Völkerrecht.

Einige Anmerkungen.

Ich kann mich in keiner Weise einverstanden erklären mit der Déclaration de St. Petersbourg, daß die "Schwächung der feindlichen Streitmacht" das allein berechtigte Vorgehen im Kriege sei. Nein, alle Hilfsquellen der feindlichen Regierung müssen in Anspruch genommen werden, ihre Finanzen, Eisenbahnen, Lebensmittel, selbst ihr Prestige.

Graf Moltke an J. C. Bluntschli 1880.

So fern es auch während eines Krieges die Aufgabe wissenschaftlichen Denkens und Forschens bleiben sollte, die Wahrheit zu ermitteln, kann ich mich nicht zu der Methode des Münchner Historikers Hans Prutz bekennen, daß ohne umfassende Kenntnisse aller Tatsachen und Urkunden schon auf Grund einseitiger Parteibehauptungen ein Urteil über Recht oder Unrecht dieser und jener Erscheinungen ausgesprochen werden darf. Ebensowenig vermag ich in Wettbewerb mit jenen in allen Ländern zahlreich auftretenden Völkerrechtsgelehrten zu treten, die es jetzt für ihre Pflicht halten, je nach ihrer staatlichen Zugehörigkeit die Völkerrechtsverletzungen des eigenen Landes entweder zu leugnen oder zu beschönigen, die der feindlichen Länder zu behaupten und anzuklagen. Mir scheint es ebensowenig die Aufgabe eines Völkerrechtslehrers zu sein, das Völkerrecht als polemische Waffe gegen den Feind zu mißbrauchen und damit wissenschaftlich und praktisch zu entwerten, wie es mir nicht die Herzensangelegenheit gerade von

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Künstlern zu sein scheint, Zerstörungen von Kunstwerken zu verteidigen und unersetzlichen Kulturbesitz für minder wertvoll zu erklären als ein einziges Menschenleben, das vermeintlich durch die Zerstörung eines Kunstwerks gerettet werden könnte. (Ich wenigstens werte m e i n Menschenleben nicht so hoch wie eine Schöpfung ewiger Kunst, und schätze die Kunst nicht so niedrig ein, daß sie weniger sei als lebendige Wesen, deren völlige Wertlosigkeit ja gerade gegenwärtig dadurch bewiesen wird, daß sie millionenfältig verstümmelt und vernichtet werden.)

Die üble Phrase von der "Voraussetzungslosigkeit" der Wissenschaft hat den guten Sinn, daß ihre Forschungsergebnisse nur abhängig sein dürfen von den immanenten Methoden der Wissenschaft, niemals aber von irgendeiner äußeren Autorität, nicht von einem religiösen Dogma, noch weniger gar von dem Zufall der Staatsangehörigkeit. Wer diese Unbefangenheit heute nicht aufzubringen vermag, soll schweigen, nicht aber unter dem Schutz eines Titels oder Amts, was ihm an wissenschaftlichem Ernst abgeht, durch das Feuer seiner unbezweifelten heiligen Überzeugungen ersetzen.

Die nachfolgenden völkerrechtlichen Betrachtungen liegen abseits von allen apologetischen und polemischen Absichten. Sie wollen verdunkelte Tatsachen ans Licht stellen, trübe Erscheinungen erklären, Probleme - an ein paar zufällig gewählten Einzelbeispielen - dem Nachdenken vorstellen. Und wenn diesen Anmerkungen dennoch auch die Absicht einer Wirkung zugrunde liegen sollte, dann ist es nur die: die völlige Zerstörung des Völkerrechts, als des Rechts einer Völkergemeinschaft, nicht dadurch herbeizuführen, daß man es unnützlich im Munde führt.

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I.

Rechtsmäßige Völkerrechtsverletzungen.

Zu den niederdrückendsten Erscheinungen dieses Weltkrieges gehört die Mißhandlung des Völkerrechts. Alle kriegführenden Parteien werfen sich unablässig gegenseitig Verletzungen des Völkerrechts vor. So ist nach den beiden Haager Weltfriedenskonferenzen von 1899 und 1907, von denen manche Schwärmer den Beginn eines modernen Völkerbundes des Rechts und des Friedens, den Anfang einer "Organisation der Welt" datieren wollten, gerade in der Zeit, wo ein dritter Haager Kongreß hätte stattfinden sollen, die Idee der Schiedsgerichte durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges seit einem Jahrhundert gegeißelt worden; und auch die Bemühungen um völkerrechtliche Bindung der "Humanisierung" des Krieges sind zerstört worden. Wer die diplomatischen Akten der Vereinigten Staaten kennt, deren Pariser Gesandten 1870/71 der Schutz der Deutschen anvertraut war, der weiß, mit welcher Menschlichkeit, Kraft und Unparteilichkeit damals dieser Vertreter Amerikas gegen beide kriegführenden Parteien das Völkerrecht gegen jede Antastung - im strengsten und weitesten Sinne - verteidigte; und wie man damals mit Ernst und Würde Ausschreitungen bekämpfte, die heute viel zu harmlos erscheinen würden, als daß man ihnen nur die gespielte Empörung von fünf Druckzeilen widmen möchte. Heute gehört die Völkerrechtsverletzung zum alltäglichen Betrieb, und dies, nachdem zum erstenmal 1907 im Haag sogar etwas wie eine Schadenersatzpflicht (in allerdings sehr unbestimmten und unklaren Wendungen) für Völkerrechtsverletzungen beschlossen worden ist.

Schlimmer noch: Gerade die völkerrechtliche Bindung, die im Haag versucht wurde, ist zum Quell einer furchtbaren Kriegsverschärfung geworden. Das ver-

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besserte Völkerrecht hat insofern die Völkerrechts-Verletzungen gesteigert, als die gegenseitigen Beschuldigungen des Völkerrechtsbruchs zu Repressalien führten, die natürlich wiederum weit außerhalb des Völkerrechts ihre verheerenden Mittel der Abschreckung, Strafe oder Rache wählten. Dabei ist es in der Wirkung ganz gleichgültig, ob etwa die Deutschen sich zu solchen Abwehrmitteln genötigt sahen, weil vom Feinde das Völkerrecht wirklich verletzt war, oder ob Kosaken erlogene Verletzungen nur zum Vorwand nahmen, um sich nach Herzenslust außerhalb des Völkerrechts ausrasen zu können - auf "rechtmäßige" Weise.

Die Berufung auf das Völkerrecht wirkte auf zweierlei Weise schädlich und schürend. Man behauptete völkerrechtswidrige Vorkommnisse, die tatsächlich nicht geschehen oder mindestens nicht erweislich waren. Oder man berief sich auf Erscheinungen, die freilich an sich Tatsachen waren, die aber zu Unrecht als mit dem Völkerrecht unvereinbar gekennzeichnet wurden. Gerade solche Beschuldigung aber kann dann zu wirklichen schwersten völkerrechtsverletzenden Repressalien führen, ohne daß sie im Geiste des Völkerrechts begründet wären.

Wenn es nun die beiden wichtigsten Aufgaben des Völkerrechts sind, Kriege zu verhindern oder, wenn das nicht möglich, ihre Leiden nicht über das Maß des Notwendigen zu steigern, so hat die Presse die völkerrechtlich gebotene Pflicht, nicht ihrerseits die Kriegsleiden über den Grad des Unvermeidlichen hinaus dadurch zu erhöhen, daß sie jenes mißbräuchliche, nur der Verhetzung und Verrohung dienende Völkerrechtsgeschrei erhebt, anstatt sowohl die Tatsachen gewissenhaft zu prüfen als auch die wahren völkerrechtlichen Bestimmungen in Wortlaut und Sinn festzustellen. Statt dessen haben wir schaudernd erlebt, um ein deutsches Beispiel zu erwähnen, wie ein großes

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Blatt monatelang fast täglich in immer neuen Wendungen als "Repressalie" die Abschießung von Gefangenen verlangte, bis es in dem schauerlichen Aberwitz der Forderung strandete, daß englische gefangene Offiziere in den vordersten deutschen Schützengräben festgebunden werden müßten, um dort von den DumDum-Geschossen der eigenen Landsleute niedergemacht zu werden!

