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Die Theorie des großen Kriegs

Der Offensivgeist, der die militärische Anschauung in Deutschland bedingungslos beherrschte, übte auch auf die Heeresleitungen des Auslandes Einfluß, wenn auch dort, wie es scheint, man zumeist im Kampf der Meinungen nicht zu einer einheitlichen Anschauung gelangt ist. Übrigens verrät während des jetzigen Krieges selbst die Tagespresse des Auslands eine bemerkenswerte intime Kenntnis der deutschen Militärliteratur, während die deutsche Presse es bisher nicht für notwendig erachtete, in Deutschland Kenntnisse für die fachliche Arbeit der fremden Militärs zu verbreiten.

Gerade in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg hat man in Deutschland wiederholt in aller Ausführlichkeit und mit militärischer Sachlichkeit die Bedingungen des großen Krieges erörtert. Im Jahre 1909 erschien in dem bekannten Militärverlag von Mittler & Sohn ein umfangreiches, mit genauen Plänen ausgestattetes Werk des Generals Freiherrn v. Falkenhausen: "Der große Krieg der Jetztzeit. Eine Studie über Bewegungskampf der Massenheere des 20. Jahrhunderts", ein Buch, das - nach dem russisch-japanischen Krieg erschienen - unmittelbar in die herrschenden Auffassungen einführt.

Falkenhausen beginnt zunächst in üblicher Weise mit der Verteidigung des Krieges überhaupt. Er wendet sich gegen die Versuche, den Krieg abzuschaffen: "In der Jetztzeit braucht der Krieg den letzten Mann, und was ebenso einschneidend wirkt, den letzten Groschen. Dabei ist die Opferfreudigkeit des jetzigen Geschlechts

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für allgemeine Zwecke nicht gewachsen. Vermehrtes Wohlleben bis in die breiten untersten Volksschichten hinein haben die Liebe zum Leben und Besitz gesteigert. Selbstliebe und Eigennutz sind mächtig geworden. Ideale gelten nicht mehr viel. Die Treue zum Herrscher und die Liebe zum Vaterlande werden von bei den Massen einflußreichen Vertretern der zersetzenden Richtung unserer Zeit geflissentlich untergraben. Alles dies schafft einen trefflichen Nährboden für die Bestrebungen derer, die den Krieg beseitigt haben wollen ... Dichterische und wissenschaftliche, schriftstellerische und bildliche Erzeugnisse wetteifern mit Versammlungen, ja Ausstellungen der Friedensfreunde, um durch lebhafte Schilderung der Greuel des Krieges auf die geschwächten Nerven unseres Geschlechts zu wirken." Aber auch trotz der sogar wiederholten Friedenskonferenzen im Haag werde der "erfahrene und besonnene Kriegsmann den Glauben an die Notwendigkeit seines Berufs nicht verlieren. Der Gedanke eines ewigen Friedens sei eine Utopie," "er entspricht unklarem Denken und schwächlichem Fühlen". Die ernste Pflicht für jeden, der mit der Kriegsführung zu schaffen hat, sei es, "mit allen Mitteln anzukämpfen gegen die Gefahren und Hindernisse, welche aus der Abwendung vom kriegerischen Sinn und Denken entstehen. Dagegen wird alle Kraft des Nachdenkens darauf hinzulenken sein, wie man imstande ist, sich gründlich vorzubereiten auf kriegerische Ereignisse, welche die Zukunft, vielleicht die nächste bringen kann."

Diesem Zweck dient das genannte Werk. "Grundlegend" für die Strategie des zukünftigen großen Krieges, so meint Falkenhausen, sei noch immer der deutschfranzösische Krieg von 1870/71. "Ergänzend" sei der russisch-türkische Krieg von 1877/78, der Burenkrieg und der russisch-japanische Krieg von 1904/5 zu berücksichtigen. "Die Bedeutung für die große Kriegs-

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führung wie der deutsch - französische Krieg haben alle diese, auch der letzte nicht, aber sie sind von Wichtigkeit wegen der bei ihnen zutage tretenden fortschreitenden Wirkung der Feuerwaffen und Sprengmittel." Aber das Studium der Kriegsgeschichte genugt nicht, man müsse eine klare Vorstellung von dem Zukünftigen gewinnen. Der Krieg der Zukunft sei bestimmt durch die Millionenheere, durch die Masse. "Die selbstverständliche Folge der Massenaufgebote und der kürzeren aktiven Dienstzeit ist eine Verringerung des inneren Gehalts der aufgestellten Truppenkörper. Nicht nur der früher nicht in diesem Maße bekannten, zur Verwendung in zweiter und dritter Linie bestimmten, sondern infolge der für diese notwendigen Abgaben auch derjenigen der vordersten Linie." Falkenhausen empfindet im Grunde das Massenheer als ungesunde Entwicklung. Die Zahl im Kriege sei nicht ausschlaggebend. Aber einstweilen müsse man nun einmal mit dem Massenheer rechnen.

