast bildet zu dem gebieterischen kategorischen Stil der Regierungsakte ..."

Die Monarchie "möchte als der patriarchalische Wohltäter aller Klassen erscheinen. Aber sie kann keiner geben, ohne der andern zu nehmen ..." "Von den widersprechenden Forderungen ihrer Situation gejagt, zugleich wie ein Taschenspieler in der Not-

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wendigkeit, durch beständige Überraschung die Augen des Publikums auf sich ... gerichtet zuhalten..., bringt sie die ganze bürgerliche Wirtschaft in Wirrwarr, tastet alles an, was der Revolution von 1848 unantastbar schien, macht die einen revolutions-geduldig, die andern revolutionslustig und erzeugt die Anarchie selbst im Namen der Ordnung, während sie zugleich der ganzen Staatsmaschine den Heiligen-schein abstreift' sie profaniert, sie zugleich ekelhaft und lächerlich macht."

Das ist ungefähr das Höchste, was die Monarchie, "die keine direkte Klassenherrschaft ist", leisten kann. Karl Marx hat das Bild im 18. Brumaire gezeichnet. Ich ziehe mit Bebel auch die blaueste Republik diesem "Interessenausgleich" vor.

Ich glaube ja nicht, daß für Deutschland es sehr notwendig ist, über das Wesen der Monarchie und der Republik Diskussionen anzustellen. Die Monarchie der deutschen Gegenwart läßt eine Konfusion der Vorstellungen über die Staatsform nicht aufkommen, eine Konfusion, die entweder zu Naumann oder -Friedeberg führen müßte. Was die bürgerliche Presse über unsere monarchistischen Anwandlungen sagen mag, ist gleichgültig. Vereinzelt ist auch ein Parteiblatt aus dem Gleichgewicht geworfen worden, wenn es Bebel in Amsterdam fälschlich dahin verstand (am 14. August):

"Die bürgerliche Republik ist eine unverhüllte Klassenherrschaft der Bourgeoisie; sie würde die Schandzustände, die heute der Berliner Kommunalfreisinn in der Residenz und die Sonnemannokratie in Frankfurt am Main geschaffen hat, zu deutschen Staatseinrichtungen erheben; sie würde in Deutschland ein Ministerium Richter-Sonnemann-Bassermann mit einem Ministerium Richter-Sonnemann-Spahn abwechseln lassen und die beispiellose Niedertracht des

20 Eisner, Gesammelte Schriften. I.

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deutschen Unternehmertums bei Arbeitskämpfen mit blauen Bohnen und Kartätschen bewaffnen."

Wenn die Dinge allerdings so stehen, wenn das der einzige Fortschritt einer deutschen Republik ist, daß sie zur bisherigen Niedertracht des Unternehmertums noch die blauen Bohnen fügt, dann wäre es ja ein Frevel, auch nur republikanisch zu denken, geschweige eine Republik zu erstreben. Auch Kautsky Kunst der höheren Einheit würde es nicht fertig bringen, diese Wendung mit Bebels Meinung zu vereinigen, daß auch die blaueste Republik unendlich besser sei als die deutsche Monarchie. Solche momentane Verwirrung ist schon deshalb nicht tragisch zu nehmen, weil dasselbe Blatt gleichzeitig sich bereits korrigierte, indem es wieder zu der Erkenntnis der Wahrheit gelangt ist: "Wo die politische Demokratie ausgebildet ist, wie in England, in der Schweiz, auch in Frankreich, ist der Einfluß des Unternehmertums auf die Staatsorgane durch zahlreiche Einrichtungen anderer Art abgeschwächt und durchkreuzt."

Aus einem anderen sehr ernsten Grunde habe ich diese Auseinandersetzung begonnen. Ich halte für die wichtigste Frage der Zukunft des Sozialismus die Bildung einer starken und einheitlichen französischen Sozialdemokratie. Hiervon hängt das nächste Schicksal der proletarischen Bewegung ab. Eine starke, einheitliche deutsche und eine starke einheitliche französische Sozialdemokratie ist unüberwindlich und von unermeßlichem Einfluß auf die Entwickelung der europäischen Verhältnisse.

Um dies Ziel zu erreichen, müßten die Mißverständnisse zwischen der deutschen und der französischen Arbeiterbewegung beseitigt werden. Und um die Mißverständnisse zu beseitigen, ist es notwendig, daß wir im Interesse der französischen Einheit nicht eine individuelle Richtung unterstützen, deren Taktik in jedem Punkte der deutschen Taktik widerspricht

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und die sich doch mit einem Schein von Recht auf die deutsche Sozialdemokratie berufen kann.

Kautsky gilt, ich weiß nicht, ob mit Recht oder Unrecht, als der Sachwalter der Guesdisten für Deutschland. Kautskys Darlegungen über Monarchie und Republik stimmen nun zwar nicht überein mit denen Guesdes in Amsterdam, aber gerade in ihrer unsicheren Zwiespältigkeit sind sie geeignet, Guesdes Theorien wieder zu bestärken, und deshalb glaubte ich eine bestimmte und unzweideutige Antwort auf die Frage veranlassen zu sollen.