Aber die Organe der öffentlichen Meinung in allen Ländern haben noch eine höhere Pflicht. Gerade während eines Krieges, wo das Völkerrecht unmittelbar in das Dasein aller positiv oder negativ eingreift, ist es eine nationale Aufgabe, die Anschauungen über das Wesen und die Bedingungen des Völkerrechts, aus der lebendigen Erfahrung heraus, zu klären und so seine vernünftige Entwickelung zu fördern; nach dem Kriege ist Gefahr, ja Gewißheit, daß sich diese Probleme in die engen Zirkel gelehrter Spezialisten zurückziehen. Und diese tragen gerade die Schuld, daß sie das Völkerrecht als wissenschaftliches System in den erbarmungswürdigen Zustand gebracht haben, der jetzt die praktische Durchbrechung und die gedankliche Verwirrung so verhängnisvoll erleichtert.

Man redet heute von dem Bankerott des Völkerrechts, weil die zahlreichen schweren Verletzungen offenkundig sind. Aber die Verletzungen eines Rechts machen nicht das Recht selbst zuschanden. Das Verbot des Mordes im Kriminalrecht hebt das Gesetz nicht selbst auf und macht es keineswegs unwirksam. Alles Recht kann verletzt werden und wird unzählige Male verletzt; damit wird das Recht selbst nicht aufgehoben. So würden die Völkerrechtsverletzungen im Krieg 1914 so wenig die Sinnlosigkeit oder auch nur die Ohnmacht des Völkerrechts erweisen. daß sie im Gegenteil erst recht seine Notwendigkeit und Bedeutung klarstellen.

Der Bankerott des Völkerrechts ist längst im Frie-

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den und zwar von den seinem Dienst gewidmeten Juristen herbeigeführt worden. Sie haben das Völkerrecht dynamitiert, indem sie es mit dem Begriff der rechtmäßigen Völkerrechtsverletzung beluden. Das Völkerrecht aber ist in seinem innersten Wesen, seiner ganzen Natur nach absolut, allgemeingültig und ausnahmslos unverletzlich, oder es ist überhaupt nicht. Selbstverständlich, die Möglichkeit der Rechtsverletzung bleibt gegeben, aber den Rechtsverletzer hat dann die volle Verantwortung für seinen Rechtsbruch zu treffen, und mit dieser Verantwortlichkeit unter allen Umständen wird das Recht selbst bejaht und erhalten. Wer aber die Anschauung verteidigt, daß es auch eine rechtmäßige, gesetzliche Völkerrechtsverletzung geben kann, der macht das ganze Völkerrecht zum Hohn und Spott; mehr noch: zu einer völkerrechtswidrigen vergifteten Waffe.

Zwei kleine, harmlose Worte haben diese Selbstauflösung des Völkerrechts in Wissenschaft und Praxis verursacht. Man übernahm aus dem Kriminal- und Zivilrecht die Begriffe der Notwehr und des Notstandes, die an sich rechtswidrige Handlungen gesetzlich und schuldfrei machen. Wer in der Notwehr einen Räuber tötet, handelt rechtmäßig. Und wer im äußersten Notstand, wo es sich um seine Selbsterhaltung handelt, ein an sich unzulässiges Mittel anwendet, darf diese Lebensgefahr zu seinen Gunsten geltend machen. Es ist nun die herrschende Ansicht der Völkerrechts-gelehrten, daß Notwehr und Notstand auch für das Gebiet des Völkerrechts gelten, und hier sogar im weitesten Umfang. Zwar ist einigen Völkerrechtlern sichtlich bei ihren wunderbaren Konstruktionen und Beweisführungen nicht recht wohl, aber je unbehaglicher und schwieriger ihnen das Werk dünkt, um so gebieterischer stellen sie - auch eine Art von Notwehr und Notstand! - die brüchige Behauptung unter den

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Schutz einer allgemeinen, übereinstimmenden Anschauung.

v. Liszt, um einen der Neueren und Angeseheneren zu nennen, dekretiert in seinem "Völkerrecht" (6. Aufl. 1910): "Die strafrechtlich und privatrechtlich anerkannten Begriffe der Notwehr und des Notstandes schließen auch für das Gebiet des Völkerrechts die Rechtswidrigkeit der begangenen Verletzung aus.

Warum? Statt der Begründung vernehmen wir ein Beispiel: "Auch der dauernd neutralisierte Staat darf mithin den feindlichen Überfall mit Waffengewalt abwehren. Er handelt in Notwehr." Sollte das nicht doch ein wenig gedankenlos sein? Notwehr macht eine an sich rechtswidrige Handlung zulässig. Aber die Abwehr eines Angriffs auf die Neutralität ist so wenig eine rechtswidrige Handlung, daß vielmehr ihre Unterlassung rechtswidrig wäre. Der Schutz der Neutralität gehört zum Begriff der Neutralität. Die fünfte Haager Konvention von 1907 bestimmt im 4. Artikel ausdrücklich, daß der neutrale Staat auf seinem Gebiet keine Neutralitätsverletzungen dulden darf; und im 10. Artikel wird sogar gesagt, daß der Kriegführende auch aus der gewaltsamen Zurückweisung seines Angriffs auf neutrales Gebiet keinen casus belli machen darf. So wenig handelt es sich hier um einen Akt der Notwehr; der Widerstand ist das gesetzliche Recht und die Pflicht des Neutralen. Um dieses Beispiels willen bedarf es also nicht der Einführung der Notwehr ins Völkerrecht. In dem praktischen Beispiel, das wir jetzt erlebt haben, war es auch nicht die Abwehr einer Neutralitätsverletzung, sondern die Neutralitätsverletzung selbst, die als Notwehr gerechtfertigt wurde. Bei dieser Gelegenheit wurde auch gleich der Begriff der Putativnotwehr ins Völkerrecht übernommen; die Notwehr gegen einen bloß (mit Recht oder Unrecht) vermuteten Angriff. Im weiteren bestreitet - gemäß den Haager Beschlüssen - Liszt, daß in dem beson-

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deren Völkerrechtsgebiet des Kriegsrechts das bindende Gesetz durch die "Kriegsräson", die freie Entscheidung der militärischen Befehlshaber, eingeschränkt werden dürfte. Und erschreckend rigoros fügt er hinzu:

"Eine offene Stadt darf auch dann nicht beschossen werden, wenn von ihrer Vernichtung der Ausgang des Krieges abhängen sollte." Doch fährt er beruhigend fort: "Wohl aber greift auch im Kriege der Begriff der Notwehr Platz:

gegen rechtswidrigen Angriff ist Verteidigung stets gestattet." Das ist es: Auch wenn das ganze Schicksal eines Krieges davon abhängt - es ist verboten, eine unverteidigte Stadt zu bombardieren. Aber wenn ein Bürger der Stadt auf einen Soldaten schießt, dann kann aus Notwehr als Repressalie die Stadt in Brand geschossen werden, auch wenn's für die Entscheidung des Krieges ganz gleichgültig ist. Berliner Völkerrechtswissenschaft in 6. Auflage!

Ein anderer! v. Martitz lehrt in dem Bande des Sammelwerks Kultur der Gegenwart, der die Systematische Rechtswissenschaft behandelt (1913):

"Die Regeln, nach denen gekämpft wird, bilden die Kriegsmanier (Kriegsgebrauch, loi de guerre). Sie sind weit genug, um der militärischen Notwendigkeit den erforderten Spielraum zu lassen. Nur im Falle des Notstandes würde es, schon nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen, nicht unzulässig sein, sich über sie hinwegzusetzen, was man mit dem einer Mißdeutung fähigen Ausdruck Kriegsräson bezeichnet. Und Repressalienverfahren kommen auch im Kriege zur Anwendung."