Der kommende Krieg ist nicht nur durch die Massen gekennzeichnet, durch die mehr und mehr sich durchsetzende Ausgleichung in der Beschaffenheit der verschiedenen Heere, sondern auch durch die Politik der Bündnisse - die mehrere Völker zugleich in den Krieg ziehen - und durch die Verbindung von Land- und Seekrieg. Schließlich wirkt die Vervollkommnung der Technik bestimmend, wenn man deren Einwirkungen auch nicht überschätzen dürfte: "Die letzten Erfolge der Kriegsführung werden immer auf dem Gebiete der lebendigen Kraft liegen."

Falkenhausen legt nun folgende Kriegslage zugrunde:

Zu dem verbündeten blauen Heere gehören Deutschland und Österreich; zu dem verbündeten roten Heere Frankreich, England und Italien. Die Schweiz, Belgien, Luxemburg und Holland sind neutral. Die Neutralität der Schweiz wird gewahrt, die der übrigen

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genannten Staaten von dem roten Heer durchbrochen. Frankreich hat unter Verletzung der Neutralität von Belgien und Luxemburg überraschend mit Truppen des Friedensstandes seine Nord- und Ostgrenze überschritten, England unter dem Schutze einer englischfranzösischen Flotte Truppen in Holland gelandet. Die Zerstörung der deutsch-linksrheinischen Eisenbahnen ist an mehrfachen entscheidenden Stellen in nachhaltiger Weise gelungen. Italien hat das Trentino überraschend besetzt und vereinigt seine übrigen Streitkräfte bei Verona, Venedig, Udine. Deutschland ist infolge der geschilderten Verhältnisse gezwungen, seine Heere am Rhein und in Süddeutschland zu versammeln. Seine Flotte verhält sich abwartend in Nord- und Ostsee. Österreich wendet sich mit seinen Hauptkräften gegen Italien und verstärkt die deutschen Truppen in Süddeutschland.

Der Verfasser fügt hinzu, daß er für sein Schulbeispiel ebenso gut eine gegen Osten gerichtete Lage hätte annehmen können

Der Krieg beginnt im April. Die deutschen Streitkräfte gliedern sich in vier Armeen, zu denen als fünfte die österreichischen Hilfstruppen (sechs Armeekorps und 2 Kavalleriedivisionen) kommen. Außerdem stellt Deutschland drei Reservearmeen auf. Die vier deutschen Armeen versammeln sich am Rhein zwischen Wesel und Rastatt, die drei Reservearmeen in zweiter Linie dahinter. Die österreichische Hilfsarmee wird bei Ulm Zusammengezogen. Das große Hauptquartier ist in Frankfurt a. M.

Ein Aufmarsch von 11/4 Millionen auf deutscher Seite ist angenommen. Die von Blau besetzte Rhein-linie hat eine Breite von 400 Kilometern. Nach den bis zum 14. April früh eingegangenen Nachrichten sind die roten Truppen inzwischen in das südliche Oberelsaß eingedrungen, haben den Rhein bei Müllheim und Hüningen überschritten; sie haben Neu-

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stadt, Freiburg, Breisach, Lahr erreicht. Im nördlichen Oberelsaß wird Schlettstadt besetzt, ebenso Zabern und Saarburg. In Lothringen werden Metz und Diedenhofen eingeschlossen. Andere feindliche Truppen dringen durch Luxemburg vor und durch Belgien; sie besetzen Namur, Lüttich, Brüssel. Belgien hat gegen den Einmarsch der roten Truppen Verwahrung eingelegt und seine Truppen bei Antwerpen zusammengezogen, wo sie von Rot beobachtet werden. Die englischen Truppen besetzen Holland, die rote Flotte beherrscht die Nordsee und ist auch in die Ostsee vorgedrungen."

Dieses Kriegsbild beginnt also mit einer recht ungünstigen Lage der deutsch-österreichischen Truppen. Der Einfall des Feindes geschah so plötzlich, rasch und infolge der Neutralitätsverletzungen so umfassend, daß man, um die Versammlung der blauen Truppen zu sichern, den Aufmarsch nicht mehr an die Grenze verlegen kann, sondern zunächst am Rhein Stellung nehmen muß. Ein Widerstand der belgischen Truppen ist nicht erfolgt. "Es war der großen Überlegenheit gegenüber auch nicht zu erwarten." Über die politischen Wirkungen der Neutralitätsverletzung wird gesagt: "Der Gedanke, infolge des roten Einmarsches die Selbstständigkeit zu verlieren, kann eine Rot freundliche Haltung Belgiens erschweren. Dann wird Rot auch weiter einen Teil seiner in Belgien eingedrungenen Kräfte gebrauchen, um die belgischen Truppen und Festungen in Schach zu halten und sie zu verhindern, im Laufe der Ereignisse feindlich aufzutreten. Das unter dem Drucke des roten Einmarsches stehende Belgien günstig für sich zu stimmen, wird eine hauptsächliche Aufgabe der blauen Politik sein. Da die Neutralität aber einmal gebrochen ist, kann auch von Blau auf diese keine Rücksicht mehr genommen werden soweit die jetzt unbedingt an der Spitze stehenden Bedingungen der Kriegsführung dies erfordern. Hieraus