Guesde sagte in Amsterdam:

"Sie - zu den Jaurèsisten gewandt - haben gar nicht das Gefühl des Klassenkampfes, von dem Sie sprechen, Sie haben ihn niemals praktisch geführt. Man sieht das sehr gut, wenn Sie auf das Gebiet der historischen Entwickelung der Völker abschweifen, auf Ihre 'Rettung der Republik'. Nehmen wir einen Augenblick an, daß die Republik durch Ihre Freunde gerettet worden sei, wieso, frage ich Sie, würde die Form der Republik die Befreiung des Proletariats um einen Tag beschleunigen ? Bebel sagte Ihnen gestern, daß die republikanische Form das Gebiet sei, auf dem alle Fraktionen der bürgerlichen Klasse sich vereinen, und daß in gewissem Sinne die Monarchie, sofern sie über den Klassen steht, ihr überlegen ist. Er hätte vielleicht auch an das Wort Thiers' erinnern können, das der Ausdruck des Empfindens einer ganzen Klasse ist: ,Die Republik ist diejenige Regierungsform, welche uns am wenigsten trennt'. Also selbst wenn Sie die Republik gerettet hätten, so würden sie damit nichts für das Proletariat getan haben. Wenn das Proletariat, um sie zu retten, wenn sie in Gefahr ist, jedesmal seine Forderungen aufgeben muß, dann ist die Republik die schlimmste der Regierungen ... Schauen wir uns einmal die Reformen an, mit denen Sie das Proletariat beglückten. Sie rühmen die Ver-

20*

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weltlichung der Schule, die Trennung von Staat und Kirche? Nehmen wir an, daß die republikanische Bourgeoisie alles das durchführen würde, so würde dies keine Wirkung haben. Schauen Sie nach Amerika, wo die Kirche vom Staate getrennt ist! Der Unterricht ist trotzdem konfessionell, weil eben keine geistige Befreiung möglich ist vor der völligen Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft. Jaurès hat uns weiter gesagt, daß die Majorität Herrn Combes vielleicht nicht fragen werde, da beginne dann die Komödie des Antiklerikalismus wieder von vorn. Soll ich noch vom Zehnstundengesetz sprechen, von dem Sie sich das Verdienst zuschreiben? Das Gesetz ist mitten in der Reaktion 1892 beschlossen worden, und Sie haben nur die Ausführung um zehn Jahre verzögert. (Zwischenruf: Das stimmt nicht! Vaillant hat das Gegenteil in der Kammer erklärt.) Sie haben angekündigt, daß eine Arbeiter- Invalidenunterstützung in Vorbereitung sei; aber sie gewährt den Arbeitern nur den zehnten Teil dessen, was die Monarchie der Hohenzollern den Arbeitern gewährt hat. (Zwischenruf: Sie wissen, daß das nicht wahr ist.) Und was den Krieg anbetrifft, so haben wir ihn 1877 und 1880 vorausgesehen, Sie aber bereiten ihn vor, indem Sie das Militärbudget bewilligen. (Zwischenruf: Das ist wiederum falsch!) Es ist übrigens nichts Wunderbares, daß Sie so handeln. Ihr Irrtum ist ein fundamentaler. Sie verbinden den Sozialismus mit der Republik und mit der französischen Revolution. Wir aber sagen, daß der Sozialismus das Resultat rein wirtschaftlicher Erscheinungen ist, und diese Grundauffassung steht in unversöhnlichem Gegensatz zu Ihrer Auffassung. Sie machen aus der Republik das erste Kapitel oder das Vorwort des Sozialismus. Wenn das wahr wäre für Frankreich, dann wäre es auch wahr für alle Länder, deshalb bringen wir eben diese Frage vor das Proletariat aller Länder. Glaubt man,

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da für möglich halten, daß auf Grundlage dieses Programms eine Einheit in Frankreich zustande kommen kann?

Das ist unmöglich, und deshalb sollten wir im Interesse der französischen Einheit ernst und nachdrücklich gegen derartige Auffassungen Stellung nehmen, anstatt sie scheinbar zu unterstützen. Damit dienen wir der Einheit des französischen Sozialismus, andernfalls wirken wir mit an der Spaltung."

Gerade wenn wir diese guesdistischen Meinungen ablehnen, können wir dann um so fruchtbarer auch die jaurèsistische Taktik kritisieren. Es ist ja der Fluch jeder Sozialdemokratie, die sich spaltet, daß im Gegensatz der Richtungen jede über sich selbst hinaus entartet. Um diese Bemerkungen nicht ins Ungebührliche auszudehnen, verzichte ich für heute auf eine Auseinandersetzung mit dem Jaurèsismus, dessen schlimmster Fehler mir zu sein scheint, daß er die Block-Politik nicht als der Übel verhältnismäßig geringstes widerstrebend mitmacht, sondern sie überschwenglich als der Güter höchstes preist.

Wir sollten unsere französischen Genossen nicht in ihren Irrungen bestärken, weder die einen noch die anderen. Dann fördern wir unsererseits den Weg zur Einheit, die - wie Bebel in seinem begeisternden Schlußwort zu Amsterdam prophetisch kündete - der größte Glücksfall der internationalen Sozialdemokratie wäre. Ich halte die Dresdener Resolution für ein Manifest der richtigen Taktik, aber es widerspricht dieser Taktik, wenn man - wie Guesde es tut - den Kampf um die Republik, gegen den Klerikalismus für ein Nichts erklärt. Deshalb wollte ich dem möglichen Mißverständnis vorzubeugen suchen, daß die Ausführungen Kautskys wieder im Bruderzwist der französischen Genossen verschärfend und verwirrend benutzt werden könnten. E.