Warum? Wer mag's wissen! Der Professor sagt's so. Die Wirkung aber sehen wir tagtäglich. Das Völkerrecht wird verletzt - folglich muß man es noch mehr verletzen - als Repressalie, aus Notwehr, aus Notstand. So entmenschlicht das Völkerrecht den Krieg in steigender Progression!

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Ein Dritter! Heilborn benachrichtigt uns in seinem System des Völkerrechts: "Die Begriffe Notwehr und Notstand sind allgemeiner Natur und dürfen als bekannt vorausgesetzt werden." Diese bekannte Voraussetzung scheint nun einem Vierten, F1eischmann, doch nicht so ganz einwandfrei, und er erinnert daran, daß der Begriff des Notstandes schon im nationalen Recht durchaus nicht feststehend sei, und daß die Juristen von einer "ungesunden und lückenhaften Entwickelung", von einer "hilflosen Entwickelung" des Begriffs reden.

Eine Begründung dieser Aushöhlung des Völkerrechts durch Notwehr und Notstand wird in dem vierbändigen Handbuch des Völkerrechts F. v. Holtzendorffs versucht; der Abschnitt über Kriegsrecht ist von Prof. Lueder bearbeitet. Zunächst wird der Krieg selbst als "Recht" deduziert:

Der kriegführende Staat und seine Organe befinden sich in der Lage des in einem Kampf um Leben und Tod verwickelten Einzelnen, den in diesem Kampfe nur das Eine leitet: um jeden Preis den Gegner niederzuwerfen, um das eigene Leben zu retten. Das ist nicht nur natürlich, so daß es nicht anders sein könnte, sondern es ist auch rechtlich. Das Recht gestattet, wie die Beispiele der Notwehr und des Notstandes zeigen, ihm dazu die Anwendung der äußersten Gewaltmittel, die er zur Erreichung seines Zweckes braucht.

Damit wird der rechtliche Charakter des Krieges selbst aus Notwehr und Notstand begründet. In der Tat, das ist bereits Besitzgut des allgemeinen Kulturbewußtseins geworden, daß die Gemeinschaft der Völker nur in der Notwehr oder im Zustande äußerster Not durch einen Krieg zerrissen werden darf. Daher das Bemühen aller Kriegsparteien, für sich zu beweisen, daß sie sich nur gegen einen Überfall wehren. So weit ist das Gewissen der Zivilisation dennoch vor-

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gedrungen, daß niemand mehr wagt, sich als Angreifer zu bekennen.

Wenn nun der "rechtliche" Charakter des Krieges nur aus Notwehr und Notstand begründet werden kann, welche rechtliche Bedeutung haben dann die völkerrechtlichen Einschränkungen der Kriegführung? Die Antwort liegt so nahe, drängt sich so unmittelbar auf, daß sie ein Völkerrechtsprofessor unmöglich sehen kann. Holtzendorff-Lueder erklären sich zunächst für die völkerrechtliche, gesetzliche Bindung der Kriegführung:

Es hat sich ergeben, daß die Beschränkung weiterer, d.h. über den Kriegszweck hinausgehender Gewalt mit der Natur des Krieges vereinbar ist. Hier, wo die dort nötige Gewalt zur brutalen Grausamkeit oder Zerstörung werden würde, beginnt deshalb die Möglichkeit und damit die Pflicht und Notwendigkeit kriegsrechtlicher Beschränkung, bzw. Untersagung.

Mit allem Nachdruck wird hier die Aufstellung eines bindenden Kriegsrechts gefordert - entgegen der Anschauung, daß es ausschließlich Sache der kriegführenden Militärs sei, die Art der Kriegführung - innerhalb gewisser humaner Gewohnheiten - zu bestimmen: Die Kriegsmanier (Kriegsgesetz), nicht die Kriegsräson hat über die Sitten und Mittel der Kriegführung zu entscheiden. Dann aber folgt auch bei diesen Handbüchlern die Einschränkung: In zwei Fällen könne durch die Kriegsräson die Kriegsmanier aufgehoben werden:

"einmal im Falle der äußersten Not, wenn der Zweck des Krieges nur durch die Nichtbeachtung erreicht werden kann und durch die Beachtung vereitelt werden würde; sodann im Wege der Retorsion, also als Erwiderung unberechtigten Nichtbeachtens der Kriegsmanier von der Gegenseite."

Diese Zulässigkeit der Ausnahme wird mit der Erwägung gerechtfertigt, man könne "durch ein unerwidertes Hingehenlassen der von der Gegenseite be-

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gangenen Verletzungen der Kriegsmanier in Nachteil und in eine ungünstigere Lage als der verletzende Gegner versetzt werden hinsichtlich des mit allen Mitteln zu erstrebenden Zieles: Brechen des gegnerischen Willens und Erlangen des Sieges".

Indem der Professor diese Begründung niederschrieb, hatte er bereits wieder vergessen, wie er vorher die Möglichkeit einer völkerrechtlichen Regelung nachgewiesen hatte. Sie beschränkte sich auf die Sphäre, wo der Kriegszweck selbst in seinen Notwendigkeiten nicht berührt werde; das Völkerrecht wolle nur die unnützen, durch den Kriegszweck nicht gebotenen Grausamkeiten verbieten. Danach kann es überhaupt keine völkerrechtliche Bindung geben, die die Erreichung des Kriegszwecks vereitelt. Also kann auch die absolute Unterwerfung unter das Kriegsrecht niemals die strategische oder taktische Lage ungünstiger gestalten, im Verhältnis zu dem, der das Kriegsrecht mißachtet. Die beiden Begründungen des Völkerrechts selbst und seiner rechtmäßigen Ausnahmen heben sich, wie man sieht, gegenseitig glatt auf. Weil das Kriegsrecht nichts enthalten darf und nichts enthält, was mit dem Kriegszweck unvereinbar ist, so kann es nur, seinem inneren Wesen nach, ausnahmslos gelten, oder es hört auf, ein Kriegsrecht zu geben. Ein Konflikt ist unter dieser Annahme gar nicht möglich. Natürlich kann das Kriegsrecht immer gebrochen werden, aber dann eben als Rechtsbruch, nicht als Recht; es kann gar keine Gefahr sein, daß durch die Unterwerfung unter die völkerrechtlichen Bestimmungen die eigene Sache gefährdet werden könnte, weil das Völkerrecht ja nur die für den Kriegszweck unnötigen Maßnahmen auszuscheiden sucht. Wenn man übrigens die Hinwegsetzung über die Völkerrechtsbestimmungen nur für den äußersten Notfall gestatten will, so vernehmen wir jetzt fast täglich die andere Meinung, daß es Pflicht des mili-

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tärischen Kommandos sei, jedes Mittel anzuwenden, wenn dadurch auch nur ein Soldat gerettet werden könne.

Das ist denn die einzige denkbare rechtliche Bestimmung des Kriegsrechts (um uns auf diesen Teil des Völkerrechts zu beschränken): Ist der Krieg rechtlich aus Notwehr oder aus Notstand zu begründen, so bezeichnet das Völkerrecht eben die Schranken in der Ausübung der Notwehr und des Notstandes, und diese Schranken können daher logisch nicht wieder durch Notwehr und Notstand zertrümmert werden; sie müssen ihrem Begriff nach ausnahmslos verbindlich sein.

Nach dieser Einsicht ist die andere, meine Auffassung stützende Erwägung unerheblich, daß im Völkerrecht der Rechtsbrecher aus Notwehr nicht nur Richter in eigener Sache ist, sondern daß es auch keinen Richter gibt, der darüber entscheiden könnte, ob wirklich Notwehr und Notstand vorliegen.