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wird sich bei günstigem Verlauf der blauen Vorbewegung in weiterem Verfolg der bedeutende Vorteil ziehen lassen, daß die starken Befestigungsanlagen an der französischen Grenze wirksam umgangen werden können. Dieser Umstand wird auf die Maßnahmen von Blau von Anfang an bestimmend wirken." Auch die Truppenlandung in Holland findet keinen Widerstand. Blau hat nun die Aufgabe, sich aus der Zwangslage zu befreien. Es gilt, den Rhein zu überschreiten und nicht in der Verteidigungsstellung zu beharren. Man muß zum Angriff schreiten, durch Lothringen und durch Belgien vordringen. Am 14. April ist die Versammlung der blauen Truppen bei Saarbrücken, Trier, Aachen, Rottweil.

Der erste Zusammenstoß der dritten, durch die zweite Reservearmee verstärkten blauen Armee mit dem Feind erfolgt an der Blies, bei St. Wendel. Die rote Armee hat eine Front von 40 km. Das blaue Hauptquartier, das inzwischen nach Landstuhl verlegt ist, befiehlt für den 20. April früh den Angriff. Die Schlacht an der Blies beginnt pünktlich zur festgegesetzten Zeit am 20. April. Von 8-10 Uhr vorm. Artilleriekampf auf der ganzen Linie - ohne Entscheidung. Dann überschreiten die Blauen den Blies. Am frühen Nachmittag droht beiden Flügeln der roten Armee Umfassung, infolgedessen Rückzug nach der Saar. Der zurückweichende Feind wird unverzüglich von den Blauen verfolgt. Am Abend des 20. April versammelt sich unter großen Schwierigkeiten die rote Armee am linken Saarufer. Es ist ein voller Erfolg der Blauen, wenn auch keine Vernichtung der Roten. "Als Ursache des Erfolges fällt die blaue Überlegenheit an Zahl (um 100000 Mann) schwer ins Gewicht. Es ist von jeher als die hauptsächliche Aufgabe der Kriegskunst, zu der auch das sogenannte Glück gerechnet werden muß, angesehen worden, auf dem entscheidenden Punkte der Stärkere zu sein." Diese

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Überlegenheit der Zahl ermöglicht die Offensive. "Daß ... die Verteidigung nicht die stärkere Form der Kriegsführung ist, kann . . aus inneren seelischen Gründen und nach den Tatsachen der Kriegsgeschichte bis in die neueste Zeit hinein unzweifelhaft behauptet werden." Der Mißerfolg der Roten wird, abgesehen von der geringeren Zahl, den Fehlern und Mängeln einer nicht genügend beweglichen Verteidigung zugeschrieben, "welche sich vom Angreifer fesseln und von diesem das Gesetz vorschreiben läßt". Dagegen ist der Sieg von Blau dem ungestümen Angriff zu danken: "Der Schlachterfolg der blauen Truppen ist bei schwerem Ringen schließlich doch im Lauf eines Schlachttages erzielt worden. Es wird jetzt vielfach behauptet, die Schwierigkeiten des Angriffs wären nicht an einem Tage zu besiegen . . . Mehrtägige Kämpfe werden auch in Zukunft nicht ausbleiben. Sie zu vermeiden, wird das Bestreben jeder kräftig und geschickt eingeleiteten Angriffsbewegung sein. Ein wiederholter Angriff gegen starke Stellungen erfolgt immer unter herabgestimmten seelischen Zuständen des Angreifers. Gerade die unaufhörliche Bedrängnis ist es, welche schließlich zum Verlassen der Verteidigungsstellung zwingt."

Die vierte blaue Armee trifft bei Hagenau bereits am 18. April mit dem Feind zusammen und schlägt sie bis zum Eintritt der Dunkelheit zurück. Am 20. April siegt die vierte blaue Armee über Rot an der Saar. Dagegen wird die zweite blaue Armee am 20. April bei Trier zum Rückzug gezwungen. Die durch Belgien vordringende zweite Armee erkämpft - nachdem die belgische Besatzung von Lüttich ihre Neutralität erklärt - am 20. April bei Verviers einen entscheidenden Sieg; der größte Teil der roten Truppen wird gefangen genommen. So ist - mit Ausnahme der zweiten Armee - bis zum 20. April Blau überall siegreich. Der rote Mißerfolg wird dem Verzicht auf eine

5 Eisner, GesammeIte Schriften. I.

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kräftige Durchführung des Angriffsverfahrens zugeschrieben. "Es fehlt im großen ganzen der unerschütterliche Wille, dessen der Erfolg im Kriege bedarf."