310

IV.

Daß eine Reihe bürgerlicher Blätter aus Bebels Äußerungen über den republikanischen Aberglauben den Schluß zogen, er wolle für den monarchischen Aberglauben Propaganda machen, war sonderbar genug. Nun fühlt sich aber gar der leitende Kopf unseres Zentralorgans genötigt, die Republik vor mir zu retten, der ich den gleichen Gedankengang wie Bebel entwickelt, und mir die Idee zu unterschieben, ich wollte für die preußische Monarchie gegenüber der französischen Republik eine Lanze einlegen.

Ein wenig mehr Verständnis für den Einfluß, den wir der Staatsform auf den Klassenkampf zuschreiben, hätte ich allerdings an dieser Stelle erwartet, namentlich angesichts meiner wiederholten ausdrücklichen Anerkennung der Wichtigkeit der republikanischen Staatsform für den Befreiungskampf des Proletariats.

Ich sehe jetzt, daß ich zu viel vorausgesetzt, und muß daher, um jedes Mißverständnis auszuschließen, nochmals den Gegenstand eingehender behandeln. Dazu erscheint mir aber der Vorwärts nicht geeignet; ich werde mich darüber in der Neuen Zeit äußern, und zwar nach dem Bremer Parteitag, wo für diese theoretische Frage in der Neuen Zeit mehr Platz und bei den Lesern mehr Interesse vorhanden sein dürfte als jetzt, wo der nahende Parteitag andere Dinge in den Vordergrund drängt.

Aber eines möchte ich nicht bis dahin verschieben.

Ich hatte die Empfindung, Genosse K. E. habe den Streit mit mir ohne jeden ersichtlichen Zweck vom Zaune gebrochen. Er belehrt mich eines Besseren. Eine sittliche Pflicht habe ihn dazu gedrängt im Interesse - der Einigung des französischen Sozialismus. Dieser dienten wir am besten dadurch, daß wir "ernst und nachdrücklich" gegen Jules Guesde Stellung nehmen und ihn entschieden desavouieren, der nur

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eine "individuelle Richtung" vertritt und dessen "Taktik in jedem Punkte der deutschen widerspricht".

So viel Worte, so viel Unrichtigkeiten.

Guesde sprach in Amsterdam nicht im Namen einer "individuellen Richtung", sondern im Namen der stärksten sozialistischen Organisation Frankreichs. Nichts falscher als die Angabe, die Jaurèsisten bildeten die stärkere Fraktion. Der Parti socialiste de France hat seine Mitgliederzahl im letzten Jahre von 15000 auf 17000 wachsen sehen, während die Mitgliederzahl der jaurèsistischen Organisation von 11000 auf 8000 zurückging. Vor der Öffentlichkeit freilich erscheint die letztere Organisation als die mächtigere, weil ihr die Mehrzahl der sozialistischen Abgeordneten angehört und sie über genügend Geldleute verfügt, um sich den Luxus zweier täglicher Blätter in Paris erlauben zu können, ganz abgesehen davon, daß die bürgerliche Presse ausschließlich von ihr Notiz nimmt und die andere Fraktion totschweigt. Aber als Organisation ist diese weitaus die stärkste.

Mit dieser soll nun die deutsche Sozialdemokratie einen Streit beginnen, mit derselben Leichtigkeit, mit der K. E. seinen Streit mit mir begann - im Interesse der Einigkeit des Proletariats! Und der gewichtige Grund, der ihm diese "sittliche Pflicht" auferlegt? Seine Deutung der Rede, die Guesde in Amsterdam gehalten hat. Ich sage, seine Deutung, denn ihr Inhalt ist ein anderer als die Deutung besagt. Vor allem ist der Wortlaut des Berichtes, nach dem K. E. zitiert, keineswegs einwandfrei. Einige der am anstößigsten klingenden Wendungen erinnere ich mich nicht gehört zu haben, obwohl gerade sie hätten auffallen müssen, und auch der Bericht der Rede, den der Socialiste, das Zentralorgan des P.S. de F. gibt, enthält diese Wendungen nicht.

Was aber den Inhalt der Rede anbelangt, so muß

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man zu ihrem Verständnis wissen, daß die Frage, um die es sich damals handelte, nicht etwa die war, ob wir die Republik wollen oder nicht, ob wir die Trennung der Kirche vom Staate wollen oder nicht; das erschien allen als selbstverständlich. Sondern es handelte sich darum, ob die Taten der bürgerlichen Republik für das Proletariat wirklich so immense Erfolge bedeuteten, wie Jaurès behauptete. Wenn man das in Betracht zieht, erhält die Rede einen ganz anderen Sinn, als K. E. ihr gibt.