Denn die zuletzt im Haag beschlossene Haftpflicht für Völkerrechtsverletzungen ist papieren und unvollziehbar. Philipp Zorn hat diese, übrigens von Deutschland beantragte, Bestimmung in erregten Ausführungen für ein "Unglück", für unerträglich erklärt, und hält es für höchste Zeit, diesen "formal-juristischen Exzessen" ein Ende zu machen. Aber da es keinen internationalen Gerichtshof gibt, der darüber entscheidet, ist die prinzipiell allerdings revolutionäre Bestimmung von 1907 wesenlos. Um so mehr aber ist es erforderlich, daß man wenigstens den moralischen Wert der völkerrechtlichen Bindungen nicht durch die "formal-juristischen Exzesse" der Notwehr und des Notstandes völlig vernichtet.

Läßt man im Kriegsrecht Ausnahmen zu, so gelangt man wieder zur Kriegsräson, die in jedem Falle die Wahl der Mittel dem Ermessen der Heerführer

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überläßt. Das war aber gerade die Absicht der Haager Beschlüsse, die nichts von Notwehr und Notstand wissen, die allgemeine Rechtsverbindlichkeit der aufgestellten Regeln der Entscheidung der Heerführer zu entziehen; und ausdrücklich ist im Haag bestimmt worden, daß auch selbst in den durch die Konvention nicht geregelten Fällen nicht das militärische Kommando freie Hand haben solle, sondern daß "Völker und Kriegführende unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts bleiben, so wie sie aus den zwischen den zivilisierten Nationen bestehenden Gebräuchen, Gesetzen der Menschlichkeit und Forderungen des öffentlichen Gewissens folgen".

In dieser Auffassung kommt der unausgeglichene Konflikt zwischen dem Völkerrecht und der militärischen Anschauung zum Ausbruch. Daß die Völkerrechtsprofessoren ihre eigenen Kartenhäuser wieder umblasen, daß sich die doch offenbar geprüft scharfsinnigen Herren in einem kläglichen System von krassen Widersprüchen eingraben, ist nicht einem Mangel des Verstandes zuzuschreiben, sondern aus dem Notstand zu erklären, daß sie ihre Wissenschaft vor dem gebietenden Veto des Militärs zu retten suchen, indem die Universität den Generalstab durch ein Kompromiß zu beschwichtigen beflissen ist. Die Wahrheit ist, daß die Militärs jeder völkerrechtlichen Bindung mit Zwangsgewalt durchaus entgegen sind.

Am klarsten und schärfsten hat diesen Gegensatz Graf Moltke (der Ältere) 1880 in einem Brief an den Heidelberger Völkerrechtslehrer Bluntschli ausgesprochen. Aus dem Schreiben wird gern der Satz angeführt: "Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung." Aber dieser Satz ist als Bekenntnis eines persönlichen Dogmas nur für den verbindlich, der es glaubt, und deshalb ohne allgemeine Bedeutung.

3 Eisner, Vor der Revolution.

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Dagegen ist der weitere Inhalt des Briefes von entscheidender Wichtigkeit. Bluntschli hatte dem Generalfeldmarschall das von dem Institut für internationales Recht veröffentlichte Handbuch des Kriegsrechts zugesandt. In seiner Erwiderung lehnt Moltke sehr höflich, aber auch sehr entschieden jedes "kodifizierte Kriegsrecht" ab. Eine Humanisierung der Kriegführung sei nur zu erwarten "von der religiösen und sittlichen Erziehung der einzelnen, von dem Ehrgefühl und dem Rechtssinne der Führer, welche sich selbst das Gesetz geben und danach handeln, soweit die abnormen Zustände des Krieges es überhaupt möglich machen". Das Handbuch enthielt die völkerrechtliche Bestimmung - die Brüsseler Konferenz von 1874 war vorausgegangen -, daß Requisitionen nur "im Verhältnis zu den Hilfsmitteln des Landes" erfolgen dürfen. Moltke entgegnet: "Der Soldat, welcher Leiden und Entbehrungen, Anstrengung und Gefahr erduldet, ... muß alles nehmen, was zu seiner Existenz nötig ist. Das Übermenschliche darf man von ihm nicht fordern." Im Interesse der schnellen Beendigung des Kriegs "müssen alle, nicht geradezu verwerflichen Mittel" frei stehen. Mit der Petersburger Deklaration, daß nur die Schwächung der feindlichen Streitmacht berechtigt sei, kann Moltke sich in keiner Weise einverstanden erklären; alle Hilfsquellen der Regierung, d. h. des Landes müßten in Anspruch genommen werden. Im Handbuch waren die völkerrechtlichen Bestimmungen über die Teilnahme der Bevölkerung am Krieg schon so formuliert worden, wie jetzt in der Haager Konvention. Moltke spottet: "Kein auswendig gelernter Paragraph wird den Soldaten überzeugen, daß er in der nichtorganisierten Bevölkerung, welche (spontanˆ©ment, also aus eigenem Antrieb) die Waffen ergreift und durch welche er bei Tag und bei Nacht nicht einen Augenblick seines Lebens sicher ist, einen

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regelrechten Feind zu erblicken hat." Der Militär stellt also nicht nur den Heerführer, sondern auch jeden Soldaten als Richter über das Völkerrecht. Schließlich rät Moltke, hinter den einzelnen Bestimmungen einzufügen: wenn es die Umstände erlauben, wenn es sein kann, wenn es möglich, wenn es notwendig ist. Das Völkerrecht der Professoren folgte dem Rat und schob hinter jede Bestimmung die aufhebende Notwehr- und Notstandsklausel ein!

Das ist der unausgleichbare Gegensatz: Das Völkerrecht will die Sicherheit der Bevölkerung schützen, der Militär seine Truppen; das Völkerrecht steht dem Schwachen und Wehrlosen zur Seite, der Militär, seiner Aufgabe gemäß, dem Starken; das Völkerrecht will Menschlichkeit, der Militär Sieg; das Völkerrecht will dem Verteidiger helfen, der Militär den Angreifer sichern; das Völkerrecht stellt über den Krieg und den Heerführer das zwingende, unantastbare Gesetz, der

Militär will durch nichts gebunden sein wie durch sein, wie immer humanes, Gewissen; das Völkerrecht proklamiert Kriegsrecht, der Militär handelt nach Kriegsräson.

In diesem Widerspruch mußte das Völkerrecht um so nachdrücklicher seine Sache behaupten. Statt dessen zersetzte es sich in einem Kompromiß. Und während alle Vertreter der Kriegswissenschaft ausnahmslos Moltkes Anschauung teilen, bekehrte sich 1914 ein Marburger Völkerrechtslehrer im Felde zu dem Satz:

"Der deutsche Militarismus ist doch wertvoller als das ganze Völkerrecht."

Die Arbeit Der Völkerrechtler hätte einen anderen Weg gehen müssen, um fruchtbar zu werden. Indem sie auf der Ausnahmslosigkeit der völkerrechtlichen Beschlüsse streng beharrten, hätten sie aus dem Völkerrecht alles entfernen sollen, was seiner Natur nach doch gebrochen werden wird. Hierher gehört das Gebilde neutralisierter Staaten. In einem jüngst

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gehaltenen Vortrag des Leipziger Völkerrechtsdozenten Herbert Kraus, der sonst zu den anfangs gekennzeichneten Erzeugnissen des flüchtig und hitzig beratenen Augenblicks gehört, wurde über den deutschen Einbruch in Belgien strategisch ganz richtig gesagt:

"Kein Gebot der Welt könnte einer Nation solche selbstmörderischen Schranken auferlegen, uns die Zähne an dem riesigen französischen Panzergürtel an unserer Grenze auszubeißen ..., statt eine schnelle Parade gegen die einzige schwächere Stelle zu schlagen." Also mit anderen Worten: die Neutralität eines Staates kann nur so lange geschont werden, als sie nicht die strategischen Notwendigkeiten der Kriegführung anderer Staaten gegen einen dritten hindert. Daraus aber folgt nicht, daß in diesem Falle keine Völkerrechtsverletzung begangen wurde, sondern vielmehr, daß man längst den völkerrechtlichen Vertrag, auf dem die Neutralität beruhte, von allen Seiten hätte auflösen sollen; nicht zuletzt auf Betreiben des neutralisierten Staates selbst. Es wäre kein Nachteil für den Frieden der Welt, wenn es keine dauernd neutralisierten Staaten mehr geben würde. Die Folge wäre, daß alle kleineren Staaten sich vermutlich nach Schweizer Muster eine Volkswehr schaffen würden und daß vor jedem Ausbruch eines Kriegs die Länder, die neutral zu bleiben wünschen, sich gemeinschaftlich zur Verteidigung ihrer Neutralität organisieren. Der Kriegsanreiz würde dann wesentlich schwächer werden.