Wie zu Lande, so ist auch zur See Blau zunächst durch den überraschenden Überfall in eine Zwangslage gebracht worden. Trotzdem siegt schon am 17. April bei Neuwerk die blaue Flotte über rote Geschwader In der Nacht vom 16. zum 17. April hatte Rot bei Emden Truppen gelandet, schifft sie aber - nach dem Bekanntwerden von der Niederlage bei Neuwerk wieder ein. Auch in der Ostsee waren am 17. in der Lübecker Bucht rote Seetruppen wirkungslos gelandet. Am 18 April nachmittags gelingt es aber der blauen Flotte in der Gegend der Doggerbank die rote zum Kampfe zu stellen, der günstig für Blau ausfällt und mit dem Rückaug des roten Geschwaders nach der Ostküste von England endet Falkenausen nennt den Angriffsplan der roten Flotte großzügig. "Er umfaßt aber, auf die etwa doppelte Überlegenheit vertrauend, zu viel auf einmal." Dem stand auf blauer Seite "eine kräftige, entschlossene und geschickte Ausnutzung der Lage" gegenüber: "Ein Wagnis blieb der Entschluß zum Kampfe immer noch, aber er führte, wie so oft im Kriege, zum Erfolg."

Dabei war die Lage von Blau noch durch politische Rücksichten ungünstig beeinflußt worden. Die blaue 1. Kavallerie-Division hatte infolge der Weisungen der obersten Heeresleitung das Betreten holländischen Gebietes vermieden. Diese Weisungen "wurden augenscheinlich schärfer aufgefaßt, als sie beabsichtigt waren. Denn eine Hintansetzung kriegerischer Zwecke kann die blaue oberste Heeresleitung nicht im Sinne gehabt haben, wenn sie aus politischen Rücksichten die Forderung stellte, das Betreten holländischen Gebiets möglichst zu vermeiden". Nach der roten Neutralitätsverletzung bewegten sich blaue Streif-

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patrouillen "mit großer Zurückhaltung auf blauem Gebiet".

Nach den unerwarteten Seesiegen vom 17. und 18. April ist die Lage der roten Hilfstruppen so schwierig geworden, daß deren Regierung in Friedensverhandlungen eintritt, zumal Holland, von der blauen Diplomatie gewonnen, sei ne Zurückhaltung gegen Rot aufzugeben droht. Schon am 20. April wird der Kriegszustand zwischen Blau und den roten Hilfstruppen aufgehoben. Holland verbündet sich mit Blau und gestattet den Durchmarsch von blauen Truppen sowie seiner Bahnen und Häfen gegen Entschädigung. ähnliche Verhandlungen werden auch mit Belgien eingeleitet.

In der Nacht vom 20. zum 21. April beschließt die oberste blaue Heeresleitung, den von Anfang an gehegten Gedanken einer nördlichen Umgehung der ausgedehnten roten Befestigungstruppen von Verdun bis Nancy mit allen verfügbaren Kräften ungesäumt in Angriff zu nehmen. Aus dem großen Hauptquartier in Homburg ergeht also am 21. April vormittags an die Oberkommandos der Befehl: "Auf allen Punkten ist sofort Vormarsch fortzusetzen." Für die erste Armee ist der Weg durch Belgien frei. Demgemäß rücken auch die anderen blauen Armeen vor. Rot weicht hinter die schützende Maaslinie in der Richtung Verdun zurück. Am 25. April muß die oberste b lau e Heeresleitung infolge veränderter Verhältnisse den ursprünglichen Plan abändern. Es darf keine Zeit verlor en werden, um die Entscheidung herbeizuführen. Den blauen Truppen werden die größten Anstrengungen Zugemutet. Am 28. April wird an beiden Maasufern die Entscheidungsschlacht geschlagen, die das Große Hauptquartier von Stenay aus leitet. Die Roten werden zum Rückzug gezwungen, die teilweise in aufgelöste Flucht ausartet. Der leitende Gedanke von Blau, Umgehung des roten linken Flügels mit

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starken Massen, "war mit Anwendung äußerster Kraft folgerichtig und einheitlich bis zu den letzten Zielen durchgeführt worden".

So ist binnen 13 Tagen, nach Beginn der blauen Offensive, der Weltkrieg entschieden, ohne einen einzigen - Spatenstich!

Januar 1915.

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