So läßt z. B. K. E. Guesde sagen:

"Selbst wenn sie die Republik gerettet hätten, so würden sie damit nichts für das Proletariat getan haben. Wenn das Proletariat, um sie zu retten, wenn sie in Gefahr ist, jedesmal seine Forderungen aufgeben muß, dann ist die Republik die schlimmste der Regierungen."

Darauf erwidert K. E. entrüstet:

"Guesde hält die Staatsform für gänzlich gleichgültig, ja, wenn die Republik nur gerettet werden kann, wenn die Arbeiter ihre Forderungen aufgeben, dann ist sie ihm die schlechteste Staatsform. Welch unsinnige Hypothese! usw."

Nach dem Berichte im Socialiste hat Guesde in Wirklichkeit gesagt:

"Wenn es wahr wäre, daß Ihr die Republik gerettet habt, was habt Ihr dann durch Rettung der Bourgeoisrepublik zur Befreiung des Proletariats getan? Ihr habt die Idee des wahren Klassenkampfes verdunkelt, der darin besteht, daß dem Block des Proletariats der Block der Bourgeoisie gegenübersteht. Wenn man die Republik so auffaßt, dann wird sie zum schlimmsten Bankerott der Demokratie."

Hier wendet sich Guesde nicht gegen die Republik, erklärt sie nicht für gleichgültig, stellt keine Hypothese auf, sondern er erklärt: Um die Republik zu retten, habt Ihr den Klassenkampf verdunkelt, einen

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Block mit der Bourgeoisie gebildet, also ein Mittel erwählt, das die Vorteile aufhebt, welche die Republik für das Proletariat haben kann.

War Guesde nicht berechtigt, das zu sagen? Wie darf man daraus schließen, die Republik sei ihm gleichgültig?

Man denke sich einen analogen Fall in Deutschland. Nicht die Republik, wohl aber das allgemeine Wahlrecht ist bei uns gefährdet. Nehmen wir nun an, ein kluger Staatsmann erstünde in unserer Mitte und riete uns, um das Wahlrecht zu retten, sollten wir mit der Regierung Frieden machen, auf jede Opposition verzichten und dem Proletariat raten, von der Verfechtung seiner Forderungen abzustehen. Und nun wendete sich dagegen ein deutscher Guesde und riefe: "Nein, wenn das Wahlrecht nur gerettet werden könnte durch den Verzicht auf unseren Kampf und unsere Forderungen, dann würde der Versuch, es auf diese Weise zu retten, uns mehr schädigen, als der Verlust des Wahlrechtes selbst." Würde dann wohl K. E. mit derselben Logik behaupten, diesem deutschen Guesde sei das Wahlrecht etwas Gleichgültiges, seine Taktik widerspreche in jedem Punkte der deutschen Taktik und es sei unsere sittliche Pflicht, einen Mann, der uns so kompromittiert, entschieden abzuschütteln?

Wie mit der Staatsform, ist es mit der Trennung von Kirche und Staat. Guesde hat nirgends behauptet, daß "das keine Wirkung haben würde", wie K. E. ihn sagen läßt; er hat bloß Jaurès gegenüber, der von der "Befreiung der Gehirne" sprach, darauf hingewiesen, und mit Recht, daß man auch die Wirkungen einer so entschiedenen Maßregel, wie die Trennung von Kirche und Staat, in der bürgerlichen Gesellschaft nicht überschätzen und nicht erwarten dürfe, daß daraus schon die Entchristianisierung des Volkes hervorginge. In den Vereinigten Staaten sei das

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Christentum ebenso mächtig wie in Frankreich. Ist das etwa nicht auch richtig?

Was macht K. E. mit flinker Hand daraus?

"Guesde hält den Kampf gegen den Klerikalismus für wertlos, eine gute Schule könne erst in der sozialistischen Gesellschaft hergestellt werden. Insofern ist das richtig, als unsere Ideale erst mit Vollendung unserer Mission erreicht werden können. Aber hat jemals die deutsche Sozialdemokratie deshalb unterlassen, auch die kleine, positive Verbesserungsarbeit des Tages zu leisten? Guesdes Konsequenz ist der völlige Verzicht auf den Parlamentarismus, auf die Beeinflussung des Gesetzgebers, sie ist das Warten auf den einen großen Tag. Mit einem solchen Guesde könnte, wenn er in Deutschland wirkte, die Sozialdemokratie niemals einig werden, er würde sich unter anarchistischen Eingängern verlieren. Kann man es da für möglich halten, daß auf Grundlage dieses Programms eine Einheit in Frankreich zustande kommen wird?"

So wird Jules Guesde feierlich in der Lindenstraße aus der Sozialdemokratie ausgeschlossen, um die Einheit in Frankreich zustande zu bringen. Vergeblich fragt man, welche Worte Guesdes diese große Entrüstung K. E.s rechtfertigen. Sie sollen ein Programm sein, wo sie tatsächlich eine Kritik sind. Wenn aber Genosse K. E. das Programm Guesdes kennen lernen will, braucht er bloß das der sozialistischen Partei Frankreichs von 1903 anzusehen, an dem Guesde mitgearbeitet. Er findet da in 45 Paragraphen eine sehr ins Detail gehende Liste von Forderungen "für die kleine positive Verbesserungsarbeit des Tages", und gleich im 3. Artikel findet er die Forderung:

Trennung des Staates von der Kirche, Aufhebung des Kultusbudgets.