Das ist das eine Ergebnis meiner Untersuchung:

Das Völkerrecht duldet keine Einschränkung durch Notwehr und Notstand. Was aber unvereinbar mit den Lebensinteressen des einen oder anderen Landes ist oder aller Wahrscheinlichkeit einmal werden kann, darf nicht unter die besondere Sanktion des Völkerrechts gestellt werden. Man sichert das Völkerrecht, indem man es entlastet.

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II.

Volkswehr im Völkerrecht.

In einem preußischen militärischen Aktenstück, in der Landsturmverordnung vom 21. April 1813, befahl der König dem Volk: "Jeder Staatsbürger ist verpflichtet, sich dem andringenden Feinde mit Waffen aller Art zu widersetzen, seinen Befehlen und Ausschreibungen nicht zu gehorchen, und wenn der Feind solche mit Gewalt beitreiben will, ihm durch alle nur aufzubietenden Mittel zu schaden ... Ist der Fall des Aufgebots eingetreten, so ist der Kampf, wozu der Landsturm berufen wird, ein Kampf der Notwehr, der alle Mittel heiligt. Die schneidendsten sind die vorzüglichsten, denn sie beenden die gerechte Sache am siegreichsten und schnellsten. Es ist daher die Bestimmung des Landsturms, dem Feinde den Einbruch wie den Rückzug zu versperren, ihn beständig außer Atem zu halten; seine Munition, Lebensmittel, Kuriere und Rekruten aufzufangen; seine Hospitäler aufzuheben; nächtliche Überfälle auszuführen, kurz, ihn zu beunruhigen, zu peinigen, schlaflos zu machen, einzeln und in Trupps zu vernichten, wo es nur möglich ist... Eigen für den Landsturm verfertigte Uniformen oder Trachten werden nicht verstattet, weil sie den Landstürmer kenntlich machen und der Verfolgung des Feindes leichter preisgeben können... Die Waffen sind: alle Arten von Flinten, mit oder ohne Bajonett, Spieße, Piken, Heugabeln, Morgensterne, Säbel, Beile, gerade gezogene Sensen, Eisen... Wie bei einer Fußpost sind täglich von Meile zu Meile Boten abzuschicken, auch Weiber und Kinder von 12 bis 15 Jahren sind hierzu brauchbar... Späherei, weit entfernt verächtlich zu sein, ist Pflicht gegen den Feind... Dem Feinde das Leben möglichst zu erschweren, sich allen seinen Anordnungen mit Gewalt zu widersetzen, alle Leistungen und Lieferungen für

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ihn zu versagen, ihn einzeln zu vernichten und Abbruch zu tun, ist Pflicht... Die Städte, die sich darin besonders hervortun, sollen belohnt werden. Die Bildung der National- oder Bürgergarden unter Einfluß und Aufsicht des Feindes ist bei Strafe schimpflicher Landesverweisung verboten. Diese scheinbaren Ordnungsmittel haben dem Feinde zu oft schon Garnisonen in den eroberten Städten erspart. Es ist weniger schädlich, daß einige Ausschweifungen zügellosen Gesindels stattfinden, als daß der Feind frei im Schlachtfelde über alle seine Truppen gebietet."

Aus gleichem Geist sind auch militärwissenschaftliche Ausführungen über das Wesen des Volkskrieges geboren: "Ist von Verderbung der Wege, Versperrung enger Straßen die Rede, so verhalten sich die Mittel, welche Vorposten oder Streifkorps des Heeres anwenden, zu denjenigen, welche eine aufgebrachte Bauernmasse herbeischafft, ungefähr wie die Bewegungen eines Automats zu den Bewegungen eines Menschen... Nach unserer Vorstellung vom Volkskriege muß er, wie ein nebel- und wolkenartiges Wesen, sich nirgends zu einem widerstehenden Körper konkreszieren, sonst richtet der Feind eine angemessene Kraft auf diesen Kern, zerstört ihn und macht eine große Menge Gefangene; dann sinkt der Mut... Kein Staat sollte sein Schicksal, nämlich sein ganzes Dasein, von einer Schlacht, sei sie auch die entscheidendste abhängig glauben. Zum Sterben ist es immer noch Zeit, und wie es ein Naturtrieb ist, daß der Unter-gehende nach dem Strohhalm greift, so ist es in der natürlichen Ordnung der menschlichen Welt, daß ein Volk die letzten Mittel seiner Rettung versucht, wenn es sich au den Rand des Abgrunds geschleudert sieht. Wie klein und schwach ein Staat in Beziehung auf seinen Feind auch sei, er soll sich diese letzte Kraftanstrengung nicht ersparen, oder man müßte sagen, es ist keine Seele mehr in ihm." Es ist nicht bedeu-

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tungslos, zu erwähnen, daß diese und noch mehr Sätze über den Volkskrieg der Klassiker deutscher Kriegswissenschaft, Carl von Clausewitz, in seinem großen Werk Vom Kriege niedergeschrieben hat!

Die Landsturmverordnung von 1813 und die Darlegungen des preußischen Generals von Clausewitz über die Volksbewaffnung entstammen den furchtbaren Erlebnissen eines Staates, dessen weltbewundertes Söldner- und Leibeigenenheer unter dem Anprall eines genial geführten Volksheeres zusammengebrochen war; und die weitere Erfahrung, daß dieser größte aller Feldherren dann selbst wieder durch die aufständischen Volksmassen in Spanien und Tirol in schwere Bedrängnis geriet, ließ erst recht die Bedeutung eines ganzen Volkes, das sich verteidigt, in seiner Unüberwindlichkeit erscheinen.

Seitdem sind die großen Militärstaaten zur allgemeinen Wehrpflicht übergegangen. Da mit vollzog sich auch eine Wandlung der militärischen Auffassung. Obwohl alle Heerführer in Deutschland unter dem Einfluß der Lehren Carls von Clausewitz erzogen sind, wird heute niemand seine Propaganda für den Volkskrieg billigen. Der Krieg soll das ist die militärische Überzeugung der Gegenwart, wenigstens in den rein militärischen Weltmächten ausschließlich zwischen den organisierten Streitkräften geführt werden. Aber dieser in aller seiner Konsequenz mit äußerster Härte bis zu einem Punkte, wo die Kriegführung zur Kriminaljustiz wird, behauptete und durchgeführte Grundsatz ist keine völkerrechtliche Lösung des Problems. Hier blutet die düsterste Tragik des Krieges: der schreckliche Unterschied des Schicksals zwischen der Bevölkerung eines vom Feinde besetzten und eines vom Feinde freien Landes. Zwar greifen die persönlich-wirtschaftlichen Wirkungen des Krieges auch in das letzte Dorf der vom Feinde nie erblickten Gebiete. Aber welch Gegensatz zwischen dem Los der Be-

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völkerung in Galizien und Wien, in Ostpreußen und Berlin, in Polen und Petersburg, in Nordfrankreich oder Belgien und München! Was vermag das Völker-recht, was will es vermögen, um die waffenlose Bevölkerung des Kriegsschauplatzes tatsächlich den unmittelbaren Angriffen des Krieges zu entziehen, der doch nicht gegen die Bürger geführt werden soll? Mit anderen Worten: welchen Schutz verheißt das Völkerrecht wider den Eindringling?