Oder will K. E. Guesde lieber nach seinen Taten beurteilen? Nun, Guesde kämpfte für die Republik,

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als dies in Frankreich noch eine revolutionäre Tat war, nicht ein Kampf um Konservierung der bestehenden Regierung. Die erste seiner vielen Gefängnisstrafen erlitt er unter dem Kaiserreich, 1870, wegen eines Artikels, in dem er die Bevölkerung aufforderte, sie sollte lieber, statt gegen die Deutschen, gegen das Kaiserreich zu Felde ziehen.

Als nach der Niederschlagung der Kommune in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wieder eine Arbeiterbewegung in Frankreich begann, da war Jules Guesde einer der Ersten, der seine ganze Energie und Begabung einsetzte, um Theorie und taktische Prinzipien der deutschen Sozialdemokratie nach Frankreich zu verpflanzen und im Gegensatz zu Anarchismus, Nurgewerkschaftlerei und Putschmacherei eine parlamentarische sozialdemokratische Partei zu begründen. Es waren schwere Kämpfe, die er zu führen hatte, nicht bloß gegen die Bourgeoisie, sondern auch gegen die eben gekennzeichneten Richtungen der französischen Arbeiterbewegung. Die einen wie die anderen hielten ihm gern als vernichtendes Argument den deutschen Charakter seiner Agitation entgegen. Seine Haltung war damals die gleiche wie heute, Marx und Engels haben sie mit Freuden begrüßt - sie wußten freilich wahrscheinlich nicht so gut, wie K. E., welches die Taktik der deutschen Sozialdemokratie sei, und konnten weniger scharf als er einen vollkommenen Sozialdemokraten, für den sie Guesde hielten, von einem "anarchistischen Eingänger" unterscheiden.

Als Guesde endlich ins Parlament kam (1893), da war er unermüdlich im Einbringen von Reform-Regeln zum Schutze der Arbeiterschaft. Ebenso großen Wert, wie auf diese parlamentarische Reformarbeit, legte er auf die Gewinnung von Majoritäten in den Gemeinden und deren Ausnutzung für die "kleine positive Verbesserungsarbeit". Die besten Leistungen

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des sogenannten Munizipalsozialismus sind in Frankreich mit dem Namen Guesdes und seiner Partei verknüpft. Endlich hat er die Gewerkschaftsbewegung stets gefördert soviel er konnte.

Wenn diese seine Tätigkeit seit einigen Jahren gehemmt ist, haben wir das nicht einer Veränderung seiner Anschauungen über die Reformarbeit zuzuschreiben, sondern einfach den Wechselfällen des Wahlglückes, das z. B. auch einen Viktor Adler hartnäckig vom Parlament fernhält.

Sollte die Schroffheit und Kürze der Guesdeschen Rede von Amsterdam wirklich einem Leser ihre Deutung im Sinne von K. E. nahelegen, so muß dies für jeden ausgeschlossen sein, der Guesde und seine Geschichte kennt. Wenn K. E. sie nicht kennt, so ist diese Unkenntnis ein schlechter Grund, einen der verdientesten Parteigenossen vor dem deutschen Proletariat herunterzureißen.

Ist auch Guesde nicht mehr in der Kammer, so steht er doch auf gleichem Boden mit seinen Genossen dort, deren Anschauungen und Taktik er völlig billigt. Da ist nun bemerkenswert die Tatsache, daß derselbe Jaurès, der jetzt die Wirkungen einer Trennung von Kirche und Staat so enorm übertreibt, diese Trennung erst praktisch fördert, seitdem die Regierung sich nicht mehr ablehnend dagegen verhält. Ich habe im vorigen Jahre in einem Artikel der Neuen Zeit über "Jaurès' Kirchenpolitik" dargelegt, wie zweideutig seine Haltung 1902 war, als es sich in der Kammer darum handelte, die Regierung zur Anerkennung dieser Forderung zu zwingen.

Als im Oktober 1902 in der Kammer der Kulturkampf gegen die Kongregationen verhandelt wurde, suchte die sozialistisch-revolutionäre Gruppe - die Freunde Guesdes - den Kampf zuzuspitzen und brachte eine Resolution ein, welche die Regierung einlud, das Konkordat aufzuheben und die Trennung

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von Staat und Kirche herbeizuführen. Jaurès aber, weit entfernt, sich dieser Resolution anzuschließen, wußte die Abstimmung über sie zu vereiteln, indem er eine andere einbrachte, die einfach, ohne ein Wort über die Trennung von Staat und Kirche zu enthalten, der Regierung ihr Vertrauen aussprach. Ich habe aber noch nie vernommen, daß K. E. deswegen Jaurès seine Mißbilligung ausgesprochen hätte. Noch mehr. Guesde wird von K. E. aus dem Rahmen der Sozialdemokratie ausgeschlossen, weil er sich über die Wirkungen einer Trennung von Kirche und Staat skeptisch äußert. Was tat aber Millerand ? Er stimmte für das Kultusbudget, lieferte der Priesterschaft 40 Millionen Staatsgelder jährlich aus. Das vermochte aber den warmen Sympathien keinen Eintrag zu tun, die Jaurès und K. E. für diesen würdigen Sozialisten empfanden.