Das Völkerrecht ist seinem Begriff nach schlechthin international, die Armeen ebenso ausschließlich national. Kann es da überhaupt einen Ausgleich geben zwischen dem Recht, das alle Völker verbindet, und der Gewalt, die zwischen den einzelnen Völkern in uneingeschränkter Einseitigkeit für oder wider entscheidet? Für das Völkerrecht sind alle Völker von gleicher Qualität, und mithin gleichen Rechts, der Krieg hingegen macht aus dem Nebeneinander der Völker insofern eine einzige große Antinomie, als jedes Volk auf gleiche Weise, zumeist sogar mit den gleichen Worten, sich den Besitz der höheren Moral und des besseren Rechts zubilligt.

Gleichwohl hat sich das Völkerrecht nicht enthalten, Regeln für die Teilnahme der Bevölkerung am Kriege aufzustellen.

Gerade die Haager Verhandlungen von 1899 standen unter dem Eindruck, daß dies Problem die eigentliche Lebensfrage des Völkerrechts umschließe. Jene Debatten zeigten aber sofort das andere: Daß auch auf den Friedenskonferenzen und bei der Kodifizierung des Kriegsrechts unausgeglichen der Gegensatz zwischen der heutigen völkerrechtlichen und der heutigen militärischen Anschauung klaffte, und daß über die entscheidenden Bestimmungen nur aus internationaler diplomatischer Höflichkeit eine formelle Verständigung erzielt wurde, während sich jede der Parteien dabei etwas anderes dachte. So er-

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kennt jeder, der das amtliche Protokoll der Konferenz von 1899 einmal gelesen hat, daß eine innere Verständigung über den Volkskrieg nicht einheitlich gewonnen wurde und gar nicht gewonnen werden konnte, weil das Problem völkerrechtlich und militärisch gegenwärtig durchaus verschieden behandelt werden muß.

Die Fragen der Teilnahme der Bevölkerung am Kriege sind völkerrechtlich schon auf der Brüsseler Konferenz von 1874 in Paragraphen gebracht worden, und die damaligen (nicht ratifizierten) Beschlüsse sind dann im Haag übernommen und bestätigt worden. In Brüssel versuchte ein ursprünglicher Entwurf eine mehr ins einzelne gehende Ordnung. Man hatte auch die Pflichten du Bevölkerung eines vom Feinde angegriffenen Landes gegen den Feind geregelt. Ein Spezialparagraph war dem Fall der Erhebung der Bevölkerung in einem bereits besetzten Lande gewidmet und unterwarf sie der Strenge der Justiz. Ein anderer Paragraph verbot die isolierten feindseligen Handlungen. Aber bei der Brüsseler Schlußredaktion ergaben sich so viele Schwierigkeiten, daß man alle Fragen der Volkserhebung in einem besetzten Gebiet und der individuellen Kriegshandlungen ungeregelt ließ. Man begnügte sich mit der Feststellung, wer völkerrechtlich den Schutz von Kriegführenden genießen solle: die Armeen, die Milizen, die organisierten Verbände und auch die Bevölkerung, die, selbst ohne Organisation, spontan die Waffen in einem noch nicht vom Feinde besetzten Gebiet ergreift. Die so zustande gekommenen, eingeschränkten Brüsseler Be Schlüsse wurden in den beiden Artikeln des Haager Landkriegsreglements von 1899 wiederholt:

Art. I. Die Gesetze, Rechte und Pflichten des Krieges gelten nicht allein für die Armeen, sondern auch für die Milizen und Freischaren, die folgende Bedingungen erfüllen:

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  1. Sie müssen an ihrer Spitze eine für die Untergeordneten verantwortliche Person haben;

  2. sie müssen ein festes und auch in der Entfernung erkennbares Unterscheidungszeichen tragen;

  3. sie haben die Waffen offen zu tragen und

  4. in ihren Handlungen sich den Gesetzen und Gebräuchen des Krieges zu unterwerfen.

Art. 2. Die Bevölkerung eines nicht besetzten Gebietes, die beim Herannahen des Feindes aus eigenem Antriebe zu den Waffen greift, um die eindringenden Truppen zu bekämpfen, ohne Zeit gehabt zu haben, sich nach Art. 1 zu organisieren, wird als Kriegspartei betrachtet, sofern sie die Gesetze und Gebräuche des Krieges beobachtet.

Als am 20. Juni 1899 die II. Subkommission der II. Kommission diese Anträge beriet, war die Stimmung der großen Mehrheit offenbar, daß die alten Brüsseler Vorschläge das absolute Recht der Volksverteidigung unzulässig einengten. Um einer Ablehnung vorzubeugen, erläuterte deshalb der Präsident der Kommission, v. Martens, der russische Delegierte, sofort zu Beginn in einem längeren Vortrag Sinn und Absicht der beiden Artikel: Es handelt sich nicht darum, der Bevölkerung das Recht der Verteidigung zu bestreiten. Dies Recht ist heilig. Die Brüsseler Konferenz hatte (ich übersetze das französische Protokoll gekürzt. Der Verf.) keineswegs die Absicht, das Recht der Verteidigung abzuschaffen oder einen Kodex aufzustellen, der dies Recht abschaffen sollte. Sie war im Gegenteil von dem Gedanken durchdrungen, daß die Helden nicht durch Gesetzesparagraphen geschaffen werden, sondern daß das einzige Gesetzbuch, das die Helden haben, ihre Aufopferung, ihr Wille und ihr Patriotismus ist. Früher waren die Bedingungen, denen die Bevölkerung genügen mußte, gegenüber den Krieg-führenden viel schwerer zu erfüllen als die in den

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Artikeln aufgestellten. Das muß man nicht aus den Augen verlieren und sich erinnern, daß diese Bestimmungen nicht zum Gegenstand haben, alle Fälle zu regeln, die sich ereignen könnten. Wir haben die Türe offen gehalten für die heroischen Opfer, die die Nationen bereit wären für ihre Verteidigung zu bringen; eine heldenhafte Nation steht, wie die Helden, jenseits der Gesetzbücher, der Regeln, der Tatsachen. Es ist nicht unsere Aufgabe, dem Patriotismus Grenzen zu setzen; unser Versuch geht allein dahin, durch ein gemeinsames Abkommen zwischen den Staaten die Rechte der Bevölkerung und die Bedingungen aufzustellen, die diejenigen zu erfüllen haben, die sich rechtmäßig für ihr Vaterland zu schlagen wünschen.

Seine Ausführungen faßte v. Martens in einer Deklaration zusammen: daß es die Absicht der Konferenz sei, die Übel des Krieges, soweit es die militärischen Notwendigkeiten zulassen, zu mildern. Es sei nicht möglich, alle denkbaren Fälle zu regeln, es sei aber auch nicht die Meinung, daß in den nichtgeregelten Fällen die Entscheidung dem Ermessen derer überlassen bleibe, die die Armeen führen; auch sie müßten vielmehr unter dem Gebot des Völkerrechts bleiben.

Der belgische Delegierte Beernaert, der frühere Minister, stimmte den Artikeln zu, unter der Voraussetzung, daß die Deklaration des Herrn v. Martens bindend sei. Er verstand die Bedeutung der Regelung dahin: Nach wie vor werden die Rechte des Siegers, weit entfernt, daß sie unbegrenzt seien, eingeschränkt sein durch die Gesetze des allgemeinen Gewissens, und kein Land, kein General würde wagen, sie zu brechen, weil er sich damit außerhalb der Gemeinschaft der zivilisierten Völker stellen würde.

Ein holländischer Vertreter, General und ehemaliger Kriegsminister, schloß sich Martens und Beernaert an. Er hob das Interesse der kleineren

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Staaten an der Mitwirkung der Bevölkerung im Kriege hervor.

Danach wurde der 1. Artikel einstimmig angenommen, ebenso der zweite, mit dem Vorbehalt des Schweizer Delegierten Oberst Künzli, daß seine Abstimmung von dem Schicksal des englischen Zusatzantrages abhänge.

Dieser englische Antrag des Generals Sir John Ardagh wünschte die Hinzufügung folgenden Artikels:

Nichts in diesem Kapitel darf als Versuch betrachtet werden, das Recht, das der Bevölkerung das besetzten Landes gebührt, zu vermindern oder zu unterdrücken, weil sie offen die Waffen gegen den Eindringling ergriffen hatte.

Ein Schweizer Antrag hatte den Wortlaut:

Es dürfen keine Repressalien an einer Bevölkerung eines besetzten Gebietes geübt werden, weil sie offen die Waffen gegen den Eindringling erhoben hat.

Der Präsident versuchte zunächst den englischen Delegierten zur Zurückziehung seines Antrages zu bewegen, indem er in Aussicht stellte, daß seine und die Beernaertsche Deklaration in das Protokoll aufgenommen würde.

Sir John Ardagh bestand auf der Abstimmung über seinen Antrag. Der Schweizer Delegierte Oberst Künzli zieht seinen Antrag zugunsten des englischen zurück: Die Deklaration des Präsidenten ist sicher von großer Bedeutung, aber sie gibt nicht die notwendigen Garantien, weil schließlich der Text der Konvention entscheidend ist. Ich erkenne an, daß der Krieg seine Bedürfnisse, seine Notwendigkeiten und selbst seine unvermeidlichen Grausamkeiten hat Ich bitte Sie nur um eine einzige Änderung: Bestrafen Sie nicht die Liebe zum Vaterlande, ergreifen Sie keine harten Maßnahmen gegen die Völker, die sich zur Verteidi-

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gung ihres Bodens erheben! Am Anfang dieses Jahrhunderts haben wir in unserem Lande mehrere Erhebungen des Volkes in gewissen Gebirgsgegenden gehabt, und eine noch bedeutsamere Aktion hat sich in einem uns benachbarten Gebirgsland vollzogen. Man schlug sich in offenem Kampf, man mordete nicht die Nachzügler und man tötete nicht die Kranken und die Verwundeten. Nicht allein die Männer in der Blüte der Jahre, sondern auch die Greise, Kinder und Frauen nahmen an den Kämpfen teil. Sie werden sagen, daß das Ausschreitungen des Patriotismus waren. Mag sein, aber Aussehreitungen, die das Herz erfreuen und die sich von neuem ereignen können. Sie begreifen, daß wir nicht eine Konvention unterschreiben könnten, die einen Teil der Bevölkerung dem Stand-recht und dem Kriegsgericht überantworten würde.

Der Präsident erwidert, daß niemals in Frage gewesen sei, den patriotischen Tugenden der Völker

Grenzen zu setzen: Wir wollen das Leben und das Eigentum der Schwachen, der Entwaffneten und der Unbeteiligten schützen, aber wir wollen keineswegs den Helden Gesetze vorschreiben, noch dem Elan der Patrioten Zügel anlegen.

Der deutsche Delegierte Oberst Groß von Schwarzhoff hatte bei den Erörterungen über die Artikel I und II geschwiegen und ihnen zugestimmt. Der englische Antrag veranlaßt ihn jetzt, seine Meinung über die ganze Frage zu äußern. Die Rede Künzlis habe ihm gezeigt, daß man mit dem anscheinend harmlosen Antrag mehr beabsichtige, als in ihm

zu stehen scheint. Die Beschlüsse der Konferenz hätten den Zweck, die Leiden der Invasion für die Bevölkerung zu mildern. Eine Voraussetzung aber, so fährt der deutsche Delegierte fort, ist allen Beschlüssen gemeinsam: daß die Bevölkerung friedlich bleibt; wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist, dann verlieren die meisten der zugunsten der Bevölkerung geschaffe-

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nen Sicherheiten ihre Daseinsberechtigung. Heißt das den Patriotismus beschränken oder den tapferen Leuten verbieten, an der Verteidigung ihrer Heimat teilzunehmen? Keineswegs! Nichts hindert die Patrioten, in die Reihen der Armee zu treten, oder wenn die Friedensstärke zu beschränkt ist, sich untereinander zu organisieren, unabhängig von der eigentlichen Armee. Ist es so schwer, einen Menschen zu finden, der sich an die Spitze der Bewegung stellt, einen Bürgermeister, einen Beamten, einen ehemaligen Soldaten? Ist es so schwer, ein Unterscheidungszeichen sich anzustecken? Der I. Artikel sollte vollkommen genügen, denn er engt den Patriotismus in keiner Weise ein. Aber man ist weiter gegangen, indem man den II. Artikel beschloß, der der Bevölkerung eines nicht besetzten Gebiets die Rechte von Kriegführenden unter der einzigen Bedingung verleiht, daß sie die Kriegsgesetze anerkennt. Es wäre vorzuziehen, unter allen Umständen auch hier ein Kennzeichen und das offene Tragen der Waffen zu fordern. Ohnehin befinden sich die regulären Truppen in einer ungünstigen Lage, weil sie nicht sehen können, ob sie friedliche Bauern oder kampfbereite Feinde vor sich haben. Der deutsche Delegierte gesteht offen, daß er schwere Bedenken gegen diesen Artikel habe; aber aus versöhnlichem Geiste und um keine unüberwindlichen Schwierigkeiten zu schaffen, habe er geglaubt, Schweigen bewahren zu können und von einem Antrag auf Streichung abzusehen. Aber jetzt, wo man die Grundsätze noch erweitern will, sieht er sich genötigt, zu sagen, daß die Konzessionen hier aufhören müssen. Wenn man so viel von Menschlichkeit spricht, glaubt er, es sei Zeit sich zu erinnern, daß die Soldaten auch Menschen sind und das Recht haben, mit Menschlichkeit behandelt zu werden. Die Soldaten, die erschöpft, nach langen Märschen oder nach Kämpfen sich in einem Dorf ausruhen wollen, müssen sicher sein, daß die

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friedlichen Einwohner sich nicht plötzlich in erbitterte Feinde verwandeln.

Der französische Delegierte Leon Burgeois vermittelt. Er stellt fest, daß die Subkommission im Grunde mit Sir John Ardagh einer Meinung sei. Nichts darf die Sicherheiten einschränken, die das Menschenrecht den Völkern gibt, wenn sie dem Eindringling Widerstand leisten. Die Frage sei, ob man diesen Gedanken in einen besonderen Artikel des Textes aufnehmen oder sich mit der Aufnahme der Erklärung des Präsidenten ins Schlußprotokoll begnügen werde. Wenn das letztere geschehe, wäre es für ihn genügend.

Die Subkommission beschließt darauf, die Deklaration des Präsidenten ins Schlußprotokoll aufzunehmen. Aber erst als der italienische Delegierte Graf Nigra den Vorschlag macht, auch den englischen Antrag dem Schlußprotokoll einzuverleiben, "neben und als Bestätigung der Deklaration des Präsidenten", zieht John Ardagh versöhnlich den Antrag zurück, da er die einmütige Billigung gefunden habe. Nochmals widerspricht Oberst Groß von Schwarzhoff: Es handle sich um keine bloße Formsache, sondern um eine Prinzipienfrage. Die Beharrlichkeit, mit der man den englischen Antrag durchzusetzen suche, beweise in der Tat, daß eine Schlange unterm Felsen liege und daß man die Leichtigkeit der gewährten Volksverteidigung noch erweitern wolle.

Schließlich kam man überein, den englischen Antrag sowie alle dazugehörigen Bemerkungen und Einschränkungen dem Protokoll einzuverleiben.

Als in der Plenarsitzung der Haager Konferenz vom 5. Juni über die Beschlüsse der Kommission Bericht erstattet wurde, gab man den Protest des deutschen Delegierten in noch schärferer Form wieder, als er in dem Protokoll der Kommission verzeichnet ist. Der Berichterstatter teilte mit, "Aber hier - hat sehr

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kategorisch der deutsch. Delegierte gesagt - hören! meine Zugeständnisse auf; es ist mir völlig unmöglich, einen Schritt weiter zu gehen und denen zu folgen die eine absolute Freiheit für die Verteidigung proklamieren."