Und derselbe K. E., der sich vor Entrüstung nicht fassen kann, weil Guesde meinte, die bürgerliche Republik wäre durch Preisgebung der Forderungen und der Selbständigkeit des Proletariats zu teuer erkauft, er trug es Millerand nicht nach, als dieser dem absoluten Despoten Rußlands die Hand küßte, und ich habe auch nicht mehr gesehen, daß er sich entrüstete, als Jaurès dem König von Italien seine Reverenz erwies. Derartiges hätte Guesde nie zustande gebracht, dazu ist er ein zu guter Republikaner. Er bekämpft das bürgerliche Regiment auch in der Republik, aber er bleibt der unversöhnliche Feind jeglicher Monarchie.

Man kann nach alledem ermessen, wie tief die sittliche Pflicht empfunden war, die K. E. zwang, gerade jetzt wegen einiger, wahrscheinlich nicht richtig berichteten, sicher falsch gedeuteten Worte jede Einigung eines Sozialdemokraten mit Guesde für unmöglich zu erklären. Das Wesen dieser sittlichen Pflicht wird aber noch deutlicher, wenn man erfährt, daß

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der Ausfall des K. E. gegen Guesde nichts ist als der getreue Abklatsch des Ausfalles, den wenige Tage vorher Jaurès in seiner Humanité gemacht.

In Amsterdam hatte Renaudel, ein Angehöriger der Minorität der Jaurèsisten, die in Opposition zu Jaurès steht, erklärt, seine Freunde seien bereit, die Einigung mit der Gegenseite, also Guesde und seinen Freunden, anzustreben. Er gab diese Erklärung ohne jede Einschränkung ab unter dem frischen Eindrucke der Guesdeschen Rede. Vaillant antwortete entgegenkommend in seinem und seiner Partei - also auch in Guesdes Namen. Jaurès hatte den Kongreß schon verlassen, als diese Erklärungen ausgetauscht wurden. Aber nach Paris zurückgekehrt, beeilte er sich, in der Humanité zu erklären, nach der Guesdeschen Rede sei eine Einigung unmöglich, solange nicht Guesde von seiner Partei desavouiert werde. Das heißt, indirekt, er lehnt die Einigung ab, die er direkt freilich nicht gut ablehnen konnte. Das ist nicht sehr erfreulich, aber begreiflich, denn für Jaurès steht viel auf dem Spiele, wenn sich die Einigung auf den in Amsterdam geschaffenen Grundlagen vollzieht.

Weniger aber ist es begreiflich, daß nun K. E. in dasselbe Horn stößt und die Jaurèssche Beweisführung für das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie kopiert, wodurch er dieses zum Werkzeug von Bestrebungen macht, die mühsam angebahnte und schwer durchzuführende Vereinigung der französischen Sozialisten zu durchkreuzen. Das ganze große Ansehen, das der Vorwärts, dank der Bedeutung der deutschen Sozialdemokratie, bei den Parteigenossen des Auslandes genießt, wird so von seinem Chefredakteur in den Dienst der Gegner der Einigung gestellt.

Das ist trotz aller sittlichen Pflichten, die er empfindet, die notwendige Folge seines Eingreifens in die französische Einigungsaktion. Es bedeutet eine ganz grundlose, ja geradezu mutwillige Störung des Kon-

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solidierungsprozesses der Sozialdemokratie Frankreichs, wogegen man nicht energisch genug Front machen kann.

Friedenau, den 4. September 1904.

K.

V.

Die Leser werden mit Verwunderung bemerkt haben, welchen Gang die Debatte genommen hat. Sie begann mit dem Protest gegen die Kautskysche "Interpretation", daß die Monarchie "keine direkte Klassenregierung" sei - daß aus tiefsinnigen Gründen die Bourgeoisie in demokratischen Republiken einen noch brutaleren Klassenkampf führe als in Monarchien -, sie endigt mit dem liebenswürdigen Hinweise, daß ich die Partei und den Vorwärts "kompromittiere". Da ich aber in dieser Kompromittierung beim besten Willen kein neues Argument für die relativ größere sozialpolitische Aufgeklärtheit der Monarchien und für die Verruchtheit der demokratischen Republik anerkennen kann, ist in diesem Punkte jede weitere Erwiderung überflüssig. Kautsky redet nicht mehr von der preußischen Steuergesetzgebung - er wird sich inzwischen überzeugt haben, daß der französische Etat weit antikapitalistischer ist als die preußischdeutsche Steuerschröpfung - und er erinnert auch nicht mehr an die französischen Streikmetzeleien. Ich bin so optimistisch, anzunehmen, daß er sich von diesen verzweifelten Argumenten hat abbringen lassen.

Dafür unterhält er sich nur noch über Guesdismus und Jaurèsismus. Er erweist mir die Ehre, mich für einen "Jaurèsisten" zu erklären, obwohl ich ausdrücklich meine Gegnerschaft bekannt habe, ja, er schreibt mir einstige Sympathien für Millerand zu, die ich zwar nicht für kompromittierend halten würde - denn warum sollte ich mich nicht aus der Ferne über den Charakter eines mir persönlich unbekannten Mannes

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irren dürfen? -, aber Kautsky ist doch wohl Leser der Neuen Zeit, und er weiß also, daß ich das einzige Mal, wo ich mich über die Frage des Ministerialismus geäußert habe - in Ausführungen, die ich noch heute in jedem Wort aufrecht erhalte -, rein theoretisch argumentiert und ausdrücklich jedes Urteil über den besonderen Fall Millerand abgelehnt habe.