Auf der zweiten Haager Konferenz von 1907 setzte Deutschland insofern ein weitere Einschränkung durch, als in den zweiten Artikel auch die Bedingung des offenen Waffentragens aufgenommen wurde; ein fernerer deutscher Antrag, daß die Erkennungszeichen der Freikorps im voraus der Gegenpartei bekanntgegeben werden müßten, wurde zurückgezogen.

Die Haltung des deutschen Delegierten entsprach durchaus jener Auffassung Moltkes, der es für völlig aussichtslos erklärte, einem Soldaten den Unterschied zwischen einem berechtigten und einem unberechtigten Freischärler in der Bevölkerung begreiflich zu machen. In der Tat ergibt sich aus den Ausführungen des deutschen Offiziers im Haag daß die rein militärische Anschauung die Teilnahme der Bevölkerung am Krieg auch innerhalb der Haager Bedingungen nicht billigt, und es nicht für möglich hält, die völker-rechtlich konzessionierten Freischärler anders zu behandeln wie die unzweifelhaften Verletzer der Haager Klauseln. Umgekehrt war die große Mehrheit der Konferenz der Ansicht, daß des oberste Recht, die Selbstverteidigung des Volks, durch nichts eingeschränkt werden dürfe, daß es also in der Anwendung dieses höchsten Grundsatzes überhaupt keine Völkerrechtsverletzungen geben könne.

Es ist somit erwiesen, daß im Grunde auf den Haager Konferenzen keine völkerrechtliche Regelung der Volkswehr im Kriege gefunden worden ist. Der völker-rechtlich interessierten Mehrheit gingen die Formeln, auf die man sich höflich verständigte, lange nicht weit genug. Und sie faßte deren Bedeutung in geradem Gegensatz zu der militärischen Gruppe auf, die nach

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ihrer eigentlichen Überzeugung jede Einmischung der Bevölkerung ablehnt, zum mindesten des Urteil über ihre Berechtigung dem Ermessen der Heerführer überlassen will.

Über diesen Gegensatz hilft den beiden Parteien keine Diskussion und keine Konzession hinweg. Lassen wir kurz die Vertreter beider Anschauungen ihre Gründe gegeneinander messen:

Der Militär sagt: Ich habe meine Soldaten zu schützen.

Der Völkerrechtler erwidert: Wir haben des Volk gegen die Eindringlinge zu schützen.

Der Militär: Aber die Aufgabe der Heeresleitung ist ja gerade, des eigene Land nicht zum Kriegsschauplatz werden zu lasen: darum müssen wir angreifen, um es nicht zum Angriff auf uns kommen zu leasen. So sind wir es, die in Wahrheit unsere Bevölkerung schützen.

Der Völkerrechtler: Das Völkerrecht gilt nicht für ein Volk, sondern für alle Völker gleichermaßen. Darum muß es unter solchen Umständen auf der Seite derer stehen, die ihr Land gegen den Eindringling verteidigen.

Der Militär: Und des Heer muß auf seiten des eigenen Volkes stehen.

Der Völkerrechtler: Damit wäre die Unvereinbarkeit des Völkerrechts mit dem militärischen Interesse behauptet.

Der Militär: Nur dann, wenn des Völkerrecht Anforderungen stellt, die mit der Kriegführung un-vereinbar sind. Es ist ja gerade, um bei unserem Beispiel zu bleiben, Humanität, daß wir mit aller Härte den Krieg auf die Auseinandersetzung zwischen den Streitkräften beschränken wollen. Wir wollen nicht gegen das Land, des Volk Krieg führen, sondern nur gegen das Heer.

Der Völkerrechtler: So sagt ihr, wenn es die Beteiligung des Volkes am Kampfe zu bestreiten gilt.

4 Eisner, Gesammelte Schriften, I.

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Aber sonst lehnt ihr es ab, nur gegen das feindliche Heer Krieg zu führen. Euer Moltke hat es unzweideutig ausgesprochen, daß man auch die Regierung, das Land in Anspruch nehmen müsse. Und entsprechen dem nicht die Tatsachen? Wird nicht heute mehr denn je die friedliche Bevölkerung in den Strudel des Krieges gerissen: werden nicht ganze Dörfer, Städte, Provinzen zerstört; die schuldlosen Einwohner dem Hunger, der Obdachlosigkeit, der Flucht, selbst dem Tode ausgeliefert? Und sie soll sich nicht einmal wehren dürfen? Ihr wollt nicht die Teilnahme der Bevölkerung am Kampfe; der Krieg soll nur zwischen Armeen geführt werden. Aber gleichzeitig laßt ihr alle Wirkungen des Krieges mit gesteigerter Wucht auf die Wehrlosen fallen. So wird die Bevölkerung zum passiven Objekt der Kriegführung. Ihre bewaffnete Selbsthilfe wird verboten, weil nur die Armeen miteinander kämpfen sollen. Ihr erbarmungs-loses Leiden aber wird erfordert, weil der Kriegszweck über die Niederwerfung der Armee hinausgeht. Man begrenzt human die Kriegessphäre, wenn es den Schutz des eigenen Heeres gilt, man erweitert sie bis ins Unbegrenzte, wenn die Opfer des Landes rücksichtslos eingefordert werden. Eure humane Kriegsräson heißt: alles für das Heer, alles gegen die Bevölkerung.

Der Militär: Würde man der Bevölkerung auch noch die Teilnahme am Kampf verstatten, so wäre die einzige Folge, daß die Kriegführung eben noch strenger und Mutiger würde. Wir haben die Verantwortung für unsere Soldaten und für die Erreichung des Siegs. Diesem Zweck müssen wir alles andere unterordnen. Und ihr werdet uns zugestehen, daß unsere Kriegsgebräuche so human wie irgend möglich sind. Wir tun nicht mehr Schlimmes, als unbedingt notwendig ist. Wir verfahren ritterlich mit dem feindlichen Heere... Der Völkerrechtler: Aber sehr unritterlich mit der Bevölkerung, deren Heldenmut...

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Der Militär: Heldenmut ? Ich sehe nur Verbrechen. Und selbst wenn es nicht Verbrechen wäre, so ist es günstigstenfalls aussichtsloser heroischer Wahnsinn der ausgerottet werden muß, gerade damit wir unsere humane Kriegsräson durchführen können, die mehr Wert hat als eure papiernen Gesetze.

Der Völkerrechtler: Und über die Mittel der Kriegsräson entscheidet der, der Krieg führt. Das wollen wir gerade verhindern...

Der Militär: Und könnt es doch nicht...

Die Unterhaltung der beiden Gegner ließe sich bis ins Unendliche mit den schlagendsten Gründen weiterführen. Sie wird nie zu einem Ziel führen, weil der Widerspruch zwischen der militärischen und der völkerrechtlichen Grundanschauung in diesem Falle unlösbar ist.

So dürfen meine Anmerkungen eine weitere Einsicht gefordert haben, daß bis heute zwischen der völkerrechtlichen und der militärischen Anschauung unvereinbare Gegensätze bestehen. Es ist gegenwärtig nicht die Zeit, in diesem Konflikt Partei zu nehmen, so fest ich auch überzeugt bin, daß die praktische Entscheidung nach der einen oder der anderen Seite hin jetzt nicht nur von den ernstesten Wirkungen für die unmittelbar am Kriege beteiligten Völker ist, sondern darüber hinaus auch einen großen allgemeinen politischen Einfluß hat. Aber für eine Folgerung möchte ich vielleicht doch manchen gewonnen haben: Daß es einstweilen am besten ist, vom Völkerrecht nicht zu reden und sich nicht auf seine Artikel zu berufen -es geschieht doch immer nur um einer aufpeitschenden Entrüstung willen -, sondern es dem gesitteten Geist der Heeresleitungen und der Bürger im Waffenrock zu überlassen, den Krieg menschlich zu führen, - ohne Appell an das Völkerrecht! [Herbst 1914. Veröffentlicht: Der Neue Merkur Dezember 14, Januar 15.]

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