Freilich, wie soll Kautsky noch richtig meine Ausführungen vom Jahre 1901 wiederzugeben imstande sein, wenn er nicht einmal korrekt wiederholt, was ich gestern geschrieben habe. Ich habe mit keiner Silbe die Ausschließung Guesdes aus der Partei verlangt; mir ist es fremd, solche Bannflüche für Beweise zu halten. Ich habe einfach festgestellt, ohne über Guesdes Vergangenheit ein Wort zu sagen, daß Guesde unter dem psychologischen Drucke, den Spaltungen immer bewirken, gegenwärtig Anschauungen vertritt, die mit der deutschen Auffassung nicht übereinstimmen. Ich habe gemeint, daß auf der Grundlage solcher Ansichten sich keine Einheit in Frankreich verwirklichen ließe. Darin hat Jaurès vollkommen recht, der - wie ich glaube, wieder mit Recht - gegen Guesdes Intransigenz sich auf Vaillants Anschauungen beruft. Schließlich hat ja auch die deutsche Delegation in Amsterdam ganz entschieden jenen "Guesdismus" zurückgewiesen, der auf dem merkwürdigen Wege der Übersetzung - "nicht erstreben" wurde in "nicht annehmen" übersetzt - die Dresdener Resolution grundsätzlich zu verschärfen suchte. Mein "Ausschlußantrag" aber beschränkt sich auf die ebenso bescheidene wie dringlich notwendige Mahnung, man solle Guesdes unmögliche Meinungen von gewisser deutscher Seite nicht noch unterstützen, ihn nicht in Äußerungen bestärken, die eine Einheit in Frankreich aussichtslos machen mußten. Die offenbare Tendenz dieser meiner Darlegung war, Guesdes deutsche Freunde selbst müßten ihn dahin beeinflussen,

21 Eisner, Gesammelte Schriften. I.

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daß er sich den klaren Anschauungen der deutschen Partei nähere, auf deren Basis eine Einigung auch in Frankreich möglich wäre. Guesdes Anschauungen, die er in Amsterdam vortrug, stehen - ohne Übersetzungskünste - nicht auf dem Boden der Dresdener Resolution und der Pariser Resolution Kautskys. Er war tatsächlich ebenso isoliert wie Jaurès.

Es wäre leicht, aus den letzten Jahren reiches Material zusammenzubringen, um zu erhärten, daß Guesde neuerdings nicht die deutsche Taktik vertritt; man denke z. B. an die Frage der Staatsschule, die Guesde ablehnt, weil man dem Bourgeoisiestaate jegliche Herrschaftsmittel verweigern müsse. Solche Unklarheit ist denn auch die Ursache, daß man auf dem letzten Liller Guesdistenkongresse die eigene guesdistische Fraktion arg gescholten hat, weil sie in der Kammer ganz - jaurèsistisch sei. Daher auch die bedenkliche Erscheinung, daß heute die französischen Scharfmacher, welche die "Kanaille", die in Marseille ausgesperrt ist, zu füsilieren auffordern, dem ehrlichen Guesde, gegenüber dem Geschäftssozialisten Jaurès, die Brüderschaft antragen. Bebel hat in Dresden gesagt, wenn er von den Gegnern gelobt werde, fürchte er immer, eine Dummheit begangen zu haben. Das trifft nicht immer zu, bleibt aber doch eine goldene Regel. Man wende sie nur - unbeschadet aller verständlichen und zu billigenden Kameradschaft - auf den Fall Guesde an!

Noch ein Wort über mein Zitat aus Guesdes Taktikrede. Kautsky, der übrigens meine Kritik der guesdistischen Äußerungen an der entscheidenden Stelle abbricht, bezweifelt den von mir gegebenen Wortlaut. Ich habe allerdings das Verbrechen begangen, wörtlich aus dem Manuskript - des amtlichen Protokolles des Amsterdamer Kongresses zu zitieren. Ich finde aber, daß der Text, wie ihn Kautsky gibt, noch viel kompromittierender für Guesde ist. Danach hätte

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Guesde in Amsterdam gemeint, wenn man die Republik nur durch einen "Block" mit der Bourgeoisie retten könne (d. h. doch nur mit gewissen Gruppen der Bourgeoisie), so sei diese "Verdunkelung des Klassenkampfes" die ganze Republik nicht wert. Und Kautsky fügt hinzu, wenn wir nur durch solch einen "Block" mit der Bourgeoisie das Wahlrecht in Deutsch-land retten könnten, so wäre das auch verwerflich. Der Vergleich ist schon deshalb sinnlos, weil es in Deutschland gar keine demokratische Bourgeoisie gibt, die sich auf einen "Block" mit der Sozialdemokratie einlassen würde. Gäbe es aber solche Hilfe, so würde nur der sie zurückweisen, "der dem Wahlrecht keine Träne nachweint".

Aber freilich, Kautsky macht sich das Beweisen leicht. Als Bedingung des "Blockes" setzt er den Verzicht des Proletariats auf seine Forderungen voraus. Warum geht er nicht weiter und nimmt als Bedingung solchen Zusammengehens an, daß sich alle Sozialdemokraten aufhängen sollen; dann ließe sich noch leichter beweisen, daß dann das Wahlrecht für die Sozialdemokraten keinen Wert habe. Ich gestehe, daß ich solche Scherze für kompromittierend halte. Selbstverständlich muß man unter allen Umständen die Republik retten, selbstverständlich muß man mit allen Mitteln das Wahlrecht retten. Solche Verzichtleistungen, wie sie Kautsky an die Wand malt, sind weder jemals in Frankreich vorgekommen, noch sind sie sonst denkbar - nur ein Tollhäusler von Bourgeois könnte solche Verpflichtungen auch nur fordern, weil er ja genau weiß, daß keine Macht der Welt ihre Erfüllung erzwingen könnte.

Um schließlich noch zu dem ernsten Ausgang der Debatte zurückzukehren. Will man den Unterschied zwischen der Sozialpolitik in einer demokratischen Republik und der Monarchie, "die keine direkte Klassenregierung" ist, so braucht man nur an Krimmitschau

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zu erinnern, wo, obwohl es sich um eine von den Unternehmern provozierte Machtprobe handelte, die Regierung durch alle Organe nicht nur nicht zugunsten der Arbeiter vermittelte, sondern mit gepanzerter Faust jede öffentliche Ausübung des Koalitions-rechtes verhinderte, sogar die Weihnachtsfeier unterdrückte.

Gegenwärtig spielt sich in Marseille ein gewaltiger Konflikt zwischen Arbeitern und Unternehmern ab. Die ganze reaktionäre Presse fordert unablässig zur gewaltsamen Niederschlagung der Hafenarbeiter und Matrosen auf. Im monarchischen Staate der deutschen Sozialreform ist es unseren Genossen auch gelungen, das Koalitionsrecht für die Matrosen der Handelsmarine zu erringen. In diesem "brutalen" Frankreich aber, das sogar ein Koalitionsverbot für Matrosen aus dem Kaiserreich bewahrt hat, verhält sich die Regierung nach der Schilderung eines bürgerlichen Blattes, des Hamburger Korresp., wie folgt:

"Der Präsident der Pariser Handelskammer, der mit unermüdlichem Eifer eine Verständigung zwischen den Reedern und den ausgesperrten und streikenden Hafenarbeitern und Handelsmatrosen herbeizuführen sucht, hat sich nach der Unterredung mit den Vertretern der Reeder und Spediteure überaus entmutigt gezeigt, da alle seine versöhnlichen Bemühungen abgelehnt wurden. Die Reeder verlangen als Grundbedingung für den Eintritt in weitere Unterhandlungen erstens die strenge Durchführung des Dekrets von 1852, das die ein Schiff verlassenden Handelsmatrosen den Deserteuren hinsichtlich der zu verhängenden Strafen gleichstellt. Die Reeder beharren bei dieser Forderung, obwohl der Marineminister Pelletan erklärt hat, daß er sich nie und nimmer dazu verstehen würde, jenes absolut undurchführbare Dekret anzuwenden, wie dies übrigens auch sein direkter Vorgänger im Amte, Herr de Lanessan, auf Grund eines Gut-

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achtens einer Kommission von Admirälen getan hat. Unter den Hafenarbeitern und Matrosen hat die Haltung der Reeder eine sehr gereizte Stimmung verursacht, die bereits in dem Beschlusse der Hafenarbeiter zutage getreten ist, von der Föderation in Cette zu verlangen, daß diese den allgemeinen Ausstand aller Hafenarbeiter der französischen Mittelmeerhäfen des Festlandes und Algeriens anordne, falls den Marseiller Arbeitern nicht sofort die verlangte Genugtuung gewährt wird. Die Ausdehnung der Arbeitseinstellung auf die anderen französischen Häfen des Mittelmeeres würde so schwere wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen, daß man denn doch noch auf eine gütliche Beilegung des Konfliktes zählen zu dürfen glaubt. Die Aussichten darauf sind aber sehr gering, zumal die Reeder als zweite Bedingung für eine Verständigung mit den Arbeitern und Matrosen von der Regierung ernstliche Bürgschaften dafür verlangen, daß die zukünftigen Abmachungen von den Arbeitern vollinhaltlich respektiert werden. Derartige Bürgschaften wird die Regierung aber kaum bieten können. Sehr energisch verwahren sich die Reeder gegen das Schreiben des Handelsministers Trouillot, der sie bekanntlich an die in den abgeschlossenen Verträgen enthaltenen Strafbestimmungen erinnerte. Die Reeder glauben in dem Schreiben des Handelsministers einen nicht zu rechtfertigenden Einschüchterungsversuch der Regierung erblicken zu müssen."

Zu bemerken ist dazu, daß trotzdem de Pressensé in Jaurès Humanité die Schwäche und Halbheit der Regierung gegenüber den Unternehmern sehr entschieden tadelt.

E.

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